Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 12. Juni 1796.
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Sontags um 7 Uhr Morgens.
Gott sah gestern doch einen überglüklichen Sterblichen auf der206,15
Erde und der war ich — ach ich war es so sehr, daß ich wieder
an die
Nemesis denken muste, und daß mich Herder mit dem deus averruncus
tröstete. — Ich kan mit meinem Schreiben nicht so lange
warten, bis
[ich] dir einen Brief schicke: ich wil nur
etwas sagen. Gestern gieng ich
um elf Uhr — weil ihr
Einladungsbillet mich zweimal verfehlte — zur
206,20
Ostheim (es ist die Schwester der Bayreutherin und ich
glaube, fast
meine auch) Ich hatte mir im Billet eine einsame Minute zur
ersten ausbedungen, ein coeur-à-coeur 〈tête-à-tête〉. Sie hat zwei
grosse Dinge, grosse Augen wie ich noch keine sah, und eine
grosse
Seele. Sie spricht gerade so
wie Herder in den Briefen der Humanität
206,25
schreibt. Sie ist stark, vol, auch das Gesicht — ich
wil dir sie schon
schildern. ¾ der Zeit brachte sie mit Lachen
hin — dessen Hälfte aber
nur Nervenschwäche ist — und ¼ mit Ernst, wobei sie die
grossen
fast ganz zugesunknen Augenlieder himlisch in die
Höhe hebt, wie wenn
Wolken den Mond wechselsweise verhüllen
und entblössen. (Ich206,30
scheere mich um keine Richtigkeit
des Ausdruks aus Mangel der Zeit,
ich wil dir blos viel schreiben) „Sie sind ein sonderbarer Mensch“ das
sagte sie mir dreissigmal. Ach hier sind Weiber! Auch habe ich
sie alle
zum Freunde, der ganze Hof bis zum Herzog lieset
mich. — Ich as aus
Ursachen nicht bei ihr; sie schrieb meine Ankunft dem Knebel
(Kammer-
206,35
herrn bei der Herzogin) Um 3 Uhr
kam ich wieder, und der auch. Er
207,1
ist ein Hofman im Aeussern, aber soviel Wärme und Kentnisse,
so
einfach. Alle meine mänlichen Bekantschaften hier — ich
wolte, diese
nicht allein — fiengen sich mit den wärmsten
Umarmungen an. Du
findest hier nichts vom jämmerlichen
Gezierten in Hof, von der
207,5
jämmerlichen Sorge für die Mode — ich wolt, ich hätte
den grünen
Talar behalten, oder blos den blauen Stuzrok noch
einmal wenden
lassen. Er wolte mich zu Herder, und heute
mittags zum Essen zu
Göthe führen; aber ich blieb bei dem Vorsaz des coeur-à-coeur (wenn
ich nämlich jemand zum erstenmal sehe). — (Heute Mittags ess’
ich207,10
allein bei der Ostheim.) Gegen 5 Uhr giengen wir
3 in Knebels
Garten: unterwegs fuhr uns Einsiedel entgegen, der mich
geradezu bei
dem Kopf nahm und der nur 3 Worte sagen konte, weil er die
Herzogin
in die Komödie begleiten muste, nachher aber sogleich wieder
kam.
Nach einigen Minuten sagte Knebel: „wie sich das alles
himlisch fügt,207,15
dort kömt Herder und seine Frau mit den
2 Kindern“ — Und wir
giengen ihm entgegen und unter dem freien Himmel lag ich
endlich an
seinem Mund und an seiner Brust und ich konte vor
erstickender Freude
kaum sprechen, und nur weinen und Herder
konte mich nicht sat um
armen. Und als ich
mich umsah, waren die Augen Knebels auch207,20
nas ..... Mit
Herder bin [ich] jezt so bekant wie mit
dir. Er wolte
schon längst an mich schreiben; und als er und
seine Frau, die mich
herzlich liebt — sie ist eine nur anders modifizierte
Ostheim —
durch Hof reiseten, wolten sie mich besuchen. Ich wolt’ ich
könte so
unverschämt sein, daß ich dir alles sagen könte. Er lobte
fast alles an207,25
meinen Werken — sogar die grönländischen
Prozesse — Er sieht nicht
so edel aus als ich mir ihn dachte; spricht aber so wie er in
den
Humanitätsbriefen schreibt. Er sagte, so oft er den
Hesperus gelesen,
so wär’ er 2 Tage zu Geschäften untauglich gewesen. An der
Ab-
handlung über die Phantasie gefält ihm
alles. Er drükte mir immer207,30
fort die
Hand. Und ich sagte immer, da wir alle neben einander sassen,
„wenn nur mein Otto da wäre und es hörte.“ (Knebel und Herder
wollen mir die berühmtesten Bücher zum Lesen, z. B. den Moniteur
mit merkantilischer Gelegenheit schicken) Herder liebt die
Satire
unendlich und hat sie, zumal die Ironie, mehr im
Munde als den208,1
Ernst. Er fragte mich bei den meisten Stellen
meiner Bücher, um die
Veranlassung dazu: er gab mir ein
erdrückendes Lob, das Sprechen von
deinem Paul mag etwan, obwol in Intervallen, 5 Stunden den ganzen
Abend gedauert haben. „Ich bekäme Sündenbezahlung, sagten
alle,208,5
da der Meister und die Horen, zu 4, 5 Ldor den Bogen, abgehen.“
„Ich würde jezt in Deutschland am meisten gelesen; in Leipzig
hätten
alle Buchhändler Kommissionen auf mich.“ Wieland hat mich
drei-
mal gelesen, sie bedauerten alle, daß er
aus dem Zirkel fehlte. Herder
erzählte, daß der alte Gleim den ganzen Tag und die ganze
Nacht
208,10
fortgelesen. Er wil mich heute Briefe von Haman an
sich lesen lassen. —
Er spricht von Kants System im höchsten Grade — verächtlich.
—
Von seinen eignen Werken sprach Herder mit einer solchen
Gering
schäzung, die einem das Herz
durchschnit, daß man kaum das Herz
hatte, sie zu loben: er wil
nicht einmal die „Ideen“ fortsezen. „Das
208,15
Beste ist, was ich ausstreiche“ sagt er, weil er
nämlich nicht frei
schreiben darf, denn er denkt von der
christlichen Religion was ich und
du. — Abends assen wir alle bei der
Ostheim und tranken 2erlei
Wein und Nigges (ein milderer
Bischof) Sie sind alle die eifrigsten
Republikaner. Denke dir den unter Wein, Ernst, Spot, Wiz
und208,20
Laune verschwelgten Abend und die
Vormitternacht; ich machte so
viel Satiren auf die Fürsten wie
bei Herold, kurz ich war so lustig wie
bei euch. Heute isset die ganze XXger Union bei Herder. Die Fran-
zosen schicken einen Theil der
italienischen Armee an den Rhein und
bedecken so mit vier freundschaftlichen Flügeln von Armeen
die208,25
österr[eichische] Straussenbrut. —
Beim Himmel! jezt hab’ ich
Muth — ich getraue mir, mit dem 44ten Hern zu sprechen und noch
mehr mit dem
Bürgermeister Oertel, Köhler und deren Sipschaft. —
Ich habe dir noch nicht ⅓ erzählt. — Aber ein bitterster Tropfen
schwimt in meinem Heidelberger Freudenbecher: was Jean Paul
208,30
gewan, das verliert die
Menschheit in seinen Augen: ach meine
Ideale von
grösseren Menschen! — Ich wil dirs schon erklären. —
Aber alle
meine Bekantschaften thun beinahe nichts als den Werth
meines
geliebten Bruders O. vergrössern, und bleib’ ich ewig der
deine208,35
Man glaubt hier am Hofe, ich sei an einem gewesen und Knebel
209,1
schlos es aus den Partikularitäten und ich kont’ ihm
selber nicht recht
sagen, wo ich sie aufgegabelt.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 12. Juni 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_337
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 4°. J 1: Otto 1,334×. J 2: Nord u. Süd, XLVI (1888), S. 354×. J 3: Nerrlich Nr. 19. A: IV. Abt., II, Nr. 107. 206,23 hat] aus hatte 207,9 f. die erste Parenthese nachtr. 13 3] davor der 17 freiem 31 immer] nachtr. 208,6 der Meister] aus Goethe für 11 sich] aus ihn 15 hatte] aus hat 19 Wein] nachtr. eine Sie] aus Es 21 die] nachtr. 25 bedecken] aus schliessen 30 in meinem] aus im 31 das] nachtr. 209,1 am Hofe] nachtr. einem] danach gestr. Hofe
Der Brief kam erst am 22. Juni in Hof an. 206, 17 deus averruncus: eine Unheil abwehrende Gottheit. 21 Bayreutherin: vielleicht Charlottens Schwester Eleonore (1764—1831), Gattin des Präsidenten Joh. Aug. v. Kalb, die zwar in Bamberg lebte (vgl. Persönl. Nr. 182, S. 124ff.), sich aber vorübergehend auch in Bayreuth aufgehalten hatte; möglicherweise ist aber auch metaphorisch Frau v. Kropff gemeint, vgl. 183, 23. 27f. Lachen aus Nervenschwäche: diesen Zug hat Jean Paul der Prinzessin Julienne im Titan geliehen, s. I. Abt., VIII, 136,26 (30. Zykel). 206 , 35 f. Knebel war nicht Kammerherr; die Herzogin ist wohl Anna Amalia. 208 , 19 Nigges ] eig. Negus (englisch auszusprechen), ein nach dem Erfin der, einem englischen Oberst, genanntes punschartiges Getränk. 208, 28 Bürgermeister Oertel: s. Bd. I, Nr. 432, 387, 35†.