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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Weimar, 27. Dezember 1799 bis 2. Januar 1800.

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271,20
Weimar d. 27. Dec. 99 .

Mein alter lieber Freund! Keine grössere, wenigstens keine schönere
Überraschung kontest du mir gewähren als die, daß du gerade durch
ein eignes Werk dich gegen mich widerlegst und mich gegen dich be-
stätigst. Du kenst deine ungerechte Selbstrezension von deiner dra271,25
matischen Unfähigkeit und meine Antikritik. Noch denselben Nach
mittag genos ich dein Werkgen bis auf den lezten Tropfen. Die272,1
Karakterist[ik] deiner Personen ist durchaus herlich, fest und fein,
besonders die weibliche; und besser als bei Voß — die Situazionen, die
Landschaft, das Komische (das besonders) und die Fabel lob’ ich. An
der leztern ist nur die zertrennende 2jährige Abwesenheit des Helden272,5
ein Eksteingen. Du hättest vielleicht die Szene mit der Erwartung seiner
Rükkehr öfnen können mit Einschiebung des Vergangnen; oder doch
ihn auf einem Paar Seiten durch die Welt führen und die Schilderung
der Weiber zum Beiwerk machen können. Ergreifend ist p. 50 ausser
dem ganzen Abend die hohe Nichtvolendung der Zeile, und die herliche272,10
einfache Zeile selber. Du siehst nun, was du vermagst. Was ich tadle,
betrift blos die Härten, Dunkelheiten und Neuerungen des Vers
baues, die aber in jedem Gesange milder werden. An individueller
Wahrheit sind die Schwest[ern] v[on] Lesbos weit übertroffen; freilich
die von der Geschichte bescheerte Fabel weniger. — Du solst rathen,272,15
ob ich alle 3 Exemplare noch habe. — Mir grauset nun vor meiner
alg[emeinen] Welthistorie in Millionen Bänden. Daher schreib ich
am liebsten an Jacobi, zu dem ich nicht von mir sondern von Ideen
rede. — Wahrscheinlich — um einer Freundin gleich weit entgegen-
zureisen — komm’ ich im Februar nach Berlin also nach Leipzig; hier 272,20
bring ich dir Briefe und Nachrichten mit. — Nur die nächsten: das
edelste weibliche Wesen, (das ich in Hildburghausen fand, Fräul.
Caroline v. Feuchtersleben), mit dem ich meine vorigen Spiel-
Kameradinnen der Liebe gar nicht vergleichen darf, wird im künftigen
Jahre die Meinige, wenn die verneinenden Verwandten bejahen. 272,25
Ein Brief-Fragment, das Herdern zu ihrem Freund machte, leg’ ich
bei.

d. 29. Dec.

Schweige über das Vorige. Ich habe so viel über die stolze hohe
Seele zu sagen, daß ichs jezt nicht kan, gerade jezt, wo sie, da sie ihrer272,30
Mutter das Geständnis ihres Verhältnis gemacht, nun mit mir von
kalten, obwohl gegen sie warmen, Verwandten den Raub oder die
Gabe der innern Zukunft erwartet. Lasse mich nicht reden jezt, warlich
du hörest alles. —

Mein Herder kan mich nun nicht 2 Abende entbehren; und ich ihn 272,35
nicht — nim ihn aus Weimar heute, so bin ich morgen nicht mehr
darin. Ich hass’ es. — Kotzebue komt zu mir, giebt mir seine Stücke 273,1
zur Kritik; er ist schwach, aber auch nichts bessers oder schlimmers.
— Der Titan wird der Herzogin v. Hildburghausen und ihren
3 Schwestern dediziert; sie gab mir die liebevolleste Erlaubnis dazu.
Ihr Kopf ist für mich so schön, daß ich immer darüber vergesse, daß273,5
ein Fürstenhut darauf sizt. —

d. 2. Jenn. 1800.

Ich möchte deine Hand jezt drücken und dan aufmachen und dan dir
lauter gute Auspizien aus ihr vorlesen. Sei recht glüklich mit deiner
Beglückenden! — 273,10

3 Jahre hintereinander hieng immer die Wage vom Himmel, die
für mich eine Ehe entschied oder zerris. — Sie hängt noch. —

Über Fichte’s Philosophie, die ich jezt aus ihren eignen Wurzeln
kenne, hab’ ich eine widerlegende Satire gemacht (clavis Fich-
tiana seu Leibgeberiana
), die hier so viel Beifal findet, daß man mich273,15
beredet, sie stat ins Akzessit-Bändgen des Titans, besonders drucken
zu lassen der Gemeinnüzigkeit halber. Jezt ist der Clavis bei Jacobi,
dessen philosophisches Votum mich bisher in allen meinen Aufsäzen
tröstete. — Lies doch Neeb „Vernunft gegen Vernunft“ den mir
Jacobi empfohlen; er ist wenigstens — herlich. 273,20

Ich wolte dich, da ich nun schon in 3 Parzen-Gestalten vorn an
Büchern stehe — vor dem Hesperus, der alg[emeinen] deutschen Biblio-
thek und vor einer Breslauer Samlung berühmter Gelehrter, wo die
Aeznadel mich eben so sehr tadelnd als die Feder lobend, entstelte — ich
wolte dich schon lange bitten der Welt zu sagen, daß sie betrogen wird.273,25
Thu’ es, wenn du grosse Lust dazu hast. Jezt malt mich ein herlicher
Mensch aus Rom, Büri — weil Herder und er nicht ablies —, der
hier Herder, die Herzogin, Göthe malt und dan nach Berlin abfliegt,
die Königin zu malen und dan nach Rom, um die Welt zu malen.
Herdern hat er genialisch verewigt und verkörpert.273,30

Alles was du über dein Brief-Schweigen sagst, wird von meinem
innigsten unpartheiischen Gefühl widerlegt. Hüte dich; deine
grosse moralische Kraft, die ich so ehre, ist und war dem Egoismus ver
wandter als du weist. Du hast reichlicher die (in unserer Zeit seltenern)
Tugenden und Opfer gegen dich als die gegen andere und du bist274,1
schwerer nachzuahmen als zu ergänzen. — Für dein Lob in Diet-
helm
dank’ ich dir innig, ob gleich darin der Dichter und der Freund
zngleich gemalt, wovon schon einer hinreicht, zu verschönern und glän
zend die Wolke zu färben und diese vorher zu machen.274,5

Zwar nicht übermässig viele, aber doch an 3,000,000,000,000 Dinge
hab’ ich dir beiläufig vorzutragen.

Lebe wohl! Und arbeite immer mit auch für die Welt! — Und mache
deiner sanften aus Herzen geschafnen Sophie soviel Freude als sie
giebt und geben wil. Fahre wohl!274,10


Richter

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Weimar, 27. Dezember 1799 bis 2. Januar 1800. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_373


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 378. Seite(n): 271-274 (Brieftext) und 486 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8°. K (nach Nr. 369): Oertel 27 Dec. bis 2 Jenn. J: Denkw. 1,382×. 271, 24 f. bestätitigst H 272,8 und bis 9 machen] nachtr. H 11 einfache] nachtr. H 12 Dunkelheiten] nachtr. H 32 Verwandten] davor gestr. Herzen H 273, 13 ihren] aus seinen H 24 entstelte] aus entstelt hat H 34 reichlicher] aus mehr H 274, 4 gemalt] aus gemacht H 5 vorher] nachtr. H

Oertel hatte sein episches Gedicht „Diethelm“, Leipzig 1800, eine Nachahmung von Vossens „Luise“, gesandt, worin (S. 71f.) Jean Pauls rühmend gedacht ist; vgl. 287, 31 ff. 272, 14 Schwestern von Lesbos: vgl. 247, 8 †. 273, 21 —26 Vgl. 231, 31 †; der Kupferstich vor dem 48. Bande der Neuen Allg. Deutschen Bibliothek (von Bollinger, 1799) geht ebenfalls auf Pfenninger zurück. Otto hatte schon im Brief an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 61 gemeint, Jean Paul müsse irgendwo anzeigen, daß Pfenningers Stich ihn entstelle. 26f. Über dieses Porträt von Friedrich Buri (oder Bury, 1763—1823) ist Näheres nicht bekannt. 33 Egoismus: vgl. 369, 13 ff.