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Korrespondenz

Von Jean Paul an Caroline Herder. Meiningen, 22. April 1802.

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M[einingen] d. 22. Apr. 1802.
145,30

Ich habe Ihnen so viel zu sagen und zu antworten; und ich wolt’,
ich könt’ es in Ihrem — Garten thun. Unendlich schmacht’ ich nach
einem blumigen Stük alter Zeit; und ein Zank in der Tischnähe wäre
mir lieber als ein Friede in der Meilenweite. — Thieriot ist noch hier
und unser Tisch-Nachbar. Er und sein Spiel gefiel dem Herzog weit 145,35
mehr als der trozig-schlaffe Kanne, der zu nichts weniger als einem

Prinzenlehrer — eher zu einem Prinzen selber — taugt mit seiner146,1
ekelhaften Willenlosigkeit, wizigen Ideen-Armuth und einseitigen
Süffisance. In der neuesten Schule frisset, weil sie geistig und leiblich
nichts zu leben haben, jeder den andern, wie jezt Schelling Fichten,
der Neueste den Neuen, jedes Geschöpf seinen Schöpfer. Wodurch die146,5
schmuzige leere Seite dieser Schule bald einfallen wird, — indes die
mit der Fresko-Arbeit bleibt — das ist, daß alle insgesamt nur Eine
Seite haben, die ekelhafteste Nachbeterei durch die kleinsten Be
stimmungen und Urtheile hindurch; wie Sie am marklosesten Nach
Schlegel, D. Majer
bemerken können, in dem nichts gros ist als das j. 146,10
— Eben komt Fr. v. Kalb. Ihre Erscheinung komt wie ein Frühling,
in den Meiningischen Winter an Kunst, dessen kalte und reine Luft
aber stärkt. Ihre Einsamkeit hat ihrer Kraft eine bescheidne Stille
gegeben, die Ihnen, im Weimarschen Stimmen-Charivari gefallen
wird. Auch meine Frau, die jedes Gewächs nur nach seiner Blüte, 146,15
nicht nach seiner Rinde schäzt, ehrt sie hoch.


— Thieriots Herz könte man beinahe noch in die Brust einer Jung-
frau einsezen und damit das reinste Blut umtreiben; er ist sehr gut,
bis auf einen nachsprechenden Schein. Über den neuesten Unsin,
Amors Pfeile stat in Honig, in Koth zu tauchen, sprach ich mit ihm 146,20
hoff ich siegend; und nicht blos moralisch, auch ästhetisch und sogar
griechisch lässet sich — wie ich einmal unter andern [Kriti]ken mit
dieser zeigen werde — dieser unreine zweklose Wahnsin an den Altären
Homers, Sophokles, Platos, Shakespears etc. wegwerfen, vernichten
und opfern, wie Schweine der Venus. — In nächster Woche komt 146,25
der Titan und noch ein Paar Worte dazu. Alles lebe freudig in der
Freude des Frühlings, Vater, Mutter, Tochter — die schöne, sogar
Schlegelianern so sehr gefallende (ich hoffe aber nicht, daß sie hier
vorlieset oder zuhört) und Söhne. Adio, carissimi!


R.
146,30

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Caroline Herder. Meiningen, 22. April 1802. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_265


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 271. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 3 S. 8°; auf der 4. S. Adr.: Frau Präsid. v. Herder Weimar. K: Die Herder 22 Apr. J 1: Herders Nachlaß Nr. 47. J 2: Denkw. 3,93. B: IV. Abt., IV, Nr. 225. A: IV. Abt., IV, Nr. 229. 146,1 Prinzenlehrer] Prinzenerzieher K 5 Wodurch die] aus was das H 6 leere] nachtr. H — indes bis 7 bleibt —] nachtr. H 9 Nach] aus Post H 10 D. Majer] aus Maier H 14 Ihnen] davor gestr. auch H 15 die bis 16 schäzt] gestr. K (s. I. Abt., IX, 259,21f.) 19 neuesten bis 20 tauchen] gestr. K (s. I. Abt., XI, 405,14) 22 Kritiken] die erste Hälfte durch Siegel verdeckt; J ergänzt Gedanken 20 f. mit dieser zeigen] aus thun H 23 unreine] aus reine H 24 vernichten] nachtr. H

Durch Charlotte v. Kalb überbracht, die auf die Außenseite geschrieben hat: „ich bin hier — sind Sie heute Abend allein? — denn ich schlafe doch nur gut, wenn ich Sie gesehen habe. Charlotte.“ 145, 34ff. Thieriot und Kanne waren in Weimar bei Herders gewesen; ersterer hatte sich durch seine Sympathie für den „Lucindianismus“, dieser durch eine freche Äußerung über Herder mißliebig gemacht. 146, 15f. Charlotte v. Kalb unterschreibt ihren Brief an J. P.IV. Abt., IV, Nr. 233 (1. Juni 1802): „Mit immer mehr Rinde Deine treue Charlotte, Blüte und Frucht für Karoline.“ 21–25 Vgl. I. Abt., XI, 69,14ff., 405,10ff. (Vorschule der Ästhetik).