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Korrespondenz

Von Jean Paul an Amöne Herold. Leipzig, 22. Dezember 1797.

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Leipzig d. 22 Dec. 97 .
28,29

Mir ist, indem ich anfange, als wäre etwas anders als Wochen und28,30
Meilen zwischen uns und ich fühle mich fremd. Geschwiegen hab’ ich
bisher, liebe Amöne, weil ich Ihnen von mir wenig und von Ihnen
nichts, was ich Ihnen nicht schon zu oft gesagt, zu schreiben hatte. In
Belgershain las ich aus Zeitmangel erst einige Ihrer Briefe (lezte und
erste): Sie solten sie einmal schnel hinter einander lesen, um über Ihren28,35
wiederkehrenden Wechsel zwischen Froh- und Traurigsein auf immer
den Entschlus einer fortherschenden Stimmung zu fassen. Mir that29,1
jede Ihrer glüklichen Hofnungen darin wegen der Furcht der nächsten
Widerlegung weh.

Grandison war nicht zu Hause. — Ihre Briefe bleiben nie liegen:
nur die Boten. —29,5

Was ich Ihnen Ernstes d. h. sehr Langes zu sagen habe, gehöret
eben dem längern Wort- nicht Briefwechsel, wenn ich einmal wieder
in Hof bin.

Die gute Caroline wolte von Platners Tochter (Friederike) ein
Bild: ich geb’ es Ihnen hier zum Weitergeben. Täglich oder wöchent29,10
lich find’ ich sie reicher, wärmer und geistiger und ihren Vater holer,
ärmer und kleiner. Im 16 Jahre (sie ist 19) verlor sie ihre Mutter, die
sie wie mir Oertel erzählte und ich aus ihren Äusserungen höre, mit
tiefer Liebe und mit tiefen Wunden pflegte und begrub. Sie hat einen
edeln Geist, der nie weder an Koketterie noch Eitelkeit gränzen kan,29,15
eher an Selbstbewustsein. Sie philosophiert gern und gut und disputiert
scharfsinnig, weil ihr Vater sie immer mit Männern in Krieg ver-
wickelte. Sie ist eben so weich und theilnehmend — z. B. an dem
Krankenlager eines alten moosigen Famulus — als fest und thätig, da
sie das Haushalten beherscht. Ein junger Professor Herman — ich 29,20
sorge, der Schalksknecht hasset sie nicht tödtlich — verbot ihr vor
1 Jahre den 3ten Theil des Hesperus, weil er sie zu schwärmerisch
mache ... sie folgte sanft. Aber der Verfasser des Theils erlaubte und
ertheilte ihr ihn und zankte den Professor aus. Augen, Farbe, Lippe —
diese gar — und das Lockenhaar und die Stirne und die Nase ist schön:29,25
nur ist sie, zumal da sie kurz ist, zu fet. Ich gehe hier mit mehrerern
weiblichen schönen Augen, Farben, Nasen und Stirnen um; aber
Fried[erikens] ihre legen sich wie Frühlingsstralen an die Seele und
machen sie unmerklich warm. Ich gehe zuweilen blos zu ihr in ihr
Zimmer und so wieder fort: ich mag den alten guten Vater, der sich 29,30
in seiner Kammer mit den Kantianern herumbeisset, nicht gern in
seinen Bissen stören. —

Sie alle wissen mehr von Einem als der Eine von allen: kein
Mensch schreibt mir Neuigkeiten, da mich doch alle höfer Neuigkeiten,
aber nicht sie alle leipziger interessieren. Auch bin ich unter allen der 29,35
prompteste Briefschreiber mitten unter meinen Arbeiten: Christian ist
nicht sonderlich ordentlich, und seine Schwester gar nicht, an die ich
mich längst zu schreiben sehne aber nicht kan, weil ich keinen Brief30,1
zwei mal beantworte. —

Schreiben Sie mir viel von Ihrer innern Universalgeschichte. In
diesem Jahre ist dieses mein leztes Blat an Sie und ich lege also auf
dasselbe alle meine Wünsche für sanfte Ruhe Ihres Innern, für30,5
unbewölkte Stunden und für alle Freuden nieder, deren Wunsch ich
Ihnen schon so oft vorsagte! O es komme einmal in einem schöneren
Sin für Sie ein neues Jahr des Glüks!


N. S. Die Berlepsch ist da.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Amöne Herold. Leipzig, 22. Dezember 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_31


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 31. Seite(n): 28-30 (Brieftext) und 396-397 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Kunst- u. Altertümersammlung der Veste Coburg. 6 S. 8°. K: Amöne 22 Dec. J: Otto 4,254×. 28,34 erst] aus nur H 29, 10 f. oder wöchentlich] nachtr. H 13 höre] aus errathe H 15 nie] nachtr. H 19 und bis 20 beherscht] nachtr. H 21 nicht] aus schwerlich H vor 1 Jahre] nachtr. H 23 des Theils] nachtr. H 27 weiblichen] nachtr. H 28 Fried. ihre] aus diese H 29 zu ihr] nachtr. H 30 guten] nachtr. H 31 gern] nachtr. H 34 höfer Neuigkeiten] aus Höfer H 35 leipziger] aus Leipziger H 30,4 an Sie] nachtr. H

29,4 Grandison nicht zu Hause: Richardsons Roman war in der Beygangschen Leihbibliothek ausgeliehen.