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Von Jean Paul an Christian Otto. Bayreuth, 23. Januar 1796 bis 24. Januar 1796.

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144,9
Bayreuth 1796 Sonabends [23. Jan.] .
144,10

Anteskript. Den Brief an Amöne schicke an meine Mutter.

Eben hab’ ich Schillers Musenalmanach, worin 102 irdische Ge-
dichte von Goethe und 30 himlische von Schiller sind und ungefähr
50 neue bunte Welten, um sie auf die nakte draussen zu decken, eben
hab’ ich, sag’ ich, diesen Almanach hinaus. Ich kan auch nicht genug144,15
belohnet werden für mein ewiges Lauern unterweges, daß die spiz
bübische Sonne — und der einfältige Mond macht es eben so — den
Wolkentabaksrauch um sich gar wegbliese: sie thats nicht. Um 7¼
gieng ich in Hof, um 6¾ kam ich hier an, müder wie ein Hund.

Ich habe mir vorgenommen, mich um keine Ordnung zu kümmern:144,20
ich vergesse sonst die Hälfte ... Ich muste jezt, weil nichts da ist, meine
Feder an der Nachtmüze abstreifen, um sie zu bessern. — Auf Mittag
geh ich und Schäfer zum Essen nach Leinek, wo ein concert spirituel
anzutreffen sein sol. — Emanuel bittet mich, der Advokat für ihn zu
sein bei dir, damit du es wieder bei deinem Bruder würdest, um diesen 144,25
zu überreden, daß er seiner würde. Er wil seinen jezigen zum Henker
schicken, welches nicht weit sein kan. — Draussen funkelt und flamt
alles um mich, — in mir auch — aber ich weis nicht, sol ich schreiben
oder laufen. Auch hab ich einen andern elenden Kampf, wie ich meine
Neuigkeiten eintheile, ob ich sie schon hier einschlage oder selber mit144,30
bringe. Am besten und bescheidensten ists, ich bringe besonders die,
die meine Wenigkeit angehen, zu Papier. Ich könte hier, wenn ich Zeit
hätte, herumgezeigt und herumgeführt werden wie ein Haifisch oder
sonstiges Unthier: sie haben mich alle gelesen und wollen also den
Kupferstich.... (eben hab’ ich mich 6 Minuten mit einem kurzen144,35
Dentisten herumbeissen müssen, der mir wie einem Pferd aus Gebis
grif und der 2 fl. wil; ich wil lieber alles behalten) ... den Kupfer145,1
stich des Verfassers auch haben. Hier ists anders als in Hof, wo man
jedem das Buch schenken mus, damit ers lieset, — und da mus man
noch monieren und überlaufen —. In meinen Exzerpten steht der
Name eines Gelehrten, der diebisch in den Pariser Buchläden herum- 145,5
schlich, nicht um in die Tasche zu spielen, sondern um seine Werke heft
weise daraus zu ziehen und sie so, wenn es niemand sah, unter andere
Novitäten gratis einzuschwärzen: er wolte mit seinen Sachen unter die
Leute. „Die Horen wurden hier, sagte mir Lübek, anfangs so sehr ge-
„kauft, weil sich die Damen dafür interessierten; nachher hörte mit145,10
„diesem jenes auf.“ Welches Lob nicht für die Männer, die tanzen,
sondern für die Weiber, die pfeifen! In der hiesigen Journalgesel-
schaft sind mehr Leserinnen als Leser. — Die alte Petermannin, die
nicht viel mehr zu leben hat — an Jahren so wol als an Nahrung —
lässet sich vor ihren Krankenvorhängen meinen Hesperus vorlesen und 145,15
wil mich vor dem Ende noch sehen: es thut mir sanft, daß ich noch in
den tiefen Schatten des Lebens, der schon um sie liegen mus, noch einen
bunten langen Strahl ziehen kan, von dem sie denken kan, er komme
vom Morgen ihres Lebens durch eine Fensterladenrize. Ein Traum ist
ein grösseres Geschenk, zumal so nahe am Schlaf, als einige Hufen145,20
Wirklichkeit. — Den gestrigen Abend versas Schäfer, Emanuel und
ein Hofmeister aus Braunschweig h’oben bei mir. H’oben, h’unten,
h’aussen solte uns Adelung verstatten. — Die zwei Namen mus Schäfer
noch wissen, sowol von der Gräfin als von der Dame, an die sie schrieb:
„der Hesperus etc.“: die leztere lies überal nachschlagen, wuste nicht was 145,25
es wäre, dachte endlich, es sei eine neue Waare und gieng den Emanuel
darum an: und der gab ihr auch die neue Waare. — Dieser sagt mir,
er habe blos das Herz nicht, an dich zu schreiben, weil ihn dein Brief
über alle Beschreibung entzükt und erfrischet habe: er kan ihn nicht sat
bekommen. Ich mus dir sagen, ich war über deine Grille, da ich dir145,30
doch alles, alles zeige, recht innerlich und ernsthaft böse, da du nicht die
Ausrede, wie bei R[eichs] Akten hast, und da du mit eben soviel Recht
sagen köntest, „du trügest Bedenken, mich in die Briefe gucken zu
„lassen, die du an den S. T. H. Jean Paul gestelt.“ — Amöne lässet
mich hier auch nicht in ihre an Emanuel sehen, aber das war nur145,35
Eitelkeit oder Nachahmung und ich war zu tol, da sie zu ihrer Erlaubnis
nur eine stärkere Bitte begehrte, diese zu thun. Emanuel findet ihre
Briefe prächtig und herlich, wiewol kochend; und Schäfer sagte mir, 146,1
er habe noch keine solchen von einer Frau gelesen. Ich bin zwar in
Zweifel, ob ich ihrs sage; aber das weis ich desto gewisser, daß ich in
einer Minute, wo ich ihr eine schöne zuwenden wil, damit hervor
plaze.146,5

Wenn ich dir in dieser Briefsamlung nicht mehr das Gegentheil
schreibe: so komm’ ich Mitwochs Nachmittag gewis in Münchberg
an. — Ach eine Bitte, die ich schon lange beherberge: gieb mir alle
meine Briefe an dich von 90 bis 96, und diesen mit, zum Lesen nur auf
8 Tage: ich habe nie einen an dich kopiert. Welcher Wiederschein146,10
längst tief untergegangner Minuten wird dabei an meiner Seele
vorüberlaufen! Auch hast du, per (fas et) nefas, einen Pak Briefe an
mich von dir, welche ich mir bei dieser Gelegenheit nicht von deinem
Willen, sondern von deinem Gewissen wolte ausgebeten haben. Ich
lieh sie dir, aber mit deinem Geschenk wolt’ ich nicht dir eines machen. —146,15

Ich bin nicht spazieren gegangen, sondern habe in einem fort ein
getunkt und fahre fort bis Schäfer hereinbricht. Trinken thu’ ich jezt
früh nüchtern in der That wenig, ich müste denn ganz besondere Auf
foderungen und Tage haben, dergleichen mir wirklich seit meinem
Hiersein nicht mehr vorgekommen als ein Paar. Der Kellererer [!] 146,20
nent mich Doktor: so sollen in Erfurth die Weinschenker heissen; er
meint aber nichts damit. —


Die Staatsinquisi[zi]on hier liegt wie Bleiplatten auf Kopf und
Brust und es laufen eigentliche mouchards herum. Alles seufzt, keiner
spricht. Gleichwol ist ein Auskultant Geier aus Erlang hier, der 146,25
öffentlich in Retouden Freiheit und Gleichheit predigt, der gleich
seinen 2 Klientinnen schon 7 mal hinausgeworfen wurde, und der das
8te mal wieder auftrit. Er stelt den Soldaten Dinge vor, die sie nicht
anhören dürfen solang sie nicht Sansculotten im bildlichen Sinne
sind. Völderndorf lies ihn ... 146,30

Das andere wil ich dir erzählen. Ich komme eben vom concert —
corporel
zurük: der Ton ist ein wenig höher als in Hof, aber die Saiten
sind immer aus Därmern [!] von Schafen. Meine Hand ist eingefroren.
Was mich am meisten freuete, ist — was gerade die Thüre zumachte
und mein Bette zurecht — ein grosäugiges, weichlippiges, hart146,35
backiges Ding. Sie macht schöne Betten. Ich gab ihr erstlich einen
Neuner.


Sontags.
147,1

Ich wil nur bleiben den Mitwoch: also komm’ ich gewis Don
nerstags Nachmittag
in Münchberg an. Ich kan mich dasmal vom
Schreibtisch kaum wegreissen. Eben hab ich einen Brief von Amöne
erhalten, der für mich eine volblühende Staude ist, an die ich, indes147,5
ein warmer Südwind darin blättert, den Kopf anlehne. Sie gab mir
zugleich die Erlaubnis, ihre an Emanuel zu lesen. Meine Antwort an
sie hab ich an meine Mutter eingeschlagen. Nim nur meine lustigen
Hommelschen Plappereien nicht übel: ich habe hier nicht eine Viertel-
stunde Zeit, sonderlich vernünftig zu sein. Gestern sties ich auf den Aus147,10
kultant Feez; der Man sieht nicht mehr kränklich aus, sondern wie aus
gefrorner Milch bossiert, die an sich selber, zerlaufen, niedertröpfelt.
Das Auskultieren nimt ihn mit, er wird wenig mitnehmen. — Jezt
wil ich an die Amöne schreiben, um nur einmal von dir wegzukommen.
Meinen Grus an deine gute gute Schwester und an meinen geliebten 147,15
Albrecht. In euere Stube sol immer fort die Sonne scheinen und Gras-
mücken sollen aussen schlagen und der Luftzug sol vorher über blühende
Obstgärten gehen und es sol euch allen recht wol gehen. Ich weis, ich
sehe nach einem Vierteljahr Abwesenheit von euerem Bunde aus wie
der Auskultant, vor lauter unaussprechlicher Sehnsucht — Und so leb147,20
wol, Guter!


Richter

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Bayreuth, 23. Januar 1796 bis 24. Januar 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_223


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958. Briefnr.: 224. Seite(n): 144-147 (Brieftext) und 438-439 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 16 S. 8°. K (nachtr. im März 1796 nach Nr. 190): 1796 Bayr. J 1: Otto 1,310× (14. Mai 1796, vgl. Nr. 314). J 2: Wahrheit 5,24×. J 3: Nerrlich Nr. 16. Das Anteskript steht am Rande der 1. Seite. 144,12 irdische] nachtr. H 18 rauch] aus rausch HK 22 an] aus in H 31 besonders] nachtr. H 145,14 an Jahren] aus im Jahr H 18 Stral K 19 ihres] aus des H 21 Den gestrigen Abend] aus Gestern abends H 34 lässet] aus lies H 146,30 Völderndorf] davor gestr. Hardenb[erg] H 35 meine H 147,2 den] aus bis H 5 indes] aus wenn H 11f. wie aus gefrorner Milch bossiert] mit Blei gestr. K

144,12 f. Schillers Musenalmanach auf 1796 brachte von Goethe die Venetianischen Epigramme, von Schiller u. a. die Ideale. 23 In Laineck, 4½ km von Bayreuth, hatte Ellrodt ein Gut, s. Otto 2,79. 25 Bruder: Albrecht; vgl. zu Nr. 154. 145, 4–9 Der Gelehrte hieß Chaterinot, vgl. I. Abt., V, 422,9–13. 13 Petermannin: wohl die Witwe des 1794 verst. Regierungsrats und Konsistorialpräsidenten Petermann in Bayreuth. 22f. h’oben: vgl. 334, 21f., Bd. I, 294,14, I. Abt., XI, 284, Fußnote. 27–34 Otto hatte Anfang Dez. 1795 an Emanuel einen sehr langen, von allgemeinen religiösen und moralischen Gegenständen handelnden Brief gerichtet (H: Apelt), der mit der Bitte schloß, seine Briefe nie jemand anderem mitzuteilen; vgl. Nr. 230 und 240f. 146, 2–5 Vgl. 149, 11f. 10 Daß Richter nie einen Brief an Otto kopiert habe, stimmt nicht, vgl. z. B. Bd. I, Nr. 306, 310, 323, 329; die meisten wurden aber erst im März 1796 nachgetragen. 17–20 Selbstironie; Richter war erst drei Tage in Bayreuth. 23 Staatsinquisition: Hardenberg hatte am 31. Januar 1793 eine Verordnung gegen die Verbreitung staatsgefährlicher Grundsätze erlassen. 30 Völderndorf: s. Nr. 488†. 147, 9 Der Jurist K. F. Hommel gab 1773 anonym „Kleine Plappereien“ heraus. 11 Feez: s. Bd. I, Nr. 381†.