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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Meiningen, 18. Februar 1803 bis 9. April 1803.

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211,25
Meiningen d. 18. Febr. 1803.

Bruder! Ich werfe mir ordentlich mein Schweigen auf deines auf
meinen Lezten vom 13. August vor. Warlich ich hatte den Vorsaz, gar
nichts von dir zu hoffen und zu fodern wegen deiner Kränklichkeit, bis
ich in Weimar bei Herder deren Heilung oder vielmehr Interim — 211,30
denn der nordische Winter ist gewis der Eisbär deiner Süd-Nerven
geworden — und die schöne holde Verbindung durch die beiden Hände
deiner Tochter erfuhr und las (mit der einen nahm sie deine, mit der
andern H[erders] Hand) und dan nachsan. Fals du mir antwortest,
so thu’ es zugleich auch auf den vorigen Brief. Auch kouvertiere deinen211,35

Brief nach Coburg, weil ich dahin schon Anfangs Maies ziehe, um 212,1
ein Paradies im geographischen Sin zu haben; und schreibe mir in
deinem nächsten Briefe deine Gedanken über den 4ten Titan, der in der
Oster Messe gewis erscheint.


Hinten in meinem litterarischen Imbreviatur oder Sudelprotokol212,5
hab’ ich für einige Freunde immer einige Pläze, wo ich für jeden die
zufälligen Novitäten samle, um sie, wenn ich anfange, sogleich vor
mir zum Versenden zu haben. Ohne das vergisset man im Feuer das
Beste, wenigstens das Älteste. Zu beiden gehört, daß im September
meine Frau mir ein götliches Mädgen gab und daß also der Vater 212,10
viel närrischer ist als der Eheman. Und so gros die Entzückung war
(wer unter und gleich nach einer Entbindung keinen Gott sieht und
anbetet, verdient keinen sondern den Satan): so trit doch noch die
götliche Aussicht und Erfahrung dazu, daß jeder Tag eine neue grössere
Freude bringt; denn jeder liefert ein Paar neue Züge und Klänge des212,15
knospen-vollen Neulings und die Lust und Liebe ist unermeslich und
unergründlich. Nun aber vollends bei meiner Frau! Ach Heinrich!
köntest du einmal in meiner Stube und bei meiner Caroline sein und
bei meiner Emma Idoine: ich wolte gern die besten metaphysischen
Freuden missen! — Sonderbar, daß ich troz meiner südlichen Ab212,20
errazion doch noch immer der festen innigsten Hofnung lebe, daß wir
uns hienieden sehen. Gern reis’ ich dir entgegen, wenn du entgegen
reisest.


d. 5. April.

Ich wil dir doch die alten Explosionen schicken. Du schweigst gar zu212,25
hart. Die Winter fürcht’ ich immer deinetwegen; ich selber blühe in
jeder Jahrszeit, weil ich mich mit einem Bier begiesse, das deiner
Rinde und deinem Marke eben so wohl thäte, wenn du fränkisches so
weit haben köntest. —


d. 9. Apr.
212,30

Ich wil das Blat schliessen, so wenig Früchte es auch bedekt oder
herträgt, damit ich nur von dir einige bekomme. Der 4te Titan wird
dich schon zur Antwort zwingen.


Lies doch Novalis 〈v. Hardenberg〉 Schriften; ich kante ihn per-
sönlich als einen reinen, sanften, religiösen und doch feuerreichen212,35
Karakter. Er starb einer Geliebten nach. Sein poetisches Christenthum
war auch sein theoretisches. Die ganze Familie hat einen Anflug von
Hernhuterei und — Schwindsucht zugleich. — Hast du etwas zärteres, 213,1
bilderreicheres und feineres von einer Französin gelesen als die Mé-
moires
der Md. Necker? Die wahre Prinzessin- und Ober-Hof
Meisterin im schönsten Sin!


Seitdem hab’ ich auch Schelling über dich mit dem alten Unmuth 213,5
über den köpfenden Egoismus gelesen, der noch dazu gegen deine Blize
selber donnert und dir doch den Ton des Donnerns vorrükt. Sein
Bruno gefält mir durch den stillen Geist des Enthusiasmus. — Wahr-
scheinlich gräbt Reinhold eine lange Mine unter Jena hin; aber ich
wolte, du gäbest das Pulver her. —213,10

Durch die bücherarme Stadt kenn’ ich hier die Philosophie gar nicht
ausser aus der Buchhändlerrechnung. In Coburg — wohin ich Mitte
Maies ziehe — gehts besser. Über Philosophie und Dichtkunst wird
hier nicht votiert.


Wo ist Baggesen? Noch las ich seine Parthenais nicht; aber ohne 213,15
Bedauern; sein poetischer Geist wohnt mehr in seinem Scherze als
Ernste.


Dein Brief über den religiösen Briefpostraub (im Merkur) hat mich
so wohl durch sein warmes Wehen — wiewohl es zu gut ist für die
Eiszapfen-Zeit — sanft berührt als durch den Blumen- und Blüten213,20
staub schön beschenkt, der deiner reichen Seele immer entfliegt.


Wie findest du die Adrastea? — Schreibst du jezt etwas?

Z. B. einen Brief an mich? Ich solte kaum glauben.


Lebe wohl, ich bleibe ewig der Deinige. Vergieb dem Briefe die
närrischen déhors und environs; abschreiben kan ich keinen. — Die213,25
Deinigen seien recht herzlich gegrüsset!


J. P. F. Richter

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Meiningen, 18. Februar 1803 bis 9. April 1803. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_361


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 368. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 6 S. 4°. Präsentat: v. Legations Rath Richter. e. zu Hamburg d. 22ten April 1803. b. 28ten. K (nach Nr. 357): Jacobi 17 [!] Febr. u. 9 Apr. J: Jacobi S. 103. A: IV. Abt., IV, Nr. 286. 211, 26 1803] aus 1802 H 28 Lezten] aus lezten H vom 13. August] nachtr. H 29 und zu fodern] nachtr. H 31 gewis] nachtr. H 32 geworden] nachtr. H 33 und las] nachtr. H 212,1 dahin] aus daselbst H Anfangs Maies] aus im Mai H 6 Pläze] aus Stellen H 8 zum Versenden] nachtr. H 15 Freude] nachtr. H 213, 3f. Ober-Hof-Meisterin] aus Oberhofmeisterin H 7 selber] nachtr. H den Ton des Donnerns] aus das Donnern H 8 stillen] nachtr. H 10 her] davor dazu K 24 Vergieb] Verzeih K 25 dehors K

211, 30–34 Herders hatten in Aachen Jacobis Tochter, Klärchen von Clermont, kennengelernt. 212, 12f. Vgl. 179, 4–7. 213, 2f. Mémoires der Md. Necker: richtig Mélanges, s. 138, 9–11†. 5–7 Gemeint ist der Aufsatz „Glauben und Wissen, oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie“ im 2. Band, 2. St., des Kritischen Journals der Philosophie, Tübingen 1802, der aber nicht von Schelling, sondern von Hegel ist. 8 „ Bruno oder über das natürliche und göttliche Prinzip der Dinge“, Berlin 1802; vgl. I. Abt., XI, 395,20–23. 15 Baggesens episches Gedicht „Parthenais“ erschien im Taschenbuch für Damen auf 1803. 18 „F. H. Jacobi über drei von ihm bei Gelegenheit des Stolbergischen Übertritts ... geschriebne Briefe und die unverantwortliche Gemeinmachung derselben in den Neuen Theologischen Annalen“ im Teutschen Merkur, Nov. 1802; vgl. 169, 24f. 24f. Das Briefblatt ist unregelmäßig zugeschnitten und voller Flecken.