Von Jean Paul an Josephine von Sydow. Weimar, 10. August 1799 bis 18. August 1799.
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225,11
Verehrte geliebte Freundin! Ich war in Gotha, Eisenach,
Hildburghausen und bin noch in Reiseplanen — darum schwieg
ich so lange, aber ich vergas nicht.
Um Ihnen zu antworten,225,15
brauch’ ich Sie nur zu
lesen; das von der Fülle der Sehnsucht
trunkne und
schmachtende Herz, das in Rousseau’s und seiner
Julie Briefen spricht, bewegt mich in Ihren. Ach
Josephine,
welchen Mai verheisset uns der Winter, welchen
Frühling sein
dunklerTag! Ich werde neben der schœnen Seele Zukunft und
Ver225,20
gangenheit vergessen
und die Ewigkeit im Auge der Liebe suchen
und dan
meines ergeben abwenden und nur in der zweiten Ewig
keit die Wiederholung der jezigen begehren. —
Vergeben Sie dem Zufal und der Arbeit die Unterbrechung.225,25
— Die nämliche Saite geht von Ihrem Herzen über
meines ge
spant; und Ihr Anklang
ist meiner, ich bin überal mit Ihnen einig,
z. B. über
die geistigere Liebe der Weiber. Eben weil die Frau am
meisten mit dem Herzen liebt, so lebt ihre Liebe so lange wie ihr
Herz; indes sie bei den meisten Männern mit und an den
Sinnen225,30
stirbt. —
Ihre Werke sind mir Briefe und gefallen mir eben so sehr,
wiewohl ich noch zu wenig Zeit zu dieser holden Lesung
hatte.
Da Ihr ganzes ofnes Herz in Ihren Briefen liegt, und sich
dadurch allen Schiksalen der Post blosgiebt: so bitt’ ich
Sie,
225,35
künftig Ihren Namen und Wohnort wegzulassen.
Dieses Blat geht mit dem Manuscripte des Titans nach
Berlin.
226,1
Ich kenne keinen grössern Schmerz als den mütterlichen
über
rohe Hände, die zerstörend und auslöschend über die
zarten
frisch-gemalten Bilder in jungen Kinder-Seelen
fahren. Haben Sie
die entschiedenste Standhaftigkeit!
Aber verhehlen Sie jede, und
226,5
so jedes Übertreffen vor mänlichen Augen; und zeigen Sie
mehr
den tragenden Schmerz als den kämpfenden Unmuth!
— Rechnen
Sie auch noch darauf, daß Kinder mehr die
lieben und achten, die
moralisch und also unveränderlich
handeln, als die, die ihnen
schmeicheln aber unmoralisch
und mithin launisch verfahren; sie
226,10
benüzen diese, aber sie befolgen und verehren jene. Die
Kinder
haben den zärtesten moralischen Sin; also sei
unbesorgt, gute
Mutter, und wo du die Lehre nicht geben darfst, da gieb das
Muster — das ist weit almächtiger. —
Drücken Sie die liebe Briefstellerin an Ihr Herz und sagen
Sie
226,15
ihr, wie ich in ihr liebe die Hofnung der geliebten
Mutter.
Sein Sie recht heiter sowohl für die geliebte Kleine —
Heiter
keit ist das Amulet für
Kinder — als für sich; — um heiter zu sein,
braucht man
oft nur den Grundsaz nicht zu haben, daß man das
Gegentheil sein wolle. — In der Zukunft und in der Vergangenheit
226,20
scheint uns jeder Schmerz zu gros, aber wenn er über uns
schwebt,
wird er gemildert und in Minuten
aufgelöset, blutroth geht er
wie der Mond auf und
unter, aber über uns, sieht er wie dieser nur
blas oder
weis. O mög’ er nie, der Schmerz, über deinem Haupte
stehen, geliebte Josephine! nie über diesem Herzen, das so warm
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und so rein und so beständig ist! Lebe seelig, Gute!
N. S. Ich bin vom Herzog v. Hildburghausen zum Lega-
tionsrath ernant worden.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Josephine von Sydow. Weimar, 10. August 1799 bis 18. August 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_308
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: DLA, Marbach; ehem. Kat. 534 Stargardt (Nov. 1957), Nr. 230. 4 S. 8°; unten auf der 1. Seite von fremder Hand: „An Clara Wieck [von anderer Hand mit Blei zugesetzt: (Schumann)] W. R. Griepenkerl. Jean Paul’s Handschrift.“ K (nach Nr. 309): Sydon d.[!] J: Denkw. 2,167×. A: IV. Abt., III.2, Nr. 252. 225, 18 spricht] vielleicht sprüht H 22 dan] nachtr. H meines] aus es H zweiten Ewigkeit] aus andern H 30 meisten] nachtr. H 35 bitt’] aus bitte H 226, 4 Kinder-] nachtr. H 5 jede] davor gestr. alles H 24 mög’] aus möge H 27f. die Nachschrift steht am obern Rand der 2. S. H
226,1 Vgl. 228, 3 . 2ff. Josephine hatte sich vermutlich über schädliche Eingriffe ihres Mannes in die Erziehung ihrer Tochter (vgl. Nr. 276†) beklagt. 22–24 Vgl. I. Abt., VIII, 304 , 1–4.