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Korrespondenz

Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Leipzig, November 1781.

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[Konzept, nicht abgeschickt]


[ Leipzig, Nov. 1781 ]

Ich sage Ihnen für Ihren wertesten Brief, den ich erst den.. Nov.
erhielt, den wärmsten Dank; ich weis nicht, was ich Ihnen für Ihre
fürtreflichen Anmerkungen sagen sol? Sie haben mir auf einmal soviel 25,30
Gutes geschrieben, daß ich dadurch wenigstens eben soviel Mitt[el
mässiges] schreiben mus. Erlauben Sie mir also, vorher Ihren Brief,
und darauf [?] die An[merkungen] zu beantworten. Lassen Sie iezt die
Geduld Ihre Fürerin sein, sonst werden Sie übel durch diesen Brief
hindurch kommen, und machen Sie Sich dem Dinge bekant, das man 25,35
am Hofe mit vielen Kosten kauft, und im gemeinen Stande unter 26,1
[dem] Namen Langweile fürchtet.


Ἃ [?] ἔσχατα, πρῶτα — Ich wil beim Ende Ihres Briefs an
fangen, und vorher mit Ihnen über die Rechtschreibung des H’s über
einkommen. Sie geben zwei Gründe an, warum man das H behalten 26,5
sol 1) weil es in andern Wörtern vorkomt, 2) und weil es mit Ch
einerlei Beschaffenheit hat. Mir scheint beides anders zu sein. Das H
ist nichts als die starke Adspirazion, mit der man einen Vokal aus
spricht; es ist kein Konsonant, es ist kein Vokal, sondern ein starkes
Herausstossen des Athems vor dem Vokal. Es kan also am Anfang 26,10
einer Sylbe, vor dem Vokal stehen; allein es kan nicht nach dem
Vokal z. B. wie in wahr, nah stehen, weil es nicht ausgesprochen
werden kan. Es kan nicht nach dem Konsonanten stehen, z. B. nach
dem T. Kan ichs aussprechen, wie die Sachsen hier [?] scheinen zu
können, so ist das eigentlich nur die Aussprache des T im Unterschied 26,15
von D. Das harte T mus auch hart ohne H pronunzirt werden. Weil
es eine starke Adspirazion des Vokals verursacht, so kan es recht gut in
den Wörtern stehen, wo zwei Vokale durch die Abänderung des Tons
sollen verschieden ausgesprochen werden, wie in dem von Ihnen an
gefürten Worte gehen. — Das Ch hat gar keine Änlichkeit mit dem26,20
H; H ist kein Teil von ihm; es ist kein zusammengesezter Buchstabe, wie
es die falsche Bezeichnung vermuten liesse; sondern es ist der einfache
Laut (χι). Ich weis überhaupt nicht, warum man im Deutschen und
Lateinischen für einfache Laute zusammen[gesezte] Buch[staben], und
für zusammengesezte einfache wält, z. B. für φ ph, [für] χ ch, und im 26,25
Gegenteil für ks [und] ts x und z u. s. w...... Sprachrichtig ist’s
nicht. Ich würde Ihnen gern den Anstos, den meine Recht[schreibung]
Ihren Augen macht, vermindert haben, wenn ich nicht so sehr [daran]
gewönt wäre, und oft das H auch ohne meinen Willen auslassen würde.
Ich würde nachher hineinkorrigiren müssen — und dan bekäme mein 26,30
Brief wieder dies[elbe] wid[rige] Gestalt, die ich vermeiden wolte.


Ernesti war ein verehrungswürdiger Man, und sein Tod beklagens-
wert für Teutschland. Der gröste Teil der Leipziger Studenten
schäzzen ihn; dies bewiesen sie durch ihre zalreiche Versamlung bei
seinem Begräbnistage. Die Krusianer sind fast mit ihrem Stifter 27,1
verloschen; man ist im Jar 1781 zu auf[geklärt], um ganz Krusianer zu
sein, wenigstens zu klug, um es zu sagen. Nicht ganz aber fast eben so
ist’s mit den Ernesti[anern]. Man hängt nur einem grossen Manne in
seinem Leben eifrig an, und verteidigt seine Feler mit demselben Eifer, 27,5
wie seine Tugenden; natürlich deswegen, weil es Nuzzen für uns ist,
dem grossen Manne zum Schilde gegen die Streiche seiner Neider zu
dienen, und Ere, sich seinen Freund zu nennen. Mit seinem Tod stirbt
unsre Anhänglichkeit an ihm [!]; wir loben nur [?] das, was ieder lobt,
und verringern blos die Feler, die wir vorher noch läugneten. Von27,10
beiden Parteien hört man iezt wenig. Überhaupt hab’ ich die Be
merkung gemacht, daß ein grosser Man nicht lange leben mus, um
immer mit Rume zu leben. Man erwartet von ihm unaufhörlich neue
Monumente seiner Grösse, und man macht sich von ihm einen so volkom
nen Begrif, daß man seine vergangnen Taten blos für Herolde von 27,15
der Grösse der zukünftigen ansieht. Man wendet nur immer sein Auge
vorwärts; man sieht immer das was er ist, und vergisset, was er ge
wesen ist — man bewundert ihn nicht mer, wenn man an ihm immer
dasselbe bewundern mus — er überlebt sich selbst. So gieng’s mit
dem grossen Young in England; und fast eben so mit dem gelerten 27,20
Ernesti in Leipzig. Vermittelst des Körpers stehen wir mit den andern
in Verbindung; und ein grosser Geist [vermag?] nur erst den eigent
lichen Körper, den Rum, der ihn [in] die unaufhörliche Verbindung
mit allen Menschen sezt, dan zu erlangen, wenn er den iezzigen ab
gelegt hat. Vergeben Sie mir diese Anmerkungen und Ausschwei27,25
fungen, die die ersten sind; vergeben Sie zugleich die grosse Menge derer,
die Sie in diesem Briefe noch zu erwarten haben. — Halten Sie mich
für fähig, mit unter der Klasse derer zu stehen, die an iedem grossen
Man die Feler aufsuchen, diese Raben des Parnasses, die sich nur vom
As nären — diese Harpyien, die mit dem Un[rat der] Verläumdung 27,30
iedes Verdienst beflekken? — Was Sie vom Rum sagen ist richtig; was
ich davon gesagt habe, ist unrichtig. Ich habe nie den Rum mit Gleich
gültigkeit angesehen, nie ihn als ein eingebildetes Gut betrachtet — 28,1
denn was ist warscheinlicher als daß wir in der Ewigkeit erst seine
besten und dau[erndsten] Früchte geniessen werden? Allein zu der Zeit,
da ich ienen Brief an Sie schrieb, war ich gerade durch den Tod des
Ernesti’s, durch den Anblik seines Leichenpomps und durch die Ver- 28,5
gleichung seines verg[angnen] und gegen[wärtigen] Zustandes, in die
Lage versezt worden, iene irrige Meinung zu behaupten. qui


Aber vielleicht schäzt man an dem sel. Ernesti mer als man schäzzen
solte. Er sprach Zizero’s Latein; aber ihm felte seine Beredsamkeit; er
hat gute lateinische Worte, aber nicht herliche Gedanken gehabt; er 28,10
war erstaunlich gelert, bei mittelmässigen Kräften des Verstandes;
er hatte seinen Rum mer seinem Fleis, als seinem Genie, mer seinem
Gedächtnis, als seinem Tiefsin zu danken. Er war der gröste Philolog;
aber kein grosser Philosoph. Eben dieses macht ihn vielleicht nicht
halb so gros als einen Lessing, oder auch einen Platner. Sie wollen 28,15
mir’s zugeben, schreiben Sie, wenn ich Ihnen beweise, daß der Mensch
im künftigen Leben seine Erdensprache nicht mer habe. Das ist leicht
zu beweisen. 1) Wir haben denselben Körper, also dieselben
Sprachorgane nicht mer — wir müsten in die andre Welt auch unsre
Oren mitbringen, und unsre Luft da wehen lassen. 2) Die Möglichkeit, 28,20
andre durch Zeichen von unsern Gedanken zu unterrichten, schränkt sich
nicht auf die Sprache allein ein; es sind tausend Möglichkeiten, uns
den andern verständlich zu machen — ich sehe also nicht ein, warum
wir die iezzige überal hinsezzen wollen. 3) Das Gedächtnis fält ganz
weg. Unser Gehirn enthält unsre ganze Sprachkentnis; mit dem Alter 28,25
wird sie geschwächt; und wo komt die Sprache nach [dem] Tode hin,
wo unser Wortbehältnis Würmer dafür aufbehält? 4) Was sol dem
unsre Sprache in der andern Welt? was sollen die Benennungen der
iezzigen Dinge für die Dinge, die wir nicht kennen? Der Himmel
müste ganz alle die Geschöpfe, die Gegenstände, die Beschaffenheit, die 28,30
Laster und Tugenden, die politische und ph[ysische?] Beschaffenheit
unsrer Welt haben, um dort unsre Sprache zu haben. Wir werden
dort die Dinge nicht sehen, die wir hier sahen; und Dinge sehen, die
wir hier nicht sahen; wir werden unsre alte Sprache vergessen, und
eine neue brauchen müssen. Und was sollen denn die Völker im 28,35
Himmel mit ihren Sprachen anfangen, die nur ein verwirtes Getön,
ein … wie die [!] Und warlich, wenn [dies] auch zugestanden würde,
man würde sich gewis seiner vorigen Erdensprache schämen, man 29,1
würde ihre Mängel einsehen, und die Zeit bedauern, die durch ihr
Studium nüzlichen Geschäften ist geraubt worden. — Was den D.
Bahrdt anbetrift; woher [?] seine Pension? Diese bekomt er vom
König in Preussen — seine Kollegien? sind über die alten Autoren, 29,5
philosophische. Er schreibt nichts teologisches, w[enigstens] nicht unter
seinem Namen; aber —


Von Rousseau. Ein gewisser Palissot, Mitglied der Geselschaft
der Wissenschaften von Nancy, verfertigte ein Lustspiel, das er les
philosophes
nante. Rousseau und einige andre Gelerte waren darin29,10
ser lächerlich gemacht. Sobald es der König erfur, lies er, durch den
Grafen von Tressan, an Rousseau schreiben und ihn versichern, daß
er gegen den Palissot ser aufgebracht sei und daß dieser, zur Strafe,
seine Stelle als Mitglied der Geselschaft der Wissenschaften in Nancy
verlieren solte. Rousseau antwortete dem Grafen von Tressan und bat 29,15
für Palissot. Auf Rousseau’s Vorbitte behielte dieser seine Stelle, aber
der König verlangte, daß die ganze Anekdote in den Büchern der
Geselschaft der Wissenschaften aufgezeichnet würde. Auch dieses wuste
Rousseau durch neue Bitten abzuwenden und Palissot hatte es also
dem grossen Man, den er beleidigt, allein zu danken, daß sein boshafter 29,20
Spot unbestraft blieb.


Prof. an der Realschule in Berlin Zierlein gab ein Buch heraus:
betitelt: Sagt den[n] die Vernunft so gar viel von Got. Ich
hab’ es rezensirt gelesen; man lobt es ser, weil es so scharfsinnig, so
unparteiisch, geschrieben ist, und über gewisse Materien Anlas zum 29,25
Zweifeln giebt. Die Existenz der Bücher, die ich Ihnen neulich an
zeigte, kont’ ich wissen, ohne sie in Buchdrukkereien gesehen zu haben.
Die wichtigsten Bücher werden alzeit im Meskatalog von einer Messe
zur andern angekündigt, andre in Zeitungen versprochen, und einige
derselben wurden mir durch die Erwänung derselben von den Pro29,30
fessoren bekant. Eine einzige Nachricht mus ich verbessern: Mendels-
sons Schrift über [Lessings Karakter] ist noch nicht heraus.

Um Ihnen Platnern zu malen, müst’ ich er selbst, oder noch mer
sein. Man mus ihn hören; man mus ihn lesen, um ihn bewundern zu
können. Und dieser Man, der soviel tiefe Philosophie mit soviel An29,35
nemlichkeit, soviel gesunden Menschenverstand mit so grosser Gelersam
keit, soviel Kentnis der alten Griechen mit der Kentnis der Neuern
vereinigt, der als Philosoph, als Arzt, Aestetiker, und Gelerter gleich 30,1
gros ist, und eben soviel Tugend als Weisheit, eben soviel Empfind
samkeit als Tiefsin [besizt], dieser Man ist nicht nur dem Neide iedes
schlechten Kopfs, sondern der Verfolgung mächtiger Dumköpfe und
der heimlichen Verläumdung ausgesezt. Er hat schon viel Streitig30,5
keiten gehabt; und noch mer Feinde sich zugezogen. Er wurde einmal
vor’s Konsistorium zu Dresden gefordert, um sich wegen der Be-
schuldigung des Materialismus zu verantworten. Wenn man ihm
etwas weniger schuld geben kan, so ist’s dieses; er ist der erklärteste
Feind des Materialismus; man mus seine Aphorismen nicht gelesen, 30,10
oder nicht verstanden haben, um es nicht zu wissen. Doch es war ein
Konsistorium; und dieses hat recht, mit mer Ere dum, und mit mer
Heiligkeit boshaft zu sein, als andre Menschen. Er verteidigte [sich]:
er siegte über die, mit welchen zu streiten er für Schande hielt. Kaufen
Sie sich seine philosophischen [Aphorismen]. Sie treffen in diesen die 30,15
Leib[nizsche] Philosophie im kernichtsten Auszug, und eine Menge
philosophischer und … Bemerkungen in gedrängter Schreibart an.
Weiter unten werd’ ich mer von Platner reden. — Die Nachricht, die
ich Ihnen von der Heterodoxie [und] Or[todoxie] in Leipzig geben sol,
wird ser kurz ausfallen. Fast alle Studenten neigen sich auf die Seite 30,20
der Heterodoxie. Man sagt’s one Scheu öffentlich, daß die Erbsünde,
Höllenfart Christi Schimären sind. Wenn es nicht so ganz viele Hetero-
doxe unter den Studenten giebt, so giebt’s desto mer Gleichgültige
gegen die Religion, Naturalisten und auch Atheisten: vermutlich des-
wegen, weil man dieses mit weniger Mühe, mit weniger Kentnis der 30,25
Sp[rachen?] sein kan als ienes. Die meisten sind nicht mer ortodox; aber
wenige sind Sozinianer im eigentlichen Sin des Worts. Ich habe
selbst bei einem Magister, der zugleich Prediger ist, gehört, welcher
unaufhörlich [auf] das System, auf die mystische Deutungsart der
Bibel, auf die Alle[gorie]sucht, auf die Anhäng[lichkeit] an alte un- 30,30
ware Beweise, und auf die Unbekantschaft mit dem Hebräischen in
der Erklärung des N. T. u. s. w. loszog. Allein demungeachtet darf der
P[rofessor] nicht frei eine Glaubensl[ere] leugnen; er mus blos von der
Schwierigkeit derselben reden, und die Entscheidung über ihren Wert
seinen Zuhörern überlassen. Der gröste Feler, den die Freiheit des 30,35
Denkens in Sachsen findet, ist, daß die Grossen, die A[dligen] noch
nicht aufgeklärt sind. In Sachsen wird iedes freie Buch konfiszirt.
Morus ist unst[reitig] nicht ortodox. Er hat schon viele Verfolgungen 31,1
gelitten; und eben dieses macht ihn behutsam, und hindert ihn, seine
Meinung frei herauszusagen. Wo er ein Wunder, eine Stelle vom
Teufel mit Recht [?] wegerklären [kan]; oder eine Allegorie aus dem
A. T. zu einer Akkommodazion machen; so tut er’s. In seiner Dog- 31,5
matik, die er treflich liest, trägt er bei streitigen Punkten die Meinun
gen der entgegengesezten Parteien vor — er überläst den Zuhörern die
Entscheidung. Und wer wolte da nicht aus der Stärke seiner Gründe
auf der einen Seite herausbringen, welches seine w[are] Meinung
sei. — 31,10

Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Güte, mit welcher Sie Sich nach
meiner eignen Beschäftigung erkundigen, durch die Freimütigkeit
erwiedern darf, mit welcher ich Ihre Fragen beantworten wil. Aber
vergeben Sie iezt den häufigen [?] Egoism, den ich nicht vermeiden
kan. Ich habe gehört, und höre exegetische Kollegien über den Jo- 31,15
hannes bei M[agister] W[eber], und [über] die Apostel[geschichte bei]
Morus, über Logik und Metaphysik bei Platner, über Ästetik bei
dem[selben], über Moral bei Wieland, über Geometrie [und] Trigono-
metrie bei Geler, über des Philo’s Brief an den Kaius bei Morus, und
über die englische Sprache bei [Hempel]. Wenn ich Ihnen sage, was 31,20
ich eigentlich [?] studire, so werden Sie den Grund finden w[arum] ich
gerade [?] diese Kollegien gehört habe. Die Sprachen sind iezt meine
liebste Beschäftigung; blos deswegen weil ich für gewisse W[erke?]
mer Liebe bekommen habe. Es wird mir schwer Ihnen gewisse Dinge
zu sagen, da sie sich one den Schein von Stolz und Pralerei kaum 31,25
sagen lassen: aber es wird mir leicht sie zu sagen, wenn ich mich er
innere, daß Sie mich zu gut kennen, um da mich stolz zu ver[muten], wo
ich’s nicht sein kan, oder da zu finden, wo man’s blos zu sein scheint.
Ich habe mir die Regel in meinen Studien gemacht, nur das zu
treiben, was mir am angenemsten ist, für was ich am wenigsten 31,30
ungeschikt bin, und was ich iezt schon nüzlich finde oder halte. Ich habe
mich oft betrogen, wenn ich dieser Regel gefolgt bin: allein ich hab’ es
nie bereut, in einen Irtum gefallen zu sein, der................. Das
studiren, was man nicht liebt, das heist, mit dem Ekkel, mit der Lang
weile und dem Überdrus kämpfen, um ein Gut zu erhalten, das man 31,35
nicht begert, das heist, die Kräfte, die sich zu etwas anderm geschaffen
fülen, umsonst an eine Sache verschwenden, wo man nicht weit komt,
und sie der Sache entziehen, in der man Fortgänge machen würde. 32,1
„Aber eben dadurch verdienst du dein Brod“ [ist] der elendeste Ein
wurf, der gemacht werden kan. Ich wüste keine Sache in der Welt,
durch welche man sich nicht Brod erwerben könte. Ich wil das ver
schweigen, daß der nie weit komt, der sich in seinen Studien blos die 32,5
Erwerbung eines notwendigen Bedürfnisses zum Endzwek sezt —
„allein in dem einen mer, in dem andern weniger!“ Dies zugegeben; so
weis ich nicht, ob ich in dem mein Brod erwerben werde, wozu ich keine
Kräfte füle, keine Lust empfinde, und in welchem ich also nur wenig [?]
Fortgänge mache, oder in dem, in welchem mich mein Vergnügen 32,10
anspornt, [mir] meine Kräfte forthelfen........ — Man mus ganz
für eine Wissenschaft leben, ihr iede Kraft, iedes Vergnügen, ieden
Augenblik aufopfern, und sich mit den andern nur deswegen be
schäftigen, insofern sie der unsrigen einen Fortgang verschaffen. Und
entgeht mir durch die sond[erbare] Verwiklung von äussern Um32,15
ständen der unbedeutende Nuzzen, der iedem schlechten Kopf sein Ziel
ist, so wird mir das warlich dadurch wieder zehnfach ersezt, daß ich in
der Betreibung meiner Wissenschaft die Selenwollust geniesse, die
[aus] ieder Beschäftigung mit Warheiten quilt, den Reiz empfinde,
den für mich iede Äusserung meiner Kräfte hat, und vielleicht auch die 32,20
Ere geniesse, die ihm über kurz oder lang zu teil wird. Dies ist meine
Verteidigung. Sonst las ich blos philosophische Schriften; iezt noch
lieber wizzige, beredte, bilderreiche. Ich trieb sonst die französische
Sprache noch [?] nicht; iezt les’ ich die französischen Bücher lieber als
deutsche Bücher. Der Wiz eines Voltaires, die Beredsamkeit eines 32,25
Rousseaus, der prächtige Stil eines Helvezius, die feinen Bemer-
kungen eines Toussaint’s — alles dieses treibt mich zum Studium der
französischen Sprache. Ich glaube nicht, daß ich lerne; sondern nur,
daß ich mich vergnüge; mit den Eindrükken der schönen Sentenzen [?],
der wizzigen Einfälle, u. s. w. bleibt auch zugleich die Erinnerung von 32,30
der Art, wie sie ausgedrukt [!] wurden, zurük. Ich las den Pope; er
entzükt mich; eben so der Young. Er ist unf[elbar] in der englischen
Sprache noch viel herlicher. Ich lerne sie iezt; und vorz[üglich] um die
vortrefliche Wochenschrift den Zuschauer zu lesen, von der wir im
Deutschen eine elende Übersezzung haben. Die Beredsamkeit des 32,35
Rousseau entzükt mich; ich fand sie im Zizero und Seneka — ich liebe
diese beiden iezt über alles und gäbe ihre Lektüre um keines der besten
deutschen Bücher. Die nach[geamten?] Satiren eines Popes reissen 33,1
mich hin; ich fand [sie] im Orig[inal], im Horaz noch schöner; seine
Kritik der Vernunft ist ein Meister[werk]; Horaz de arte poetica eben
so. Jezt lieb’ ich die lateinischen Autoren; ich habe das dumme Vor
urteil faren gelassen, von welchem ich durch eine ser schlechte Inf[or33,5
mazion] von meinem lateinischen Lermeister bin angestekt worden.
Lassen Sie mich hier eine kleine Ausschweifung über das Lesen der
alten Autoren in den Schulen machen. Was ich sage, kan falsch sein;
allein bei mir war es war. Um einen alten Autor nachzuamen, um
ihn schön zu finden, um ihn zu lieben und sich mit ihm zu beschäftigen,33,10
mus man Geschmak haben.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Leipzig, November 1781. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_17


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 17. Seite(n): 25-33 (Brieftext) und 425-427 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K (Konzept): VIIII. An den Pf[arrer] V[ogel] in Rehau den.. Novemb. i 1: Wahrheit 3,127×. i 2: Nachlaß 3,201 ×. B: IV. Abt., I, Nr. 4. 26,2 fürchtet] aus verabscheut 9 ein] danach gestr. Hauch 10 Athems] vielleicht verb. in Atems 13 nach dem Konsonanten] scheint in vor dem Vokal verb. zu sein (was aber keinen Sinn gibt) 32 Ernesti bis 33 Teutschland] aus Ich bedauere Ernestis Tod 27,2 auf] aus klug 18 mer] danach gestr. in seinem Alter 33 erst] sich erst [scil. um] 28,11 erstaunlich] aus erschreklich 20 Möglichkeit] aus Art 28 was] wo 37 wie die] damit schließt die Seite 29,33 Ihnen Platnern zu malen] aus Platnern zu kennen 35 tiefe] aus gesunde mit soviel Annemlichkeit] aus one [aus ohne aus bei so wenig] Pedanterei 36 soviel] danach gestr. Freiheit 30,14 welchen] aus denen 20 Fast alle] aus Die meisten 32 f. der Professor] aus man 31,5 In seiner] Seine 14 Egoism] aus Egoism 25 da sie] daß one den Schein] aus mit der Vermeidung eines Verdachts 27 vermuten] aus finden 30 was bis ist] aus für was ich iezt die meiste Liebe [habe] 31 halte] aus glaube 32 oft] aus nie 32,33 herlicher] aus besser 35 Die Beredsamkeit] aus Der Stil 33,1 Satiren] vielleicht Satyren danach gestr. und die Bilder 5 von] aus mit

Vgl. 37, 35ff. Vogel hatte kritische Anmerkungen zu Richters Aufsatz „Über die Religionen in der Welt“ geschickt (s. II. Abt., I, 373—378) und um Antikritik gebeten. 26, 3 Nach dem Bibelwort ἔσονται οἱ ἔσχατοι πρῶτοι, die letzten werden die ersten sein; vgl. 61,22 und Grönländische Prozesse, 1. Aufl., I, 91: „Das lezte zuerst.“ Vogel hatte im Postskript von B geschrieben: „Ich bin böse, daß Sie mit dem armen h so grausam umgehen — oder soll ich schreiben umgeen? Wenn Sie das h nicht leiden können — so dürfen Sie nicht parteiisch seyn und das ch begünstigen. Es ist mit dem par ratio; und doch werden Sie nicht haben wollen — daß ich außen auf meinem Brief setze A Monsieur Monsieur Rigter.32ff. Vgl. B: „Der Todt des D. Ernesti ist für Teutschland beklagenswerth. Es werden auch wohl Magisters in Leipzig genug, mit ihren Condolationen in gereimter und ungereimter Prose, um seine Asche herumschwärmen — ob es schon auch Crusianer geben wird, die die beredte Zunge des Teutschen Cicero mit ihren Nadeln stechen werden, unter deren bösen Häufen aber doch Sie nicht seyn werden, wie ich gegründet hoffe..“ Christian August Crusius (1715—75), Professor der Theologie in Leipzig, neigte zum Mystizismus. 27, 20 Young: vgl. dessen Night-thoughts IV, 47ff. 31 Vogel hatte gegen Richters Bemerkung über den Ruhm (18, 36ff.) protestiert: „Ernesti wird auch jenseits des Grabes nicht bedauern, daß er der gewesen ist, der er war. Er wird wenigstens das Vergnügen haben mit seinem Anherrn Cicero sprechen zu können, und sich mit den Geistern Latiens unterhalten.“ 28, 7 qui: es sollte wohl ein lateinisches Zitat folgen. 29, 3ff. Vogel hatte um „recht zuverlässige Zeitungen“ von Bahrdt gebeten; vgl. 19, 2ff. 29, 8–21 Es handelte sich nicht um Palissots Lustspiel „Les philosophes“ (1766), sondern um seine Komödie „Le cercle“, die am 26. Nov. 1755 vor dem darüber sehr indignierten König Stanislaus von Polen aufgeführt worden war. 22f. Joh. Georg Zierlein (? — 1782), „Briefe über die Frage: sagt denn die Vernunft in der That so viel über Gott und seine Eigenschaften als die Bibel?“, Berlin 1780. 26f. Vogel hatte gefragt, wieso Richter von Büchern schon vor ihrem Erscheinen etwas wisse (vgl. 19, 10ff.). 30, 5ff. Über Platners Streitigkeiten s. Ernst Bergmann, „Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts“, Leipzig 1913, S. 66f. 25f. Statt „der Sprachen“ ist möglicherweise „des Spinoza“ zu lesen. 28 Magister: jedenfalls der 31, 16 genannte Weber. 37 Vgl. die Satire über die Verbote der Bücher in den Grönländischen Prozessen (I. Abt., I, 101f.). 31, 1 Vogel hatte gefragt, in welche Klasse Morus zu setzen sei; vgl. 19, 23†. 16 Michael Weber (1754—1833), Dozent der Theologie. 18 Ernst Karl Wieland (1755—1828), Professor der Philosophie. 19 Samuel Traugott Gehler (1751—95), Dozent der Mathematik (nicht der Mediziner Joh. Karl Gehler, wie Schneider S. 226 angibt). 20 Ernst Wilh. Hempel (1745—99), Professor der Philosophie; so ist jedenfalls mit i 1 zu ergänzen, nicht mit i 2 Rogler (Joh. Barth., 1728—91); zwar war der letztere, ein Landsmann Richters, seit 1775 Lektor der englischen Sprache an der Universität Leipzig, aber auch Hempel las über englische Sprache (s. Leipziger gelehrtes Tagebuch auf 1781, S. 83), und Ottos Ergänzung beruht jedenfalls auf persönlicher Erinnerung, s. Wahrheit 3,115. Vgl. auch 133, 30†. 32, 25–27 Exzerpte aus Voltaires „Mélanges de littérature“ und „Mélanges de poësies“ (London 1772—76), Rousseaus „Nouvelle Héloise“ (Genf 1780), Helvetius’ „De l’esprit“ (Paris und Frankfurt a. M. 1768), Toussaints „Moeurs“ (4. Aufl., 1749) in dem Bande „Extraits, Tome I“ (Leipzig 1781). 31f. Exzerpte aus Popes Werken, Altona 1758ff., und aus Youngs „Nachtgedanken“, übers. von Ebert, 2. Aufl., Braunschweig 1768f., im 13. Band und im 1. Band „Schöne Wissenschaften“ (Leipzig 1781). 34f. Vom „ Zuschauer“ (Spectator) lag damals nur die Übersetzung der Gottschedin (1739—44) vor; eine neue von Benzler und Ramler erschien 1782f. 33, 1–3 Der 4. Band von Popes Werken (übers. von J. J. Dusch, Altona 1763) enthält „Satiren und Episteln nach Horaz“, der 1. Band (1758) den „Versuch von der Kritik“ (Essay on Criticism). 6 Richters Lateinlehrer am Hofer Gymnasium war der Konrektor Joh. Sophian Samuel Rennebaum (1746—92); vgl. Schneider S. 65ff. und II. Abt., III, Einl. S. XX. 7–11 Vgl. 335, 7ff.