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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 2. Juli 1799 bis 5. Juli 1799.

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[Anfang Kopie]

209,1
Weimar d. 2. Jul. 99.

Das von Staub- und Regenmänteln beschüzte Buch. Der Titan mit
seinem vielfärbigen Papier war ein Zeitgenosse der vielfärbigen,
rembrandisch gemalten, nachdunkelnden Tage. — Das Schiksal arbeitet 209,5
unsern Frühlingsgarten durch 3fache Versezungen um. — Protec
trice — moralische Plattitüde —

[Ich hoffe, ich habe in deinem Hause troz der Rezensionen noch alles
ganz.]

— Ich las deine Kritik des Titans mit solcher Gutmüthigkeit und 209,10
Liebe, daß ich erst nach der 10. Lesung recht — tol wurde, nicht über
die Urtheile sondern über den unwilligen Ton derselben, der sonst
deiner nie war. Jezt aber ist alles verdampft und bezwungen und
berichtigt, lieber Otto! Nur einiges zur Rechtfertigung. (Übrigens
merkt’ ich bei dem Schreiben und Lesen, daß der Titan wegen seiner209,15
grössern Helden den humoristischen Anstrich des Fixleins nicht ver-
trägt; auch wil ich einige von dir getadelte Szenen blos in den humo
ristischen Appendix werfen) Mit den Wiederholungen nimst du es
strenger als irgend ein Autor z. B. Swift verträgt, der z. B. die
Einkleidung „er wolle ein Buch über etwas schreiben“ immer in neuer209,20
wiederbringt. — Unbegreiflich ist mirs vollends wie du, wenn ich
hier sage „sein Geist hatte die Kälte, Helle und Schärfe des Diamants“;
und dan weiter unten: „der hohe Mensch wird an hohen, wie der Dia
mant an Diamanten glänzend“ und weiter: „er zerfiel auf einer breiten
Unterlage schwarz kalter Menschen, wie man Diamanten auf einer209,25
Unterlage von ausgebranten todten Schmiedekohlen verflüchtigt“ das
auch nur im fernsten Sinne Wiederholungen nennen kanst, da es neue
Vergleichungspunkte sind; umgekehrt ists eben schwerer, diese an ge
brauchten Objekten zu finden. Und dürfte man das nicht: so könte
kein Gott mehr ein Gleichnis machen, weil es kein ungebrauchtes209,30
Objekt mehr giebt. — Am meisten fiel mir deine Teleologie über das
Präsentieren und Sallatmachen auf, eine Erbärmlichkeit, die man ja
von dem ersten besten Bedienten erfahren könte ohne je eine Tafel
gesehen zu haben. Und kanst du denken, daß ich, der ich Gesundheit der
Kunst aufopferte, diese einer kahlen Eitelkeit preisgäbe? (Der Sallat210,1
ist wegen der Malerei des körperlichen Spiels und wegen des Froulay)
Ja ich bin oft eitel, aber frank und frei und spielend, weil ich immer
etwas in mir habe, was sich um keinen Beifal schiert. In meinem
10. Jahr erhob ich mich ohne Muster und Nachahmer schon über210,5
Stand und Kleider und war ein Republikaner im 18ten; und finde
noch jezt hier einen Muth und eine Denkungsart gegen Fürsten in mir,
die ich bei den grossen Männern hier eben nicht so finde. Überhaupt
steig ich ja in die Nester der höhern Stände nur der Weiber wegen
hinauf, die da wie bei den Raubvögeln grösser sind als die Mängen.210,10
— Du sagst zu meinem Geschmak, ich sol öfter aus Gefälligkeit als
Überzeugung nachgeben. — An den guten B[öttig]er dacht ich nie
und zum Glük widerspricht der Zug „Schäpe schlug die 4te und 5te
Bitte immer andern ab etc.“ ihm ganz. — Über kleinere Dinge rett’
ich mich mündlich. — Nunmehr ist aber alles vorbei und du brauchst210,15
keine Antwort auf Vorwürfe zu geben, die schon erstorben sind. —

d. 5. Jul.

Die Schroeder wil mir etwas zum Einschlagen schicken; sinds die
Bilder, so kommen einige 100 Briefe mit.

Das lezte Kapitel des Titans ist noch unvolendet. 210,20

Die Kalb — mit der ich wieder Frieden habe — sagte mir von der
Schroeder gehört zu haben, daß du dich mit Amoene verlobet; und
davon erfährt dein Freund, der dir alles schreibt, sogar seine Sünden,
nichts? — O lieber Otto!

Adieu! Ich habe noch 1000 Dinge zu schreiben gehabt! Aber der210,25
Schroeder wegen mus es heute schon fort. — Deine Schwester hat
lange geschwiegen. — Lies den treflichen Shakespear v. Schlegel und
den 2ten Theil der Bambocciaden.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 2. Juli 1799 bis 5. Juli 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_290


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 294. Seite(n): 209-210 (Brieftext) und 465 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 4 S. 4° (Anfang bis 209, 9 fehlt). K: Otto 5 Jul. J 1: Otto 3,123×. J 2: Nerrlich Nr. 63×. B: IV. Abt., III.1, Nr. 216 u. 220. A: IV. Abt., III.2, Nr. 229. Datum nach J 1, der erste Absatz nach K, der eingeklammerte Satz aus A ergänzt. 209,12 unwilligen] nachtr. H 15 merkt’] aus merk’ H 21 vollends] nachtr., vielleicht (von fremder Hand?) aus volends H 210,3 und spielend] nachtr. H weil ich ... habe] aus und habe ... H 4 keinen Beifal] aus diesen Beifal nichts H 5 und Nachahmer] nachtr. H 6 und2 bis 18ten] nachtr. H 7 in mir] nachtr. H 8 den] nachtr. H hier] nachtr. H so] nachtr. H 9 steig] davor gestr. such [aus sucht] ich H 11 zu meinem Geschmak] nachtr. H öfter] aus mehr H 12 Böttiger] das Papier ist defekt H 13 Schäpe] verb. (wohl von fremder Hand) in Schäppe H

Angekommen 10. Juli. In dem nur in K unvollständig erhaltenen Anfang (vgl. zu Nr. 288) warf Jean Paul, wie sich aus A ergibt, Otto neuerdings vor, er habe sich in seinem Urteil über den Titan, über ihn (Jean Paul) und über den alten Herold von andern (Amöne) beeinflussen lassen, sprach sich über Amöne mit hartem Tadel aus (vgl. 213, 14 –16) und ermahnte Otto, das Messer an die Wurzeln ihrer Laster zu legen. Auch scheint er lobende Äußerungen der (aus Hof nach Weimar zurückgekehrten) Corona Schröter über Otto und abfällige über die Herolds erwähnt zu haben. Das Manuskript des Titan hatte Otto am 20. Juni in einer wegen des schlechten Wetters besonders sorgfältigen Verpackung zurückgeschickt. 209, 11 f. Vgl. I. Abt., V, 368,3f. 21ff. Vgl. I. Abt., VIII, 11,23f., 36,26–29; die erste Stelle scheint Jean Paul geändert zu haben, s. 9,13f. 210, 9 f. Vgl. 207, 10 f., I. Abt., I, 80,22–24, II. Abt., V, 133,12. 12–15 Otto hatte in dem Kirchenrat Schäpe (I. Abt., VIII, 176,1–8) eine Anspielung auf Böttiger zu finden gemeint. 18 Corona Schröter wollte einige Zeichnungen nach Hof senden. 20 das letzte Kapitel: die 9. Jobelperiode. 21–24 Nach A waren Otto und Amöne noch nicht offiziell verlobt. 28 Der zweite Teil der von Bernhardi herausgegebenen „Bambocciaden“ (Berlin 1799) enthielt Tiecks Lustspiel „Die verkehrte Welt“.