Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar und Jena, 23. Juni 1796 bis 26. Juni 1796.
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215,31
Eiligst
Gerade Eine Stunde, eh ich an Göthes Aug und Tisch gelange,
schreib ich dir wieder. Ich möchte dir immerfort
schreiben; und ich
hatte hier keine Freude, in der mir
nicht dein Bild vorstand — weiter216,1
aber auch keines. — Ich
schreibe dieses Blat, um ein 2tes zu widerrufen
und dich bis nach Schleiz zu zaubern, wenn du magst und
kanst. Erst
am Ende dieses Briefs, das ich nach einigen Tagen
(vielleicht in
Jena) mache, werd’ ich dir das Wenn zuschreiben. — Ach ich sehne
216,5
mich, dir alles zu sagen und dan zu schweigen: Renate
und Amöne
bekommen die Hälfte.
Ich wil meinen künftigen Athem durch folgendes Gastwirths
Protokol ersparen: Sonabends Mittags as ich im Gasthof,
abends
bei der Ostheim, zwischen Herder, Einsiedel, Knebel, Mde Herder, —
216,10
Sontags
Mitt[ags]
solo bei der Ostheim, abends bei Herder —
Montags solo bei Ostheim, abends
auch — Dienstags bat mich
Knebel, ich war aber schon bei
Oertel, abends bei der ewigtheueren [?]
Ostheim — Mitwochs as ich bei der Geheimde Räthin v.
Koppenfels
in Rohrbach, abends bei Oertel — Donnerstag, Tieffurth,
bei der
216,15
Herzogin, Ostheim, Ostheim,
Ostheim — Freitag bei Göthe,
abends bei Oertel — Sonabend bei dessen Mutter und Tochter
—
Sontag bei Bötticher, abends bei Herder — Montag bei
Oertel,
Knebel — Dienstag Oertel, abends bei der Frau und
〈mitessend〉
Fräulein v. Seebach, abends as ich bei Herder — ach,
ein
216,20
schöner Abend, der nicht wiederkömt und wo ich in
die Augen des
hier erkaltenden Herders Thränen trieb — Mitwoch as ich
bei
dem Geheimden Rath v. Koppenfels — Donnerstag
(heute) bei
Goethe....
Die Lust wirret die Tage in einen Flok, in dem alle Fäden sind,216,25
ausgenommen den der Ariadne.
Alles was schönere und mehrere Saiten und Nachklänge in deiner
und meiner Seele findet, sag ich dir mündlich: weil gerade
das
schlechteste sich am kürzesten
sagen lässet, also mündlich das
andere.216,30
Ich wil des Teufels sein, wenn du nicht hättest schreiben sollen. In
meiner nächsten Abreise werde ich keine Briefe schreiben sondern
nur beantworten: solt ich dir schon geschrieben haben, daß
du
nicht Recht gethan?
1 §. — Dieses ist doch von Jena (incl.) aus gerechnet der
4te Brief
216,35
an dich? — § 2. Blos bei meinem Duzbruder Oertel kont ich so frei,
froh und unbefangen leben als ich lebe.
Den ersten Brief und den lezten schreib ich dir aus demselben
Hotel. Seit vorgestern bin ich hier und gehe morgen nach Weimar
zurük. Künftigen Sontag komm’ ich in Schleiz (im Engel) an, etwa
um 1, 2, 3 Uhr und da hoff ich dich, wenn du wilst und
kanst, endlich217,5
wieder zu umfassen. — Ich trat gestern
vor den felsigten Schiller, an
dem wie an einer Klippe alle Fremde zurükspringen; er
erwartete mich
aber nach einem Brief von Göthe. Seine
Gestalt ist verworren, hart-
kräftig, vol Eksteine, vol scharfer
schneidender Kräfte, aber ohne
Liebe. Er spricht beinahe so
vortreflich als [er] schreibt. Er war
un217,10
gewöhnlich gefällig und
sezte mich (durch seinen Antrag) auf der
Stelle zu einem
Kollaborator der Horen um — und wolte mir eine
Naturalisazionsakte in Jena einbereden. —
Die Ostheim, Oertel, eine Frau von Düngen und mehrere wir
fuhren gestern mit nach Truisniz: um diesen Lustort und um
ganz
217,15
Jena lagert sich die Natur mit einer doppelten Welt
aus Reizen, mit
einem weiten Garten und mit hineingezogenen weiskahlen
langen
Bergen, die wie Gräber von Riesen dastehen.
Amöne gab mir durch ihr Schreiben die Freude, die mir dein
Schweigen versagte. Dank ihr recht sehr dafür.217,20
Schreib ein Blätgen an meine Mutter, das ihr mein Wolsein —
nicht so wol als mein Seeligsein — und meine Ankunft
ansagt.
Lebe wol, mein Lieber. Wenn ich nur die ½ meiner hiesigen
Geschicht[e] so lange behielte, bis
ich sie in dein Gedächtnis über
geschüttet hätte! — Diese zwöchentliche Stelle in meiner Lebenslauf217,25
bahn ist eine Bergstrasse, die eine
neue Welt in mir anfängt. —
Voigt hier lies mir drei Ldor für den Bogen bieten. — Noch einmal
leb wol. Mein lieber herzlicher Duzbruder Oertel pakt
dieses Jenaische
Blat zum Weimarschen und überschreibt es: denn er geht
heute, ich
morgen.217,30
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar und Jena, 23. Juni 1796 bis 26. Juni 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_343
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°; sehr flüchtige Schrift. 217, 1 hat Otto das Datum (26. Juni) hinzugesetzt. J 1: Otto 1,356 und 359. J 2: Nerrlich Nr. 21 und 22. 216,8 künftigen] nachtr. 21 schöner] nachtr. 27 und Nachklänge] nachtr. 217,3 morgen] aus übermorgen 12 eine] aus die 14 wir] nachtr. 25 hätte] nachtr.
216,19 f. Henriette Sophie Wilhelmine, geb. von Stein (1773—1817), Frau des Stallmeisters Friedr. Joh. Chr. Heinr. v. Seebach, u. deren Tochter Amélie. 217, 8 Brief von Goethe: an Schiller, 18. und 22. Juni 1796. 12 Ein Entwurf zu einem Beitrag Jean Pauls für die Horen fand sich in seinem Nachlaß; s. Festgabe der Gesellschaft für deutsche Literatur zum 70. Geburtstag ihres Vorsitzenden Max Herrmann, Berlin 1935, S. 27—32. 14 Frau von Thüngen, Generalswitwe, Tochter der zu Nr. 340 genannten Frau v. Stein-Nordheim. 15 Trießnitz bei Jena. 27 Voigt: Jenenser Verleger, der später (1804) unberechtigt „Kleine Schriften von Jean Paul Fr. Richter“ herausgab.