Von Jean Paul an Christian Otto. Jena, Weimar, Naumburg und Leipzig, 22. August 1798 bis 6. September 1798.
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88,27
um 4½ Uhr.
Eh’ ich mit Schiller und dem Balbier mich anastomasiere, wil ich
88,30
dir schreiben. Vor 2 oder 3 Jahren schrieb ich dir
auch, aber aus dem
Gasthof zur häslich dunklen „Sonne“; jezt aus dem zum lichten
89,1
½ „Mond“ (an Metaphern ist da nicht zu denken.) In dieser
Stunde
wirst du mit deiner und meiner Amöne in Hofek auf einen
lichten
abtheilenden Punkt des Lebens blicken, weil ihr Geburtstag
ist; und
der Ferne feiert ihn warlich stil und erinnernd und
vol Sehnsucht mit.89,5
Ich kehrte mich heute auf meinem
Wege von Naumburg oft nach dem
klaren Süd-Ost um zumal neben der in belaubten Schatten
ziehenden
Saale, die keine Welle hat, die nicht an mein
Herz anspühlt.
Auf dem Weg hab ich mir einen neuen hölzernen Wegweiser ge
schnizt, der nach Hof zeigt und
treibt; nämlich — caeteris paribus —
89,10
ich gehe rükwärts gerade von hier nach Hof und erspare 26 Meilen.
Es giebt
anno 1799 für mich keine leichtere Art nach H. zu kommen
als von hier aus. —
Lieber Otto, ich wolt’ ich dürfte empfindsam sein
wie
andere Leute; mein Inneres ist tiefer bewegt als die obersten
Wellen verrathen — aber da jede wieder gleich ein Strudel
wird, so89,15
hab ich gar nicht den Muth, nur eine über
das Ufer schlagen zu
lassen. Ach wenn du mich jezt so oft
das Schnupftuch hättest nehmen
sehen — blos bei meinen
Gedanken des Schreibens über die Sache —
wegen meiner
Reise-Gedanken, Reise-Ermattungen, Reisefreuden,
eben jezt
von singenden Alumnen umgeben, im Spiel der Abendlüfte,89,20
im Wiederschein Eueres heutigen Wiederscheins, vor lauter
elenden
Kupferstichen von 70 und 80, die aber meinem
Lebens-Mai zugehören
und ihn nachbilden — Nein, meine Seele ist zu weich, und
doch wird sie
von andern nichterrathen und nicht erweicht.
—
Ich schriebe am liebsten vor dem Vorhang, der bis auf die Diele
niederhängt; jezt seh ich doch unten halb hindurch; Herder hat schon
seit drei Tagen nach meiner Erscheinung inquiriert und sie
heute zum
Essen verlangt — aber eben das Gesagte, das Leben
dicht am Vorhange
eines Orts, ist am schönsten. — Heute
wolt ich dir kaum die gestrigen89,30
Seiten lassen und
schicken wegen des tollen Parenthyrsus meines Innern.
Ich
gieng gestern zu Schüze (Schiller sagte sich krank an) und mit
diesem in den Mitwochs-Konvent. Mit seiner Frau gieng
[ich] viel und
dum spazieren; sie gehört unter die gemeinsten Koketten,
denen man
den Bal nicht richtiger zurükwirft als durch
spielende Persiflage. Sie90,1
geleitete inzwischen in der
Abendluft noch den Verfasser des Hesperus
auf die schönste Höhe (um selber eine zu sein) und schön
ist ihr Gesicht
und am schönsten ihr Kleopatra’s Auge: daher
ich immer zu ihr sagte:
„ich glaubte ihr kein Wort, ausser wenn sie mich ansähe“
—90,5
Am gelehrten Mitwochs-souper assen Loder, Batsch, der
jüngere
Hufeland, Fichte, die andern weis ich nicht. Fichte ist
klein (ich dachte
mir ihn lang) bescheiden und bestimt, aber ohne genialische
Auszeich
nung. Er hat fast die
Physiognomie von Schreiner in Leipzig. Ich
90,10
werde überal liebend behandelt, besonders von
Schüze. Ach ich rede
bei den Leuten zu sehr in den Tag hinein und scheere mich
um zu wenig.
Meine freundlichen Tischreden in Dresden zur Schlegel sollen wie
Herder erzählt, die Gebrüder Schlegel zur Umarbeitung ja
sogar zum
Umdruk ihres Urtheils über mich genöthigt haben. —90,15
Die Herder sind noch liebender gegen mich als sonst. Er
hatte meine
Palingenesien in einigen Tagen gelesen, deren leichter
Wechsel ihn
für sie besticht. Ich solte bei ihm logieren. — Wir fuhren
gestern nach
Tieffurth zur Herzogin Mutter.
„Ich schreibe hier in Wielands weiten Mantel vor Kälte ein-
gewickelt, den mir seine Frau
mitgegeben, an meinen Fatis für dich
weiter“ — so wolt’ ich vor mehrerern
[!] Tagen schreiben; denn ich
reise schon zum 2ten mal mit
nichts anderem versehen aus als mit
gar — nichts; blos im
Sommerrok und mit Taschen vol Schuhen und90,25
Wäsche,
ohne Mantelsak und ohne alles.
Gegenwärtige Türkisch-Papier-Färberei hab’ ich mit Kaffée
zu
Stande gebracht.
Ich wil wieder zurükgehen, einiges von Jena nachholen und so
hieherkommen.90,30
Indes von Jena hab ich nichts mehr übrig als meine Dumheit, im
Mitwochs Souper vor Schüze und Hufeland zu sagen, daß
die
Litt[eratur]
Zeitung keinem Künstler etwas helfe, und darüber zu
streiten. Schlegel, gegen den Fichte und alle sprachen —
wie hier und
welches Gebrüder Wieland die Dioskuren nach der
Heinsischen Über-
90,35
sezung nent, nämlich die
Götterbuben, oft sagt er Zwillingsbuben,
weil sie ihn nur
einen ästhetischen Oekonomen nennen — ist philo
logischer Redakteur der L[itteratur] Zeitung und
darum trit aus diesem91,1
Wetterhäusgen kein anzeigendes
Wettermängen, das ansagte, was
ich gemacht oder neuerdings
Herder, dessen Briefe über die Humanität
und a[ndere]
S[achen] ziemlich liegen; daher
Wieland mich wegen
meines Lesezirkels oder Lese-Ellypse bat, ein Buch vol
Lobreden, be91,5
sonders auf jene, zu
schreiben. —
Ich wil jezt an der chronologischen Leine durch meine hiesige Historie
gehen: Gott gebe mir eine seelige — Erinnerung.
Donnerstags Nachmittags fuhren wir wie gesagt zur Herzogin —
tout comme alors — Abends Essen und Lachen und Merkel
bei
91,10
Herder. Seine Tochter gefält mir ich weis nicht warum,
wiewohl sie
sehr schön ist, nur aber blöde. Überhaupt seinen
Schwiegertöchtern
und Söhnen entgeht selten ein Laut.
Freitags Mittags Essen bei H[erder]. — (Wie das alles
so seelig
klänge, wenn ichs so intonierte und z. B. dazu notierte,
daß ich91,15
Dienstags von Leipzig über Lindenau (⅓
Stunde) reisete, wo ich von
dem zu weichen und zu sehr und zum erstenmale liebenden
Herzen der
Mdm. Hähnel und vom Rausche der Empfindung und fast des
Weins
in den blauen Himmel und in die grüne Welt hineintanzte
und nachher
in Weissenfels einen
vortreflichen H. v. Hardenberg hätte sehen
91,20
können und in Naumburg
eine Fräul. v. Kamingsky ohne viel Be-
deutung gesehen habe; aber was ist
dieses Treiben und Trommeten
gegen Eine sanfte Minute, wo
man zum Fenster im Novemb. hinaus
und
sein Holz unten abladen sieht und dabei denkt: das sol dir an
knarrenden lichten schneeweissen Winterabenden sehr zu
Passe91,25
kommen) ——:
Abends Essen bei der verehelichten jungen Berlepsch. Das
Ehepaar
hat einen Himmel um und in sich; sie ist weicher, fester,
schwärme
rischer, häuslicher,
liebender geworden durch und für den Man, den
ich troz seines aristokratischen bornierten leeren Sinnes,
wegen seiner
91,30
Herzlichkeit und Gutmüthigkeit und wegen seiner
ehelichen Liebe recht
liebe. Ach wie ein Mädgen alles wird und kan, wenn sie nur
einen zu
lieben hat, wofür sie etwas wird und thut. Es war ausser der
Frl. v. Oertel die Fr. v. Wolzogen, die Agnes v. Lilien mitgebeten. Ihr
Aeusseres ist in Dicke und Physiognomie der Abgus von
meiner Kalb,
91,35
die leider jezt auf ihrem Landgut ihre höchste
myopische Blindheit mit
Ergeben trägt und zu meiner Freude den hiesigen Winter
mitfeiert.
Die Wolzogen ist klar, unbefangen,
nicht-preziös, unschriftstellerisch,
92,1
kurz man liebt sie.
Sonabends solt ich Mittags wieder bei dem Paare essen, gieng aber
zu Wieland nach Osmanstädt. Aus
dem Gasthofe schrieb ich ihm ein
Billet, seines liegt bei. W. ist
ein schlanker aufgerichteter mit einer92,5
rothen Schärpe
und einem Kopftuch umbundner, sich und andere
mässigender
Nestor, viel von sich sprechend aber nicht stolz — ein
wenig aristippisch und nachsichtig gegen sich wie gegen
andere — vol
Vater- und Gattenliebe — aber von den Musen betäubt, daß
ihm ein-
mal seine Frau den Tod eines Kindes 10
Tage sol verborgen haben —
92,10
inzwischen nicht genialisch über diese
Reichsstadt-Welt erhoben, nicht
tief eingreifend wie etwan
Herder — vortreflich im Urtheil über die
bürgerlichen, und weniger im Urtheilen über die
menschlichen Ver
hältnisse.
Mir gab er Palmen, um mehrere Zol länger, als seine, besonders92,15
über meine Träume und Naturblätter — und mehrte meinen
äussern
Stolz (den innern nie), der ohnehin schon
wächst, um vieles — und
unterordnete sich zu sehr und war
zu begierig nach meinem Lobe seiner
Sachen — Warlich mein
Otto, wenn diese Erde so lumpig und so unter
allen meinen
Erwartungen ist, daß ich eine erfülle und etwas bin: so92,20
kan mich über den Verlust der angebornen gehoften
erschmachteten
Ideale nichts trösten als die Gewisheit,
daß diese Leute mehr sind als
das was sie loben, weil sie
für Natur halten — da es ihre ist — was
nur (wenigstens zur
Hälfte) Mechanik und Fleis geboren hat. Ach man
hat nur die
Wahl der Scham, entweder über die menschliche Natur92,25
oder über die eigne.
„Aber fort!“
Die 2 lezten Wort[e] kan ich hier gar
nicht zu mir sagen — ich wolte
heute — dan morgen — jezt
erst übermorgen.92,30
Ich wil wieder in die obige Chronologie zurük. Bei Wieland must’
ich wegen meines weitgegitterten Sommerornats in der
häslichen
Kälte seinen Rok anziehen — den mir beim 2ten Dortsein der gute
Patriarch
sogleich selber brachte, heute fuhr ich mit ihm zurük — und
seine rothe Nabelgurt umschnüren und gieng wie der Alte im Haus92,35
herum. Gott schenke jedem Dichter eine so anstellige,
weich-anfassende,
feste, nachsehende und nachlaufende,
biedere, klare Frau. Da im Reichs-
93,1
anzeiger über die Ruhr von Erkältung
gelesen wurde: brachte sie mir
warme Strümpfe aus Angst.
Wieland stürbe an ihrem, wie sie an
seinem Tode. Er hat mir
seine Liebesgeschichten erzählt und also auch
die lezte. Ach
was hätt ich nicht alles vor dein Ohr und Herz zu bringen?93,5
In seinen Cölibats- und Witwen-Töchtern liegen schöne
Herzen, aber
mit den Gesichtern wils nicht fort. Und doch — Aber anders:
nämlich
sie sagte ihm Mittags den Vorschlag (und er
behauptete ihn schon am
Morgen gedacht zu haben) daß ich im
entgegengesezten Hause wohnen
(von Leipzig wegziehen) und
bei ihnen essen solte (für Geld) — er sagte,
93,10
er bekomme neues Leben durch mich — und alle
liebten mich; — natür
lich weil ich sie
immer lachen mache und weil man die ganze Familie
lieben mus. Ich verhies, in Weimar nachzusinnen. Allein das geht
nicht, weil zwei Dichter nicht ewig zusammenpassen — weil
ich keine
Kette, und wäre sie aus Duft an der blassen
Mondsgluth geschmiedet,93,15
anhaben wil — und weil ich
gewis weis, daß ich in der Einsamkeit und
in der
Geselschaft darauf am Ende eine von seinen Töchtern heirathen
würde, welches gegen meinen Plan ist. —
Ich wolte nach Gotha reisen, es wurde mir von mir und andern
ausgeredet.93,20
Ich durfte Sonabends nicht fort, war schon auf den Sontag beredet,
als Merkel kam und mich im Wagen mitnahm. Bei Herder Sontags
abends sah ich Falk — lang, schlank, mit wenig gebogner
Nase, fest-
sprechend, mehr mit den Personalien
der Erde befangen, und angenehm
— und Professor Meier, den
tiefen Maler und Kunstkenner, aussen-
93,25
und als Mensch unbedeutend. —
Am Sontage der Abwesenheit solt’
ich bei der Herzogin und
bei der Wohlzogen essen. — Montags
Mittags diner bei Lichtenberg —
abends bei Herder — Dienstags
Mittags hoff ich hier. — Aber jezt lässet meine Memorie
nach; kurz
ich as nur 2mal im Gasthof und jeden Abend bei
Herder, 2 ausgenom-
93,30
men, den am Donnerstag bei der
Wohlzogen, wo es einen Puntsch
ohne Gleichen gab, weil Rum stat Arrak seine Seele war und
wo die
Herren bei jeder Bowle sich zu einer neuen
entschlossen. —
— — Ich komme eben wieder vom diner bei Herder und sas
mehrere Stunden mit ihm allein in einer Laube. O lieber
Otto, wie sol93,35
ich dir diesen grossen Geist auf der
rechten Anhöhe zeigen, vor dem
mein kleiner sich spanisch
und türkisch beugt — diesen durchgötterten
Menschen, der den Fus auf dieser Welt, und Kopf und Brust
in der94,1
andern hat — sein Wiegen der Arme, wenn ihn Gesang
und Musik
auflösen, und sein trunknes schwimmendes Auge —
sein Erfassen aller
Zweige des Baumes der Erkentnis —
wiewohl er nur Massen, nicht
Theile ergreift und stat des
Baumes den Boden schüttelt, worauf94,5
dieser steht. Ich
habe schon oft abends mit Thränen Abschied ge
nommen; und er liebt mich gewis. — Er schreibt nächstens
eine
Metakritik Kants, der sich, wie er sagt, vor Haman
tief gebogen haben
sol.
Apropos ich war auch bei Goethe, der mich mit ganz
stärkerer Ver-
94,10
bindlichkeit und Freundlichkeit
aufnahm als das erstemal: ich war dafür
freier, kühner und
weniger vol Liebe und darum in mich gegründeter.
Er fragte
mich nach der Art meiner Arbeiten, weil es völlig seinen
Kreis überschreite, — wie mir Fichte gefallen. Auf lezteres: „es ist
der gröste neue Scholastiker — zum Poeten wird man
geboren, aber
94,15
zum Philosophen kan man sich machen, wenn man
irgend eine Idee
zur transzendenten fixen macht — die
Neuern machen das Licht zum
Gegenstand, den es doch nur zeigen sol“ — Er wird nach 4
Monaten
den Faust volenden; er sagt, „er könne 6 Monate
seine Arbeit vor-
„aussagen, weil er sich zu einer
solchen Stimmung der Stimmung94,20
„durch geistliche und
leibliche Diätetik vorbereite.“ — Schiller säuft
6 Loth Kaffee auf 1 Tasse und braucht Malaga und alles —
nicht
jeder ist in Kaffee so mässig als ich.
Auch bei der schönen, malenden und malerischen und dichterischen
Imhof war ich, so bei Corona
Schroeter — Bei der Herzogin Mutter
94,25
as ich einmal Mittags, die unbefangen ist und
macht. Sie und
ihre Hofdamen lesen meine Sachen; ich machte
viel Spas über
Schlegel und sie hätte gern, daß ich
ernsthaft gegen ihn schriebe. —
Morgen ess ich bei dem zurükgekehrten Böttiger. Ich war bei
Wieland das zweitemal und liebte sein leichtes spielendes,
bescheidenes
94,30
und doch selbstrühmendes Wesen immer mehr und sagte
ihm die Ant
wort: ich würde nämlich im
Winter, oft in 14 Tagen 1mal zu ihm
kommen.
„Wie, was, wenn?“ sagst du. Ich ziehe nämlich hieher, im Oktober.
Daher besah ich Gotha gar nicht.
Ich müste des Teufels und des
94,35
Henkers sein, wenn ich in der plat getretenen
Leipziger Gegend und
unter sonst lieben Menschen, worunter ich aber bei keinem
eine An
spannung oder ein Verständnis
hatte wie jeden Tag bei Herder,
95,1
bleiben wolte, (und unter den abgegriffenen Krämern) da ich
hier
lauter ofne Häuser und fast Herzen vor mir habe —
die beste Musik —
den Adel — den Wechsel — ein Ansehen und
einen bestimten Rang ohne
Adreskalender — einen ewigen Sporn
— und den Park — und meine
95,5
Lust. Ach mehr! — Etwas thut dazu, daß mir mein sonst
treflicher Haus-
herr ausbot, weil seine histerische
Frau nach meiner Stube lechzete —
und weil mein Bruder mir alles erleichtert, den ich jezt,
wil er studieren,
nach Jena schicken kan. — Ach ich habe 100 Gründe! Auch
hätten
gewisse Blumenketten in Leipzig in meine Brusthaut
eingesägt, aus
95,10
denen ich jezt mit verleztem Herzen treten werde ..
Siehst du, diese Un
gewisheit des Orts
und Bleibens (daher ich Halberstadt besah)
quälte mich in der Leipziger bruderlosen Klause. Auch der
Ort ist
kleiner und am Herzen näher. In Halberstadt verhies ich, nach
Halberstadt zu gehen. — Corona
Schroeter und Einsiedel und
95,15
Böttiger besorgen mein Quartier.
Eia, wären wir da!
Aber dan liebes Geschik, treibe mich nicht wieder aus, binde mich an
meine Frau und an meinen Stuhl und führe mich in die Ruhe,
die ich
sonst so mied. — Sieh mein guter Otto, wie ich ohne
dein Mitwissen95,20
nicht leben kan, und mach’ es auch so
und lasse dein Leben nicht durch
sichtig vor mir vorüberstreichen und entsühne meine Kleinigkeiten
durch deine.
Die halbblinde Kalb ist leider nicht hier; aber der
Winter bringt
uns an einander. — Mit hoher heiterer Stille erduldet sie
ihre lange95,25
Nacht; aber oft auf einmal bricht nach
Herders Versicherung, aus
dieser bedekten Seele ein breiter glühender Strom.
Als einen Begrif der höhern Libertinage führ’ ich folgendes an:
der H. v. Wolzogen (der gegen die Pohlen diente, wovon ich
1000
Anekdoten hörte und vergas) sagte in Beisein der
Verfasserin der
95,30
Agnes v. Lilien: „die Hetären in Frankreich fodern
sogleich nach der
Befriedigung ihres Temperaments ihr Geld (sein Ausdruk) —
hin
gegen die Italienerinnen küssen
einen darauf noch sehr — und die
Engl[änderinnen]
passen phlegmatisch auf den Lohn.“ — Er gehörte in
Paris zum corps diplomatique. Auf
die Verfasserin der Agnes macht’
95,35
es keinen Effekt.
Auf der einen Seite bin ich euch allen jezt näher (ich brauche nur
Einen längsten Tag zur Reise); auf der andern ferner,
wegen des96,1
☞längern Laufs der Briefe, wiewohl deine nie einen
sonderlich-schnellen
nach Leipzig hatten und ich also durch Weimar nichts verliere als den
Datum. — Nach Hof komm ich so
diesen Herbst schwerlich — im
Frühling gewis — im Winter vielleicht. —96,5
Montags früh. Eben komm ich aus meinem schönen
gemietheten
Logis für 50 rtl. mit Meublen und Betten, auf
dem Markte.
Meinem Bruder werd’ ich, fals er am Parnas seinen Weinberg
anlegen wil, jährlich etwas Festes auf 3 Jahre aussezen und
keinen
Dreier darüber. Ist er schlecht: zieh ich die
Pension ein, die man z. B.96,10
Herder hier nicht französisch <pangsion> sondern lateinisch aus-
spricht, so wie Orch<g>ester,
Projekt.
Eben empfang ich von meinem pastor fido Thieriot deine
und andere
Briefe. O dieses Verpflanzen nach Hof mitten in der Fremde quilt wie
laue Frühlingsluft ins Herz! — Alle meine Standhaftigkeit,
und alle96,15
meine Liebe für den Schreibtisch gehört
dazu, daß ich Euch entbehre in
dieser Nähe.
Dein Kontra-Aviso ist treflich, wizig und recht; obwohl zu hart
gegen den unschuldigen Verfasser.
Oertel hat unter seinem Namen etwas gegen Schlegel in den
96,20
Merkur für mich eingesandt, das der alles duldende
Böttiger (der
Unter-Redakteur des Merkurs) nicht recht haben wolte, das
er aber auf
Wielands Befehl einrücken mus, dem es sehr
gefiel und der mirs vorlas.
Lieber Otto! Wie schreibst du mir so wenig, zumal von dir? Mit
welchem Rechte oder Lohne geb ich dir meine Personalien
wenns nicht96,25
die Hofnung auf die deinigen ist?
Schreibe mir bald das was dich so
ruhig macht, nämlich „die
neu entdekte unversiegliche Quelle“. Erräth es
denn
niemand, daß es für einen fernen sehnsüchtigen Freund eine Gabe
ist, wenn man ihm schreibt, wie oft man nieset, gähnt,
lacht und weint?
— Du hältst mich in Rüksicht der Ansichten
und der Menschenliebe für96,30
veränderter als ich bin;
ich bin der Alte in neuen Lagen; und bin den
Menschen so
gut wie sonst und ich habe nichts verloren als einige —
Hofnungen oder Träume.
Ich kam eben von Falk; wir können einander in die Fenster sehen
und wir werden denk ich einander lieben.96,35
Es ist eine Schwelgerei des Herzens, daß ich durchaus diesen Brief
als den ersten jezt schon an dich endige — wiewohl ich ihn
in meinen
Schuhen nach Leipzig
trage — Grüsse deinen Albrecht, deinen lieben
97,1
herzlichen Albrecht und deine Schwester und alle — und die
Kranke,
wenn sie nicht bleich ist — und dich. Wie komt es, daß ich
Euch alle
immer mehr liebe, je besser ich es habe und je
mehr ich andere Liebende
und Geliebte finde?97,5
Morgen bin ich in Leipzig. Ich mag dir gern von jeder
Stazion
schreiben. Es wil mir nicht beifallen, daß du es je auf
deinen Reisen
eben so gemacht. — Es ist als ob sich in dir
meine ganze Vergangen
heit und meine
ganze Verwandschaft konzentrierte; darum mus ich97,10
dir, oft im Aerger über deinen horror litterarum,
schreiben.
Beiliegende Note gegen Schlegel steht in einer umgearbeiteten
Satire: Beschreibung der öffentlichen und
Privatbibliotheken im
Pfardorf Volranz. Der Zusammenhang ist: ich klage über die
deutsche
Vernachlässigung der Makulatur — frische Morhofs guten
Rath
97,15
wieder auf, daß man jede vor dem Verbrauch der Orts
Obrigkeit solte
zeigen müssen — führe selber den Schwanz
an, der an einem papiernen
Drachen aus meinen eignen
Teufels Papieren gepappet war — und
komme auf Schlegel.
Ich hätte dir freilich noch 100 Anekdoten zu erzählen; aber das mus97,20
in deiner Stube geschehen.
Gieb allen meinen lieben Ladenschwestern der „Bundeslade“ Grüsse
und Dank. Ich danke dir für die zu gute Sorgfalt und Mühe
gegen
Hennings.
Adieu! und nun nim die Feder! Dein nächster Brief wird lang aus97,25
fallen; aber es wird nichts sein als
was ich erwarte.
Daß die Berlepsch nach Schotland geht: hat sie aller
Welt gesagt;
also ist mein Schweigen vorbei und deines auch; und nun
frage die
Leute, ob sie glauben, daß die Stollen unsers
Ehebettes von Weimar
97,30
bis nach den Hebriden reichen.
Ich kam doch erst heute an, weil die Hardenberg[sche]
Familie in
Weissenfels mich gestern bei den Mittags- und Abendsessen
behielt.
Der Alte war nicht da, er ist Salinendirektor;
aber das schadete seiner
97,35
Frau und den 2 Töchtern nichts, wovon die eine der Gräfin
Moltke
98,1
ähnlich sieht und die andere etwas unbeschreiblich
Poetisches im Leben
und im Auge hat, das wie Herman seines,
mit gesenktem Kopfe,
sinnend und verdekt aufblikt und welches meine Werke oft
nas
gemacht. Alle Salzherren, — z. B.
Salinendirektoren, Salzdirektoren98,5
(wie Reichard)
Salzfaktoren und Salzrevisoren — haben ihr Schönes.
Bringe der guten Brüningk ein Bouquet vol Wünsche und meinen
Dank für ihren Brief.
Ach ich trete gerade von jeder Reise beklommen in meine leere Stube,
aus der ich schon, wegen dieser isolierenden Empfindung
allein, aus98,10
ziehen müste nach
Weimar. Was mein guter Gotlieb schreibt, thut
mir sehr weh. Der Verlassene und der Verlorne, der mich so
wenig
kent und der nicht erräth, daß ich bei seiner Ankunft mehr
wär’ er
schüttert worden als er selber,
komt vor mich in jedem Traum — o
wenn er wüste, wie leicht
seine harte Zukunft umzuändern wäre.98,15
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Jena, Weimar, Naumburg und Leipzig, 22. August 1798 bis 6. September 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_125
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°, 16 S. 4° u. 4 S. 8°. Die einzelnen Blätter sind von Jean Paul mit A bis G bezeichnet, mit Ausnahme des letzten vom 6. Sept., dessen Zugehörigkeit aber durch K gesichert ist. K (nach Nr. 118): Otto 22 August. Jena und später Weimar 30 Aug. J 1: Otto 2,297×. J 2: Nord und Süd XLVI (1888), S. 360×. J 3: Nerrlich Nr. 43 u. 44 ×. B: IV. Abt., III.1, Nr. 75. A: IV. Abt., III.1, Nr. 83. 89,6 auf] aus von H 12 anno] nachtr. H 1799] aus 1798[?] H 14 Inneres] Innerstes darüber (o quid?? huc[?] scribendam) K obersten] äussersten K 20 umgeben] aus umzinge[lt] H 21 Eueres] aus eueres H, eueres K 24 von andern] nachtr. H 26 schreibe K 34 gemeinsten] aus gemeinen H 90,5 ausser wenn sie mich] aus wenn sie mich nicht H 12 bei den Leuten] nachtr. H 18 für sie] aus dafür H 20 Weimar] nachtr. H 21 schreibe] aus schrieb H 24 anderem versehen] nachtr. H 27 Türkisch-] nachtr. H 35 Heinsischen] aus Heinzischen H 91, 10 tout] vielleicht tous H 11 Töchter H 12 sehr] aus fast H 15 klänge] aus klingt H 16 über] aus nach H 17 sehr und zum erstenmale] nachtr. H 19 grüne] blaue K 23 Eine] aus eine H Novemb.] aus Ok[tober] H 24 denkt] aus sich sagt H an] in K 33 einen] aus etwas H etwas] davor gestr. es H 92,7 viel] davor gestr. eitel, ab H 9 von] aus über H 11 Reichsstadt-] Reichstags- K 16 meinen] aus den H 23 für Natur halten] aus das von Natur sind H 29 zu mir] nachtr. H 33 den] danach nachtr. er H (versehentl. nicht gestr.) der bis 34 brachte] nachtr. H 35 wie] davor gestr. lang H 93, 7 Aber] davor gestr. — da er — H 10 von Leipzig wegziehen] unterstr., aber wohl von fremder Hand H 15 an der blassen] und K 23 wenig] nachtr. H 25 tiefen] nachtr. H 30 nur 2 mal im Gasthof und] nachtr. H 32 seine Seele war] aus ihn bes[eelte] H 94, 5 schüttelt] aus erschütte[rt] H 10 stärkerer] aus anderer H 12 in mich] nachtr. H 18 4] aus 6 H 24 und dichterischen] nachtr. H 95, 7 histerische] davor gestr. kränkliche H 9 hätten] aus würden H 10 Brusthaut] Haut K 11 treten] aus weichen H 21f. durchsichtig] aus transparent H, durchsichtig (unerzählt) K 37f. nur Einen] aus den H 96, 3 ich ... verliere] aus du ... verlierst H 9 auf 3 Jahre] nachtr. H 22 Unter-] nachtr. H 32 einige] nachtr. H 97, 7 von] aus an H 12 umgearbeiteten] nachtr. H 22 Gieb] aus Gebe H (vgl. Bd. II, Nr. 55) „Bundeslade“] briefl. Bundeslade K 31 bis nach] zu K 98, 7 Bringe] aus Sage H 10 allein] nachtr. H
Otto erhielt den Brief am 9. Sept. 88, 31 Vor zwei Jahren: Bd. II, Nr. 335. 89, 32 ff. Schütz (vgl. Bd. II, Nr. 120†) war verheiratet mit Anna Henriette, geb. Danovius (gest. 1823). 90, 7 ff. Über dies Souper vgl. Persönl. Nr. 52. Justus Chr. Loder (1753—1832), Professor der Anatomie. August Johann Georg Karl Batsch (1761—1802), Professor der Naturgeschichte. Der jüngere Hufeland ist der Mediziner Christoph Wilhelm (1762—1817); nach 90, 32 scheint es sich aber doch um den Juristen Gottlieb H. (1760—1817) zu handeln, den Mitherausgeber der Jenaischen Allg. Literaturzeitung. 10 Schreiner: richtig Schreinert, s. Bd. I, Nr. 272†. 27f. Auf dem Briefpapier ist ein brauner Fleck. 35 Dioskuren: vgl. Böttiger, „Literarische Zustände“ (1838), 2. Bd., S. 180. 91, 11 f. Herders Tochter: Luise, s. Nr. 395†; Schwiegertöchter: verheiratet war damals nur der älteste Sohn, Gottfried, vgl. Nr. 310. 18 Mdm. Hähnel: s. Nr. 146 und IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 82. 20 Hardenberg: es ist wohl der Vater gemeint, vgl. 97, 35 . 21 Wahrscheinlich die Dichterin Karoline Friederike von Kamienska (1755—1813), eine Freundin der Berlepsch. 27 Luise Charlotte von Berlepsch, geb. 1771, war seit 9. April 1798 mit dem Leutnant August Ernst von Lichtenberg verheiratet. 34 Frl. von Oertel: s. Bd. II, zu Nr. 211. 92, 8 Aristipp war Wielands Lieblingsphilosoph, dem er einen vierbändigen Roman widmete (1800/01). 93, 1 f. Reichsanzeiger vom 31. Aug. 1798, Nr. 201. 3f. Wieland überlebte seine Frau um elf Jahre. 6 Witwen-Töchter: s. zu Nr. 135. 23 Falk: s. Bd. II, 288,10†. 25 Professor Meier: Heinrich Meyer (1760—1832), Goethes Kunstfreund. 94, 3 –6 Vgl. I. Abt., VII, 448, 31–34. 15–18 Vgl. I. Abt., IX, 498,29f.; VIII, 173,8. 19–23 Vgl. Goethe an Schiller, 6. Sept. 1798 (Persönl. Nr. 54). 95, 6 f. Hausherr: Rüger, s. 64, 4 . 10 Blumenketten in Leipzig: bezieht sich wohl nicht auf die Berlepsch, sondern auf Frau Hänel, vgl. Nr. 146†. 29 Wilhelm Friedrich Ernst von Wolzogen (1762—1809), Kammerherr, Schillers Schwager. 96, 6 f. Logis: s zu Nr. 136. 18 Kontra-Aviso: Ottos Berichtigung von Hennings’ Anzeige (s. 86, 8 –11†) im Intelligenzblatt der Jenaischen Allg. Literaturzeitung, 15. Sept. 1798, Nr. 133. 20–23 Friedrich von Oertel im Neuen Teutschen Merkur, Okt. 1798, S. 174; vgl. Karoline an Friedrich Schlegel, 14. Okt. 1798; Heinrich Meyer an Goethe, 28. Nov. 1798; Wieland an Böttiger, 1. Sept. 1798 (H: Dresden): „Ich habe den kleinen Aufsatz des Hrn. v. Ö. (der hiemit zurückkommt) mit vielem Vergnügen gelesen; ich finde ihn, bis auf die Schlußzeile, bescheiden und gelassen genug, wenn ich ihn als eine von den bewußten literarischen Hyperbolos zehnfach verdiente Rüge seiner an Richtern begangenen Blasfemien betrachte, und ich wünsche ihn im Merkur gedruckt zu sehen. Dieser soll darum kein Tummelplatz werden; und wenn Sie auch, m. l. Fr., des lieben Friedens wegen, ungern daran giengen, dem übermüthigen Menschen einen kleinen Verdruß im Merkur machen zu lassen, so nehmen Sie das Opfer, so Sie mir und Richtern — der, zwischen Wachen und Schlaf, 100 solche homunciones wie Schlegel niederwiegt — durch Ihre Nachgiebigkeit bringen, als eine kleine Züchtigung der Nemesis für das empfehlende éloge, das das 2te Stück des Athenäums im Moden-Journal, August, S. 469, erhalten hat, mit Geduld und Ergebung auf, und basta!“ 27 Einer „ neuentdeckten und unversieglichen Quelle seiner Beruhigung“ hatte Otto in B Erwähnung getan, ohne dieselbe näher anzugeben; s. zu Nr. 135. 30–33 Otto hatte mit Bezug auf Jean Pauls Bemerkungen 78, 33 –35 und 79, 25 f. sowie in der Vorrede des 1. Teils der Palingenesien die Besorgnis geäußert, Jean Pauls jetziger höherer Standpunkt habe ihm zwar eine klare Übersicht gegeben, aber dafür manchen alten trostreichen Glauben genommen. 34 Falk wohnte am Markt, gegenüber vom „Erbprinz“, in dem Jean Paul logierte (vgl. Bd. II, Nr. 335, 205,11). 97, 2 die Kranke: Luise Taucher (s. Bd. I, Nr. 444) war tödlich an der Ruhr erkrankt, blieb aber am Leben. 28–31 Vgl. Nr. 67†; Otto hatte am 9. August geschrieben, die Hofer Noblesse lasse es sich nicht ausreden, daß Jean Paul die Berlepsch heiraten werde, zumal da deren Verwandten in Weimar sich bei der Plotho (s. Bd. II, Nr. 622†) bedeutend nach ihm erkundigt hätten. 33ff. Heinrich Ulrich Erasmus Freiherr von Hardenberg (1738—1814), Novalis’ Vater, hatte aus seiner zweiten Ehe mit Auguste Bernardine, geb. von Bölzig, elf Kinder; hier sind wohl die beiden ältesten Töchter gemeint, Karoline, geb. 1771, die sich 1799 mit F. von Rechenberg verheiratete, und Sidonie (vgl. 104, 29 ), die Freundin der Luise Brachmann; beide starben früh. Jean Paul gedenkt der „Familie voll elterlicher und kindlicher Liebe“ in der letzten Epistel seiner Konjekturalbiographie (I. Abt., VII, 501,19). 98, 3 Hermann: Richters Jugendfreund.