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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Coburg, 30. Januar 1804 bis 31. Januar 1804.

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271,27
Koburg d. 30 Jenn. 1804.

Geliebter Heinrich! Den 8ten Sept. schrieb ich an dich. Kurz wir
brauchten stat der Posten nur die alten Universitäts- und Messen271,30
Boten, welche halbjährlich brachten und empfiengen. Im Winter ist
dein Schweigen beklemmend; weil ich den Frost für den rechten
Nerven-Gift ansehe — und daher auch deinen Aufenthalt unter der
Taze des Eis-Bären kaum begreife. — Sende mir bald ein Wort,
da ich ohnehin seit dem zermalmenden Tode Herders nichts mehr habe 272,1
als einen leeren blauen Himmel der Nacht; und du bist noch der helle
freudige Abendstern. Ziehe langsam deiner Sonne nach; und gieb
noch dem, der dich liebt, dein Auge und deinen Blik. Ach ich habe
meinen Herder recht geliebt; denn nie war mir ein Mensch in persön272,5
licher Erscheinung so viel und was fragt’ ich nach dem, was ich zu
vergeben hatte. Ich wust’ es ja kaum. Ein (zulezt physisch-)kränklicher
Ehrgeiz war seine einzige Schwäche; warum sol aber der Freund nicht
den Freund lieben wie die Frau den Man, die Geliebte den Geliebten
und an ihm wie der Fromme an Gott, dessen beste Welt ertragen? —272,10
Jakobi! hätt’ ich doch nur einmal dein lebendiges Gesicht gesehen
und dein lebendiges Wort gehört: dan möchte von uns welcher wolte
zuerst von dannen gehen. —


In Coburg hab’ ich mehr Bücher und Menschen und geistreichere
— inzwischen jenseits des Daches doch nicht sehr viel. Forberg hat 272,15
nur dialektische Kraft — jezt in die geschäftige verloren — aber keine
höhere, welche die andern Kräfte bändigt und erbeutet. Die rechte
〈götliche〉 Philosophie scheint er nicht zu kennen, weil er jezt keine
mehr kent. Fichten — diesem ächt-reinen Weltweisen, kent’ er nur
jede Welt — war F. nie zugethan; und deine Vermuthung über272,20
dessen Kategorien war wahr. Doch preis’ ich F’s jungfräuliches Ge-
sicht und dialektische Befangenheit — eine philosophische Amazone!


Den Minister Kret[s]chman — der aus allen deutschen Ecken
Geschäfts-Geister ruft (weist du einen? Besoldet wird Er sehr.) —
und noch einige lassen mich blos vergessen, was ich hier oder irgendwo272,25
suche (seit Herders Tod) oder du in Eutin. Heinrich, war dir denn
Voß ein Ganzes, geschweige ein Ganzer, oder sonst jemand und doch
bliebst du? — Deine Jahre sind vielleicht deine Gründe und du sagst:
ich kenne den Bettel. Ich aber sage: „ich ziehe lieber: vielleicht find’
ich, denn ich habe gefunden.“ — — — —272,30

Fries über Reinhold, Kant etc. verdient ein Paar Blicke von dir,
blos weil er — kälter, reiner, logischer als alle seine Neben-Kantianer
— mit wenigen logischen Schnitten die Ficht[ischen] und Schelling-
schen Glieder-Männer als anorgische [!] Männer hat auseinander
fallen lassen. —272,35

31 Jenn.
273,1

Ich bin heute nicht recht zufrieden mit meinem gestrigen Ungestüm,
worein ich immer gerathe, wenn ich mich von einer Hize in die andere,
von Büchern in Briefe hineinschreibe. Perthes sol dir meinen Brief
über meine jezige Arbeit schicken, die etwas bessers wird als mir das 273,5
Volk zutrauet. Ich wolte, er verlegte sie, weil ich gern mit einem
Buchhändler zusammenkomme, gegen welchen ich als der Verkäufer so
dum und unbesorgt sein darf als mir wohlthut — was bei deinem
Freunde der Fal sein würde.


Beantworte mir ja den vorigen Brief mit und sag’ ein Wort über273,10
Schoppe.

Den 9ten Nov. gaben der Himmel und meine Frau mir einen
köstlichen Jungen, Namens Maximilian oder in Prosa Max. Meine
Emma wird von Malern besucht; aber von keinem Arzte, so schön und
gesund ist sie. Soviel Einsamkeit ich auch jezt durch Verwöhnung —273,15
denn sonst schrieb ich das Kampanerthal etc. in einer Koch- und Kauf-
stube — um mich haben mus: so bleibt doch meine Schreib- und Denk
stube der Tanzplaz der Kleinen so lange sie wacht. An einem Kinde ist
alles schön und heilig, sogar der Egoismus.


In meinen ästhetischen Abhandlungen komm’ ich oft an oder in das 273,20
heilige Land, wo deine Seele wohnt; und du wirst in ihnen überhaupt
auf weniger abentheuerliche Thiere und Bildungen stossen als in
meinen andern Werken.


Vergieb die Kahlheit dieses Briefes; nim ihn für ein Postskript des
vorigen. Da du nach deiner Weise jezt die 2 zu 1 Antwort erfoder273,25
lichen Briefe von mir bekommen hast: so wirst du mir diesen Secunda
Wechsel hoffentlich mit deiner Antwort honorieren. — Ich grüsse
deine Herzens- und Lebens-Schwestern. Es gehe Euch allen besser als
die Jahrs- und Kriegs-Zeit ist.



J. P. F. Richter
273,30

Ich habe dir doch das einmal für dich bestimte Blat wieder bei
gelegt.


[Beilage]

Gesicht gesehen und dein lebendiges Wort gehört: dan [ gestrichen:
möchtest du von dannen gehen, obwohl du jezt nun mein Lezter bist,273,35
so viele ich auch sonst unendlich liebe! Aber freilich würd’ ich dan274,1
stärker leiden.] Über Herder werd’ ich in meinem ästhetischen Werke
vieles sagen. — Wie wird es aber mit Haman gehen? — Sag’ etwas
Bestimtes! Ich kan alles sterben sehen — denn es komt wieder — aber
nur keinen Genius; denn er komt nicht wieder, da schon die Indivi274,5
dualität des Gemeinen nicht umkehrt, geschweige des Ungemeinen.


Jezt höre von 〈de〉 mir! Im November gab mir Gott einen köst
lichen Jungen — Max — ich sage Gott, weil in keiner Nacht als in
der, die einen Menschen-Tag anfängt 〈bestimt〉, so sehr die Hand aus
der Wolke regiert, wie wir es denn schon allein aus meiner Bemerkung274,10
sehen, daß die Erstlinge immer Mädgen sind, und zweitens aus dem
physiognomischen Simultaneum der Eltern und drittens aus der
Kinder-Macht und Ohnmacht, die oft mit beiden der Eltern sich um
gekehrt verhalten. — Und sonst! — Das fürchterlichste, barokeste,
wildeste, heiligste Wunder der Erde ist eines Menschen Ent-〈Ur-〉274,15
Sprung, der salto im/mortale!

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Coburg, 30. Januar 1804 bis 31. Januar 1804. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=IV_445


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 452. Seite(n): (Brieftext) und (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Brief: Goethe- u. Schiller-Archiv; 8 S. 8°; Präsentat mit roter Tinte: v. Friedr. Richter. e. zu Hamburg den 16ten Febr., b. den 14ten März 1804; Beilage: Berlin JP; 2 S. 8°, durchstr.; Präsentat (auf einem Umschlagblatt) wie oben. K: Jakobi d. 31 J. J 1: Roth Nr. 304×. J 2: Jacobi S. 110× (vollständiger in der 2. u. 3. Reimerschen Gesamtausgabe, Bd. 29). A: IV. Abt., IV, Nr. 332. 271,29 schrieb] aus schrieb’ H 33 unter] aus neben H 272,1 seit] nach K 12 und] aus oder H 19 kent’] davor gestr. hatt H 24 Geschäfts-] nachtr. H Er] aus er H 27 doch] aus warum H 33 logischen] nachtr. H 273,8 — was bis 9 würde] nachtr. H 12 9ten] mit Blei aus 5ten H gaben] aus gab H 14 besucht] aus gesucht H 20 Abhandlungen] Vorlesungen K an oder in] aus auf H 22 auf] nachtr. H 25 zu 1 Antwort erfoderlichen] nachtr. H erford. K 26 diesen] davor gestr. auf H 27 deiner Antwort] aus einer H 274,13 Kinder-Macht und Ohnmacht] aus Kraft oder Ohnmacht der Kinder H 14 verhalten] aus verhält H

272,20 f. Forbergs Kategorien: s. Bd. III, Nr. 434, 315,14†. 31–35 Jakob Friedr. Fries, „Reinhold, Fichte und Schelling“, Leipzig 1803. 273, 15–18 Vgl. Persönl. Nr. 288, S. 253,29–33. 274, 11 Vgl. I. Abt., XII, 195,13†. 15f. Vgl. I. Abt., XI, 180,15f. (Vorschule der Ästhetik, § 52).