Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 13. August 97.
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Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderstab aus der
Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder
vielmehr von der Fr. v. Berlepsch, bei der ich wohnte.
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Du hast vielleicht schon gelesen, daß das Geschik meine gute Mutter,
deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen
wolte, mit
einer langsamen stumpfen
Sense von meiner Seele und von diesem
Leben abgeschnitten. Ach
ich würd’ ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die
Arme sie früher
gehabt, ohne das Grab. Nun mehr ist Hof düster, eng,
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und ein drückender umschliessender Schacht für mich:
der ganze Frühling
und Sommer war, schon ohne die Wassersucht
meiner Mutter, troz
meiner Entzückung im Titan, eine schwüle Steppe für mich.
Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., schon weil
mein
Bruder eine Universität beziehen mus und weil Erfurt
nichts hat
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als Einen <Dalberg>. Ich achte die
Uneigennüzigkeit deines Vor-
schlags, aber ich kan es doch nicht ganz
abscheulich finden, von dir und
deinem Glük nicht weiter
entfernt zu sein als 1 Meile. Auch die Ber-
lepsch zieht nach Leipzig. Ich
habe nun im Leben Einer Woche mit ihr
zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache bestimte
weibliche Seele360,20
giebt, die einen bessernden Genus, ohne
Eine Ecke gewährt und aus der
ich nichts wegverlangte: diese
Emilie hat mich erhoben und ich sie.
Lieber Oertel, dringe
stärker in ihre Geschichte und Seele und du findest
was ich
zum erstenmale fand: so viele kühle Besonnenheit und Un
sinlichkeit bei
einer idealischen Phantasie. Ich mag sie gar nicht loben:360,25
sie besucht dich in 14 Tagen und ihre geistigen Schleier
werden, bei
ihrer enthusiastischen Liebe und Achtung für dich,
leicht von ihren
Reizen zurükfallen.
Also lies mir eine Wohnung aus, Lieber: sie mus 1 erträgliche Stube
für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine
Schlafkammer für
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uns beide haben — ferner kan sie in der Vorstadt und
ohne Aussicht
sein (für etwa 30 rtl.) — Rauch und Sonnenhize
und besondere
Winterkälte darf sie nicht haben — einige Möbeln
(da ich mein Ge
rümpel nicht gern so weit
transportiere) und sogar die Gelegenheit, mit
oder von den Leuten im Hause zu
essen, wären mir als ein Surrogat360,35
meiner eingebüsten
Häuslichkeit erwünscht. Wilst du nicht suchen so
lass’ es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende
Ent-
schlüsse ist: zu
zögern. Denn der Zufal gab mir immer bei wichtigen361,1
Dingen das Räderwerk und ich brauchte es nur aufzudrehen. Ich habe
nun die Kometen-Linien des Verhängnisses so oft und lange
berechnet,
daß ich aus Einer die künftige errathe: ich wuste
den Tod meiner
Mutter, meine Entfernung von Hof, ich weis meine
höchsten Schmerzen
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und Freuden voraus. Und jedes Auge kan es, unter dem ein Herz ist.
Ich bin eilig, verwirt, müde und mehr, mein Oertel, suche für mich
oder las es den guten Beigang thun,
der gewis ein Logis eben so gern
für mich erwählt als präpariert.
Ich kan dir in der Eile nichts auf dich antworten. Bald bedürfen wir361,10
keine Dinte mehr als Amalgama. Liebe meine Freundin, d. h.
höre
und errathe sie! Sie ist die erste genialische Frau, bei der
mein Herz
keine moralische Schmerzen lit.
Schlafe, träume, lebe froh, du gute Sophie, die ich bald finde.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 13. August 97. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_676
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 6 S. 8°. K: Oertel 13 Aug. i: Wahrheit 5,247×. J: Denkw. 1,361×. 360,11 der] aus dieser H 14 schon] davor gestr. 1) H 19 Einer] aus 1 H 20 zum 1 mal] nachtr. H weibliche] nachtr. H 24 kühle] nachtr. H 26 14] aus 8 H 29 lies] aus lese H (vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), II, Nr. 68) 37 lange] nachtr. H Entschlüsse] aus Conclusa H 360, 26 Der Besuch der Berlepsch bei Oertel kam nicht zustande; vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), II, Nr. 232.