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Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 21. Februar 1798 bis 27. Februar 1798.

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44,23
L[eipzig] d. 21 Febr. 98.

Eh’ ich, mein guter Christian, mein Schweigen vertheidige — d. h.44,25
erkläre — und deines verklage: wil ich — besonders da du vielleicht
mit der nächsten Post es brichst und aufklärest — hier ein historisches
Pot-pourri vorausstellen. — Ein Gedankenstrich ist ein Kapitel oder
Sektor. — Lichtenberg hat seinen Kommentar geliefert. — Beigang
hat immer 2 bis 3000 Bücher ausser Hause: der Geschäfte sind so viel,44,30
daß du ohne mein wiederholtes Auslesen aus deiner Auslese — die
ich dich zu palingenesieren bitte — wenig bekämest, nicht einmal deine45,1
Zettel: sieh ich habe dir viele gute Bücher aus den neuesten geschikt
z. B. Möser, die ich selber noch nicht gelesen. — In der alg. d. Biblio-
thek steht ein 9 Seiten langes Urthel über mich, sanft und lobend und
doch dum. Ich habe nun in ganz Deutschland meine Profeshäuser 45,5
und werde nun immer in grosso, nämlich mit operibus omn[ibus]
gekauft. Durch eine schöne feine Gräfin Münster, zu der ich wieder von
diesem Briefe weggehe, hab’ ich viel Gutes von Jakobi über mich
erfahren wie von der Gräfin Stolberg. Jakobi hält besonders wider
mein Vermuthen auf den 2ten Theil des Siebenkäses etwas. — Es ist 45,10
seit der Neujahrsmesse, daß ich eine geräucherte Wurst kochen lassen,
(die nur in der Messe zu haben ist), um abends wenn ich einmal zu
Hause soupierte, etwas zu haben: noch liegt von der Wurst das volle
Endgen und der Bindfaden auf dem Lager. Nun schliesse! — Neulich
bei einem Geburtstage, der für 50 Man ein Trink und Tanztag war,45,15
lernt’ ich Kütner (einen feinen gelehrten Man) und — — England
kennen: warlich ich hatte in Hof Recht, nichts ist darin schlecht als der
Minister. — Einen edlen Schotten, Macdonald (berühmt in der
Geschichte und im Ossian) sah ich an fremden Estischen und an seinem
und fand an ihm den Zwillingsgeist von Blair, dessen Predigten mich 45,20
sonst so hoben und dessen persönlicher Freund er ist: nein, es giebt keine
Brust in den 3 Königreichen, in der unter einem edleren mänlichern
Gesicht, ein weicheres, festeres, mehr poetisches und melancholisches,
frömmeres Herz schlüge. Ach so denkt sich ein Jüngling aus Büchern
den Britten und doch so ist dieser. Er lieset und spricht so viele Sprachen 45,25
als das befreiete Amerika Kantons hat, 13.

d. 24 Feb.

Von der Schukman hab’ ich endlich nach langem Warten einen
Brief erhalten und noch dazu einen unfrankierten. — Mit der nächsten
Bücherlieferung send ich dir eine Brieflieferung: welche Briefe du mir45,30
mit den nächsten Büchern wieder schikst. — Weickard wil ich dir auch
schicken, der meine Vermuthung über die Mislichkeit deines kalten
Waschens ratifiziert. Er ist viel genialischer und nüzlicher als Hufeland:
Herman wäre ein Weickard geworden. — Über die 2fachen Reize der
Park- und Museums Anlagen sag ich dir nichts, weil du alles sehen 45,35
must. — Einsiedel nahm in sein Buch meine Widerlegung seiner
dramatischen Prinzipien auf und hielt sie für eine Fortsezung der
selben: unglüklicher Weise flocht ich besagte widerlegenden Avoka46,1
torien in meinen Jubelsenior und die Welt weis nun nicht, wer eigent-
lich gestohlen. Er schrieb mir, er woll’ es bekant machen, daß er
gebraucht habe. —

Seiferten gieb, wenn du noch mit ihm rechnest, 6 leichte fl. 12 gr. 46,5
6 rtl. für seine späte gute Fadenlieferung. Ich sol ihn auf eine andere
Art bei Voelderndorf betten, welchem ich dabei ein Wort über den
sündlich-politisch usurpierten Wernlein sagen wil. — (Ich habe dirs
nachher beigelegt)

Ich komme jezt auf meine wichtigste Aera und Epoche in Leipzig, 46,10
die ausser Oertel niemand weis und erfährt wie du. Harpokrates lege
seinen d. i. deinen Finger darüber auf deinen Mund! Ich gebe dir hier
nur den Extrakt aus einem künftig mündlichen dicken Protokol.

Von der [Berlepsch] ist die Rede, deren Seele die reinste, am
wenigsten sinliche, idealischste, festeste weibliche ist, die ich je kante,46,15
die aber eine egoistische Kälte der Menschenliebe hat und überal nichts
fodert und liebt als — Volendung. Sie erfült alle Pflichten der Men
schenliebe, ohne diese. Ich behandelte sie in Eger mit einer mir un-
gewöhnlichen unsinlichen Zurükhaltung und nahm — selten ihre Hand
— nur den weichsten Antheil an ihrem harten Geschik. Sie schlug mir46,20
ein schönes reiches höchst moralisches Mädgen in Zürch 〈Heidegger,
Landvogts Tochter〉, ihre Freundin, zur Frau vor, für welche kein
Werber bisher rein und gut genug gewesen. Sie zeigte mir [ am Rande:
Sile!
] darauf Briefe von einem Professor St[apfer] in Bern, den sie
nicht so wohl liebte als heirathen wolte und vor dessen moralisch-edler46,25
aber hypochondrischer Seele sie wie ein erhöhter Engel stand. — In
einem einsamen Abend las ich ihr das erste Kapitel des Titans vor
[ am Rande: Sile! ] und sie umarmte mich im Enthusiasmus: der
meinige hatt’ es nie gethan. — In Hof [ am Rande: etc. ] darauf sagt
ich ihr, daß ich sie wohl oft in 8 Tagen in Leipzig wegen meiner dir 46,30
zu bekanten Unart nicht sehen würde. Sie nahm das Schnupftuch vor
die Augen vol Schmerz und mir war als säh ich ihre stechende schnei
dende Vergangenheit gewafnet wieder vor ihrem Herzen vorüber
ziehen. Ich sah aber auch das Übermaas ihrer Foderungen.

d. 27 Feb.
47,1

Ach diese Geschichte braucht Aktenfaszikel; auch lässet sie das Schiksal
so unvolendet als ich hier. Einige Hauptzüge darin sind noch: da Sie
von Weimar wiederkam, wolte sie ihr, der Heidegger und mein Ver-
mögen zusammenwerfen zu einem Landhaus und ich solte die mitlere47,5
heirathen und sie wolte bei uns ewig bleiben. Dan fühlte sie die Wider
sprüche dieses seltenen Verhältnisses, die ich ihr zeigte. Ihre Seele
hieng an meiner heisser als ich an ihrer. Sie bekam über einige meiner
Erklärungen Blutspeien, Ohnmachten, fürchterliche Zustände: ich
erlebte Szenen, die noch keine Feder gemalt. Einmal an einem47,10
Morgen 〈d. 13 Jenn.〉 unter dem Machen einer Satire von Leib-
geber gieng mein Inneres auseinander: ich kam abends und sagte ihr
die Ehe zu. Sie wil thun was ich wil, wil mir das Landgut kaufen wo
ich wil, am Neckar, am Rhein, in der Schweiz, im Voigtland. So
lieben und achten wird mich keine mehr wie diese — und doch ist mein47,15
Schiksal noch nicht entschieden von — mir. Ich schicke dir 2 Briefe
vor, und die andern nach dem Zusagen der Ehe. Ach wie oft und wie
zuerst dacht ich in jenen Tagen an dich, an dein Kommen zu mir und
wie ich ein Paar frohe Minuten wie Blumentöpfe um dich stellen
könte. — Aber noch ist die Sache (insofern sie von mir abhängt) nicht47,20
entschieden. Ich habe Oertel alles erzählt, er muste mein ganzes
Betragen billigen, das nie gegen ein Weib so moralisch war: glaube
also wenn ich von Nichtentscheidung rede, daß ich aus Gründen und
nach Faktis handle, die nicht in dieser 1 32 tel Erzählung vorkamen. —
In so fern Grösse und Reinheit der Seele und metallischer Reichthum47,25
beglücken können: so wär’ ichs dan; aber etc. etc. etc. — Fälle aber doch
aus diesem Schattenris eines Schattens ein Urtheil über ein Stük in
Lebensgrösse.

Ach Otto ich ermüde zu schreiben, da du so lange schweigst. Was hab
ich dir gethan? Welcher Nebel zieht wieder an dich? — Oder wilst du,47,30
der du wohl vielleicht einerlei Mangel an Zeit, aber doch nicht einerlei
Quaal mit Briefschmieren mit mir theilst, mir nur Brief für Brief
bezahlen? — Ich wolte blos meiner Geschichte (den 10ten Jenn. gab
ich E. jenes Versprechen) mehr Reife lassen und deinen Antworten
Zeit: sonst hätt’ ich längst geschrieben, wiewohl du mein Schuldner bist.47,35

Beiliegendes Blätgen von der Gad aus Breslau gehört an Herold:
gebe der Himmel daß ich an ihn kein falsches beigepakt.

Lebe wohl, mein Bruder! Ich sehne mich täglich bitterer nach dir.48,1
O du hättest keine Entschuldigung, wenn du in ungeänderten Lagen
anders würdest und ich in veränderten derselbe bliebe. — Bald kan
ich dir den 4bändigen Ancora-Hesperus schicken. — Es gehe dir wohl
unter deinen geliebten Theuern und besser als deinem Freunde auf48,5
seinem bewegten Meere!


Richter

Schicke mir die Briefe der B. sogleich zurük.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 21. Februar 1798 bis 27. Februar 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_61


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 62. Seite(n): 44-48 (Brieftext) und 402-403 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 4°. ( 46, 14 und 24 sind die Namen von Jean Paul selbst herausgeschnitten.) K: Christian 21 Feb. J 1: Otto 2,181×. J 2: Nerrlich Nr. 33×. A: IV. Abt., III.1, Nr. 33. 45,11 seit der Neujahrsmesse] aus drei Wochen H 13 liegt] aus ist H volle] nachtr. H 21 persönlicher] nachtr. H 31 den nächsten] aus der umgehenden H 34 2fachen] nachtr. H 46,1 flocht’ H 4 gebraucht habe] aus genüzt H 5 Seiferten] aus Seifert H 6 ihn] aus ihm H 8f. die Parenthese nachtr. H 13 dicken] aus dickern H 14f. am wenigsten sinliche] nachtr. H 19 unsinlichen] aus nicht sinlichen H selten] davor gestr. kaum H 31 zu] nachtr. H nahm] aus hielt H 47,16 2 Briefe] aus einen Brief H 23f. und nach Faktis] nachtr. H 26 aber doch] nachtr. H 33 10ten] aus 6ten H 48,4 4bändigen] nachtr. H

44,29 Von Lichtenbergs „Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“ war die vierte Lieferung erschienen; vgl. Bd. II, Nr. 49†. 45, 3 Justus Mösers Vermischte Schriften, 2 Bde, Berlin 1797—98. 3f. Neue Allg. Deutsche Bibliothek, Bd. 35 (1798), 1. St., S. 219 (Rez. von Siebenkäs, Fixlein u. a. m. von Knigge). 8–10 Vgl. Fr. H. Jacobis Brief an Dohm v. 13. Dez. 1797 (Zoeppritz Nr. 61). 16 Küttner: wohl nicht der Dichter, Übersetzer und Literarhistoriker Karl Aug. K. (1749—1800), sondern der Reiseschriftsteller Karl Gottlob K. (1755—1805), ein Freund Weißes, Mitarbeiter an der Bibliothek der schönen Wissenschaften, der lange in England gelebt und darüber geschrieben hatte. 18 Minister: William Pitt d. J. (1759—1806), der Hauptgegner der französischen Revolution. James Macdonald, ein mit der Berlepsch befreundeter schottischer Geistlicher, der sich mehrere Jahre zu Studienzwecken in Weimar aufhielt und namentlich mit Böttiger, Herder und Wieland verkehrte; er spricht sich in einem Brief an Böttiger v. 20. Febr. 1798 (H: Dresden) ziemlich abfällig über Jean Paul aus. 20 Hugh Blair (1718 bis 1800), Prediger in Edinburg; seine Predigten erschienen in deutscher Übersetzung (von Sack und Schleiermacher) 1781—1802 in 5 Bänden; vgl. I. Abt., X, 194,27†. 28f. Brief der Schuckmann: an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 27; „endlich nach langem Warten“ ist Ironie, vgl. 7, 27 f. 31 Melchior Adam Weickard (oder Weikard, 1742—1803), Arzt, Brownianer; Exzerpte aus seiner „Toilettenlektüre für Damen und Herren in Rücksicht auf die Gesundheit“ im 29. Exzerptenband (1798). 33 Hufeland: vgl. Bd. II, zu Nr. 537. 34 Hermann: Jean Pauls 1790 verst. Jugendfreund. 36ff. Einsiedel: vgl. Bd. II, zu Nr. 459. In der von Aug. Wilh. Schlegel herrührenden Rezension der „Grundlinien“ in der Allg. Literatur- zeitung v. 9. Febr. 1798, Nr. 46, wurde am Schluß im Namen des Verfassers der Sachverhalt aufgeklärt; vgl. Caroline, hgb. von Erich Schmidt, I, 445. 46, 5 –9 Seifert: vgl. Nr. 32† und 62. Wernlein war bei Vergebung einer Pfarrstelle übergangen worden. 21f. Johann Konrad Heidegger (1748—1808), Landvogt in Mendrisio (Tessin), später geadelt, Kammerherr, Geheimrat; s. Markus Lutz, Nekrolog denkwürdiger Schweizer, Aarau 1812, S. 216. 24 Philipp Albert Stapfer (1766—1840), Schweizer Staatsmann, damals Professor der Theologie, Philologie und Philosophie in Bern; vgl. 9, 35 und Otto 2,238. 47, 11 f. Satire von Leibgeber: „Habermanns ... Kursus durch Europa“ im 2. Band der Palingenesien (I. Abt., VII, 295—312); vgl. 126, 35 ff. 16f. Diese Briefe der Berlepsch sind nicht erhalten; sie wurden ihr wohl zurückgegeben, vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 90. 34 E. = Emilien. 36 Gad: Esther Bernard, s. Nr. 26†; sie hatte Herold wohl in Franzensbad kennengelernt, vgl. Bd. II, zu Nr. 670.