Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 22. Juni bis 19. Juli 1783.
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[am Schluß Kopie]
Es war einmal ein Nar, der wonte aber in einer Stad, worin
nicht wie in andern Städten viele Narren, sondern lauter Narren
wonten. Die Honoraziores daselbst trugen eine bestimte Anzal
Schellen
an ihren Müzen und auf diese Schellen war ein schöner
Esel geprägt.82,25
Mein Nar muste sich lange Zeit begnügen,
nur Rechenpfennige one
sonderliches Gepräge an seiner Kappe zu
tragen. Endlich war er so
glüklich, durch Unterstüzung einiger
Mäzenen sich auch Schellen zu
kaufen, auf die er für sein Patengeld einen Esel nach dem Leben
stechen
lies. „Wie werden die Leute gukken, wenn sie mich
sehen!“ sagte er, als 82,30
er die Müze zum erstenmale vor
dem Spiegel aufsezte. Er gieng darauf
den ganzen Tag mit dem
neuen Schmuk spazieren und besuchte alle seine
Freunde, auch
sogar einige Feinde; allein es gukte niemand und er
ärgerte
sich ser. Hätte er doch nicht vergessen, daß die Narren eine
Narheit, die sie selbst haben, an andern weder bewundern noch tadeln, 82,35
sondern nur billigen! Sie mus neu sein, um bewundert; oder
fremd, 83,1
um getadelt zu werden. Er gieng in eine andre und bessere
Stad, wo
man das Bild eines Maulesels vorzüglich trug. Diese
Stad liegt nicht
in Utopien, worin eine Stad liegt, die das
Pferd sogar dem Esel vor
zieht. Mein Nar war
kaum so stolz, da er seinen Esel bekam als iezt 83,5
da er ihn
wieder verwarf und die Stelle desselben dem Maulesel an
wies. „Ein herliches Tier! nur schade, daß es sich gleich der
Mode, die
„es adelt, nicht fortpflanzt!“ sagte er. Er wolte
wiederum anfangen,
stolz zu werden; allein er würde bald
aufgehört haben, es zu sein, wäre
nicht ein neuer Entschlus
dazwischengekommen. Seine Mama schrieb
83,10
ihm: „Komm’ auf die Feiertage; aber hör’, puz’ dich ein
wenig
„heraus und bring mir ia deinen schönen Esel mit.“ — Er
antwortete:
„ich komme; aber ich bring einen Maulesel mit, der
mir besonders wol
„läst.“ Er kam also mit dem Maulesel in
seiner Vaterstad an. Der
Superintend [!] sagte
bei seinem Anblik: „der iunge Mensch verachtet
83,15
„die Geistlichen, so ser verachtet er die Esel! Got
bessere sein Herz!“ —
„Und vorher seinen Zwölffingerdarm! sagte
der rote Doktor daselbst,
„der hat mit altem Unrat seinen Kopf
verrükt. Wenn Hippokrates
„nicht Unrecht hat, so wird das Blut eines Esels ihn bald das Bild
„desselben lieben leren.“ — Die
Weiber sagten: „der Mensch ist ein83,20
„affektirter Affe:
denn er hat keinen Esel.“ Alle Bürger sagten: „wer
„keinen Esel
trägt ist ein Esel: dieser Kerl trägt sogar einen Maulesel,
„er
ist also Got sei bei uns ein Maulesel!“ — Der Ergeiz dieses Narren
sog sogar aus Tadel Narung; er war so stolz, eine Narheit zu
haben,
die die Narren tadelten, daß er die ganze Sache seinem
Freunde — 83,25
Örthel schrieb.
Aus dieser Allegorie, die dem Gegenbilde bis auf die kleinste
Biegung anpasset, wirst du die Folgen kennen lernen, die
mein[e]
Tracht mir in dieser Stad zugezogen. Ein Esel bedeutet wie
bekant
den Dummen, und ein Pferd den Klugen; zwischen beiden
steht der 83,30
Nar, der Maulesel, mitten innen. Am 22
Junius.
Du hast mir noch nicht geantwortet, und ich antwortete dir doch
sogleich! Entschuldigt die Länge deines künftigen Briefs nicht deine
Verzögerung, so wird mir die Lesung desselben von der
Befürchtung 84,1
verbittert werden, daß du künftighin, wenn der Raum, wenn die Zeit,
wenn unsre eigne Veränderungen uns
trennen werden, den aus dem
Gedächtnis und endlich aus dem
Herzen verlieren köntest, der dich nie
vergessen und immer
lieben wird. Dan werd’ ich mich in trüben 84,5
Stunden nicht
blos wie iezt in das goldne Alter des Menschen, in die
Kindheit,
die mir mit der Vergangenheit die Gegenwart und oft die
Zukunft
ersezen mus, zurükphantasiren; sondern sogar in die kaum
verflossenen Jugendiare hinträumen, um in dem täuschenden Traum
nochmals die Freuden mit dem Freunde zu wiederholen, der sie gab und 84,10
der mit ihnen beim Aufwachen verschwindet..... Doch dies ist
eine
Grille, deren Möglichkeit zu glauben ich nur durch
folgende Lage
bewogen werden konte. Lese einmal das, was ich
iezt vom Doppel-
maier erzälen werde.
Ein[e] gewisse Piece kam hier unter dem
Titel
„Abhandlung über die von H. Theden bekantgemachte
Spiesglas-
84,15
„tinktur von einem Schüler aus der
Geselschaft warer Naturforscher.
„Amsterdam. 1783“ — heraus, in
welchem die Alchymie und besonders
der annulus Platonis in Schuz genommen
werden. Dumme schreiben
sie dem Fischer zu; Klügere raten aus dem Stil auf den
Doppelmaier.
Wie recht die leztern haben, seh’ aus dem lezten Absaze dieses
Büchel84,20
gens, der so heist: „Und
nun, ihr kleinen mutwilligen Spötter! ist der
„Annulus Platonis
noch immer das Buch, welches nichts als alchy
„mistischen Unsin enthält, oder in welchem er sich wie der Papagai in
„seinem Ringe wiegt? Schlagt an euer Herz und bekent es, daß
euch
„Blindheit oder sonst eine unangeneme
Lage eures Lebens
84,25
„zwingt, so unbesonnen von ihm zu urteilen. Seid
künftighin billiger
„und beurteilt nicht Gegenstände, dazu das
so nötige Licht euch felet,
„solche in ihrem ganzen Umfange zu
erkennen. Prüfet — aber mit
„Vernunft.“ — Nun lese die Note auf
der 23. Seite der Grönländi-
schen Prozesse. Du kanst noch wenn
du wilst die Rezension des 84,30
annulus in der A. D. Bibliothek lesen. Ich bin zu vol um mer
darüber
zu sagen. Nur mus ich dir bekennen daß die erste Empfindung
beim
Durchlesen dieser Stelle — Vergnügen war.
Den 2 Jul.
Endlich ist dein Brief gekommen; freilich lang für den, der ihn 84,35
schrieb, aber immer kurz für den, der ihn liest. Nur weis ich
nicht,
warum du, gleich einer iungen Witwe, einen frölichen
Brief schwarz 85,1
gesiegelt. Ich folge meiner Regel, die ich dir
neulich mitgeteilet die
du aber nicht befolget, und beantworte
ihn gleich, nachdem ich ihn
kaum vielmal gelesen. Da du über den
meinigen etwas Lügen mit
vorgebracht; so
möcht’ ich dir fast folgen und von dem deinigen die 85,5
Lüge
sagen, daß er mir nicht gefallen. Mit der Lüge far’ ich vielleicht
besser als mit der Warheit, die gleich den Musen sich der
Naktheit
schämt und für die ich doch die seidne Einkleidung nicht zu
bezalen
〈kaufen〉 im Stande bin. Du hingegen verstehst dich aufs
Loben so
gut, daß immer der halbe Teil auf den Lobredner wieder
zurükfält und 85,10
der Priester geniest den Weihrauch besser
als die hölzerne Gotheit;
dein Lob verhült seine Reize in ein Kleid, das dem Tadel welche
leihen würde, es schmekt dem Gaumen eben so gut als der Nase
d. h.
dem Geschmak und der Eitelkeit. Was kan aber der arme
Satiriker?
nichts als Gestank um sich verbreiten; er kan gleich
den Vögeln, die 85,15
nicht singen, d. h. gleich dem Papagai
etc. nichts als schimpfen und
seinen Hern einen Spizbuben und
die Madam eine Hure nennen.
Schilst du diese Warheit
Schmeichelei, so geb’ ich dir, gleich dem Echo
zu Oxford, den
Vorwurf vervielfältigt zurük. — Ich schmeichele z. E.
nicht, wenn ich den Saz in deinem Brief „der Docht kan dem Öle
keine 85,20
„Narung geben“ zum Beispiel einer glüklichen Kürze
anfüre, die wie
ich schon oft gesagt, nicht in Zusammendrängung
der Worte, sondern
der Gedanken besteht: denn dies Lob loben
heist weniger geschmeichelt
als es geben. — Mir fält immer
Voltaire ein, der alle grosse Männer
tadelte, weil er sie beneidete, und alle iunge Leute lobte, um
sie nicht 85,25
beneiden zu dürfen; er gieng mit
Geisteskindern um wie Zauberer mit
leiblichen, er lobte sie, um
sie zu töden. —
Allerdings hemt das heftige Bestreben einer Kraft ihre Tätigkeit;
aus einem physischen und psychologischen Grunde. Die Bewegung
des Nervengeists vergrössert sich verhältnismässig durch
dein Bestreben, 85,30
bis zu einem Grade, wo die Lebhaftigkeit
der Ideen in Unordentlich
keit derselben
übergeht. Ein wenig Opium spornt die Nervengeister
zum Trabe
höchstens zum abbrevirten Gallop, und geschwinder
dürfen unsere
Pegasusse nicht gehen; denn iagst du sie durch mer Opium
in den
langen Gallop, so stürzen sie die Phantasie, die sie tragen solten.85,35
Daher macht die Erweiterung des Weinglases aus dem aufgewekten
Geselschafter den trunknen. Daher bist du nach dem Genusse
einer
starken Porzion Kaffe nicht sogleich des Denkens fähig,
sondern erst 86,1
nach einigen Stunden: die Unordentlichkeit deiner
Lebensgeister mus
sich nämlich zu geordneter Lebhaftigkeit abschwächen. — Aus einem
psychologischen
Grunde: das heftige Bestreben, eine Sache gut zu
machen, raubt
seiner eignen Genugtuung einen Teil der Aufmerksam86,5
keit und deine Ideen dienen zweien Hern, dem Willen und der
Phanta
sie auf einmal; natürlich daß
alsdenn die geteilte Kraft schwächer
wirkt. Überhaupt hindern
alle Leidenschaften das Denken; und nur
einige können es
anfangen, aber weiter reicht ihre Nüzlichkeit nicht;
sie können
gleich dem Wind das Licht anblasen, allein wenn sich dan 86,10
ihre Heftigkeit nicht bricht, so machen sie das Licht geschwinder ver
brennen oder löschen es wieder aus.
Den 4. Jul.
Ich habe dreimal eingetunkt, eh’ ich auf den Einfal kommen konte,
dir es zu melden. Ich bin so schläfrig, daß ich nicht einmal was
Dum86,15
mes sagen mag — diese zwei
Zeilen ausgenommen. Ich fürte vor dem
Sprichwort „aller Anfang
ist schwer“, alle meine Ideen, wie Got vor
dem Adam alle Tiere,
vorbei, um für dasselbe unter ihnen eine Frau
d. h. ein Gleichnis auszukiesen; allein ich fand so wenig eine,
wie Adam,
der sich mit seiner Ribbe muste kopuliren lassen und
der genötigt war,
86,20
mit seinem Körper die Frau zu zeugen, eh’ er die Kinder
zeugen konte;
der erste Mensch pflanzte sich da noch wie die
Polypen durch Ab
schneidung fort. — Was tue
ich nun, um mich aus dem Schlafe aus
zumuntern? Ich wil stat einen troianischen Pegasus zu schnizen, einen
Nürnbergischen machen, dessen ganze Harmonie im Schwanz
86,25
wonet — d. h. ich wil die Einbildungskraft ruhen lassen
und nur
Epigrammen drechseln, deren ganzer Wert sich in den
Schwanz
konzentrirt. Voltaire überschikte dem König in Preussen
in iedem
Briefe einige frischgebakne Änlichkeiten zwischen dem Helden
und
Gelerten. Ungeachtet nun der alte Man seinen Saugrüssel in
iede 86,30
Falte einer so wizreichen Blume geschossen, so
lasse ich mich doch von
einer Nachlese dadurch nicht
abschrekken. Übrigens mag das Beispiel
eines solchen Dichters
der ganzen Pointenkrämerei zu einigem Wert
verhelfen, so wie
in England der Kopf eines Helden (nach dem Bericht
87,1
Young’s) die spizigen Nadeln den Käufern
anpreiset. Die Pointen
schikken sich eben wie die Nadeln am besten für die Weiber; ein
Wiziger
handelt höchstens mit schneidender Ware, aber ein Genie ver
handelt die Begriffe en gros. — 87,5
Du — ich meine nicht dich, sondern den König in Preusen — reitest
sowol auf dem Pegasus, um zu dichten, als auf dem Buzephal, um
zu
siegen und springst gleich den englischen Bereitern, die ich
mit Örtheln
in Leipzig sah, von einem Gaul behende
auf den andern — — Deine
Hand ist mit Dinte und Blut zugleich beflekt und hält bald den
Degen 87,10
bald das Federmesser — Gleich den Bienen, giebst
du mit deinem
Munde Honig, aus alten Dichtern gesogen, und mit
deinem Helden
stachel Schmerzen oder Tod —
Du mist Sylben und Soldaten und
zwingst deine Truppen und deine
Verse unter eine gleichstrenge
Regelmässigkeit — Du gleichst
dem Adler, wenn dich deine Flügel gegen 87,15
den Phöbus
tragen und gleichst ihm, wenn du deine Klauen auf die
Bewoner einer niedrigern Sphäre herunterhäuest — Du bist bald
ein Raubvogel, bald ein Sangvogel — Du singst wie die,
welche du
besiegest und entdekst am Ende der Schlacht den
Rükzug so glüklich
wie am Ende des Verses den Reim. etc.87,20
Den 5. Jul.
Ich bin mit dem lezten Absaze nicht ser zufrieden; allein durch
strichen würde er diesen Brief so gut entstellen als iezt
undurch
strichen. Ich schrieb ihn
gestern, um etwas besseres schreiben zu
können und um aus dem
Selenschlafe, den uns manche Theologen erst 87,25
nach dem
Tode drohen, aufzuwachen; allein ich schlief dabei so fest
ein,
daß du gewis auch mein Gänen wirst akkompagniret haben.
Kinder
des Schlafs werden Väter des Schlafs. — So was nenn’ ich
Hausmanskost — denn warlich du bekomst meine Briefe (selbst das
französische Postskript) aus der ersten
Hand, und ich mundire sie zwar
87,30
alzeit, aber nicht für dich, sondern für mein
Korrespondenzbuch — aber
bei deiner
Hausmanskost fält mir deine Frau Mutter ein. Sie
bedauerte neulich, da ich sie um elf Ur überraschte, daß sie
mich blos
mit Hausmanskost abspeisen könte. Die Hausmanskost
bestand nämlich
in Reis, Rindfleisch mit Rosinen, etwas kalte
Fische und beinahe nur 87,35
soviel Braten, daß man sat hatte;
den Wein des h. Abendmals (das
Gleichnis verwandelt das Mittagsmal in ein Abendmal, so wie 88,1
umgekert die Christen das Mal, das Christus zu Nachts einsezte,
in
eine Mittagsmalzeit, oder fals man wie die Pariser um 5. zu
Mittage
isset, in ein Frühstük umgewandelt und transsubstanziret) also
den
Wein des h. Abendmals rechne ich nicht: weil ich gleich den
Katholiken88,5
keinen dabei trinke und ihn wie sie schon im
Esbaren existirend
glaube..... Ich vergesse über meinen Brief
beinahe deinen. — Das
Dasein des neusten Buches gegen das
Christentum hatte mir neulich
schon Seiler bekant gemacht; nur den Titel desselben nicht, weil
er ihn
nicht wuste. Ich verspreche mir von allen solchen Büchern nicht
viel 88,10
Neues; die Materie hat sich unter der Behandlung
so scharfsinniger
Männer als fast alle Gegner der christlichen
Religion gewesen, völlig
erschöpft. Allein die Wiederholung der
Gründe härtet doch wenigstens
den Lesepöbel gegen das
Anstössige in der Sache ab; vielleicht daß die
Wiederholung der
Antworten in etlichen Jarhunderten das Christen88,15
tum umsonst vom Schiksale andrer Religionen wird zu retten
ver
suchen. Weist du was für neue
Religionen noch nach unserm Tode das
Licht der Welt erblikken
können? Das Christentum trieb seinen Gipfel
zwischen den Ruinen
des Judentums hervor; warum solte es nicht
ebenfals einer neuen Pflanze zum Boden dienen können? … 88,20
Über deine eigne Anklage in Rüksicht des Stolzes mus ich was
sagen. Erstlich geh’ zum Doktor und las dir eine Purganz gegen
übertriebne Demut verschreiben. Blos dein Unterleib macht alle diese
Pasquille auf deinen Kopf. Im Ernste: deine übertriebne
Gering
schäzung deiner selbst ist eine
der gewönlichen Folgen der Hypochondrie; 88,25
der
Hypochondrist sieht alle Gegenstände in Halbtrauer, und sich in
ganzer. So hast du z. B. der übermässigen Reizbarkeit deiner kränk
lichen Nerven die grosse Bewunderung
anzurechnen, womit dich der
Genus geistiger Schönheiten
erfüllet: denn ich wolte fast wetten, daß
dir in derselben
Wochen [!] dieselben Dichterschönheiten zu
ver88,30
schiednen Zeiten unter
entgegengesezten oder wenigstens unänlichen
Seiten erscheinen
werden. Die Empfindung geistiger Unvolkommen
heit erreicht bei dir ihren so hohen Grad nur durch die heim
lich sich eindrängende Empfindung der körperlichen
Unvolkommen
heit. —88,35
Doch die Sele, der Adam, hat auch etwas Schuld an dem Genus
des Apfels, den ihm die Eva gegeben. — Stolz bist du nicht:
denn sonst
würdest du mit deinem eignen Wert zufrieden sein und fremden
über89,1
sehen; aber ergeizig in einem solchen
Grade, daß dir das, was du bist,
in Vergleichung mit dem, was du
sein möchtest, unendlich klein vor
kömt.
Deine Demut rürt also von deinem Ergeize her. Dieser leztere
verursacht ferner, daß du dich um die Achtung andrer soviel be89,5
kümmerst, und denselben durch die Narung, die
ihm andre geben, für
die schadlos zu halten suchst, die du
selbst ihm (wegen deiner Kränklich
keit und
wegen seiner eignen Grösse) nicht giebst. Die fernere Folge
von
diesem allen ist Neid. Allein Unwillen über den Mangel von
Volkommenheiten, die man an andern bemerkt, ist von der Einrichtung 89,10
der menschlichen Natur, die wie Kinder im Gängelband, immer
schon
lange das Bein zu einem künftigen Schrit aufhebet, völlig
unzertrenbar
und dieser Neid, der fremde Volkommenheiten nicht
zu vertilgen
sondern nur zu erreichen sucht, ist one Tadel und
eine Wirkung des
Ergeizes. Allein der felerhafte Neid, der
weniger Nachamer als 89,15
Zerstörer fremder Vorzüge ist und
dem weniger an der Volkommenheit
als am Lobe derselben, gelegen
ist, entspringt aus der Eitelkeit, die um
nichts als fremde
Achtung bult und die die Verweigerung derselben
durch
Hinwegname der Ursache, nämlich der Volkommenheit zu ver
hüten sucht. Der Eitle sucht durch Verschlechterung seines
Nebenbulers 89,20
denselben zum Bewunderer zu erniedrigen und
sich zum Bewunderten
zu erheben. Ein solcher Eitler sucht die
Volkommenheiten solcher, die
ihn nie loben können, nicht zu
verkleinern und er wird den Toden
und den Ausländern, aber
nicht denen, die ihn kennen, ihren Wert
gönnen. — Got beware
mich, mit diesem leztern nur von ferne auf 89,25
dich gezielt
zu haben; dein Ergeiz macht dich nur der bessern Nach
eiferung fähig. Wenn ich vorher werde gesagt haben, daß die
Ein
samkeit nur stolz, und die
Geselschaft nur eitel mache, so wil ich sagen,
zu was sol aber
dieses Geschwäz? — Einen Teil desselben hab’ ich
von mir
abstrahirt — (das Wort abstrahiren, abziehen, erinnert mich 89,30
an die Schlangen, die ihren Balg abstreifen, aber dafür gleich
den
Menschen, einen neuen treiben) und ich danke Got, daß der
Stolz
meinem Ergeiz wenigstens das Halbgewicht halten kan. Doch
kan
ich mich gegen den Neid noch überdies durch den Gedanken
ver
waren, wie wenig der Rum und der
Gegenstand desselben, der Lorber 89,35
und der Kopf den
[?] Neid verdiene. Was ist z. B. der
Wiz? ein
elendes Ding.
Den 19. Jul.
90,1Tausend Hindernisse unterbrachen mein Pasquil auf den Wiz,
welches iezt noch fortzusezen sein Stiefbruder, der Verstand, nicht
Willens ist; auch würd’ ich dadurch nur meinen Brief und mein
Stil
schweigen zugleich verlängern. Du
hast Recht in deinem lezten Brief, 90,5
meine Nachlässigkeit
mit einem sanften Fächerschlage zu bestrafen;
allein ich bin
eigentlich nicht im Briefschreiben sondern nur im Brief
schikken nachlässig und ie länger du von mir nichts gelesen,
desto mer
bekomst du aufeinmal zu lesen. So fastet man am
Bustage, alle in wenn
man isset, isset man mer als sonst und
beschliesset die Enthaltsamkeit 90,10
mit Schwelgerei, die
Tugend mit dem Laster, sowie die Schwindsucht
in Wassersucht
auszuarten pflegt. Ich gehe gern aus einem Gleichnis
in das
andre über, wie die schlechten Organisten aus einem Ton in den
andern fallen; allein das Ende des Präludiums weiset sie und mich
doch wieder in den Ton des prologirten Lieds zurük. Ich war dir
schon 90,15
einen Brief schuldig; und gestern bekam ich durch
die Post von dir den
andern geliehen, so wie auch Geld. Apollo
hätte mir nicht mer auf-
einmal geben können, der nach Popes Ausdruk
Wiz und Gold reifet.
Beiläufig das Zeichen des Phöbus ist in der Chemie auch das
Zeichen
des Goldes; und wirklich solte Wiz und Geld immer wie Körper
und 90,20
Schatten unzertrenbar sein, da zumal auf das Geld
von Fürsten blos
der Kopf geprägt wird.
„Aber sonst grub man ia in die Münzen das
Bild der Dumheit,
einen Ochsen!“ Leider! und auch iezt; doch hat man
schon den
Rumpf weggelassen. — Beinahe möcht’ ich doch mein Stil
schweigen entschuldigen, damit es nicht der Waffenträger des
deinigen 90,25
würde. Alle Tage ziehe ich mein Buch mit
meinen chirurgischen
Instrumenten etliche Linien weiter aus seiner Umhüllung heraus;
allein
ich gebäre länger als ich trage und das Kind wächst
immer grösser in
der ewigen Geburt, die noch nicht zu Ende ist.
Die Nachgeburt sind
Briefe, die ich iezt bald da bald dorthin
an dumme Leute zu schreiben 90,30
habe, welche gleich den
Jakuten, die Nachgeburt, aber nicht das Kind
verz[eren] — mögen
oder können. Meinem Wiz hätte ich sonach durch
diese Anmerkung
ein gültiges Testimonium Paupertatis gemacht,
wodurch er von
dir erhielte, daß du für ihn in deinen Briefen gratis
läsest.
Nim es also nicht übel, wenn ich dir von einem fliessenden 90,35
Talglicht, das sich in
[un]aufhörlicher Erleuchtung das Leben
ab
frisset, nichts als das abgekrazte
Fet, welches in den Leuchter herunter
geträufelt, frankirt nach Leipzig schikken kan. Ich füle bei
meiner
91,1
Sysiph[us] Arbeit zwar
nicht Erschöpfung aber doch Ermüdung und
wenn gleich der Brunnen noch nicht ler ist, aus dem ich pumpe,
so
wird doch der Arm müde, mit dem ich pumpe. Vom hiesigen Volke
mag ich dir nichts schreiben und es dir nicht einmal mit dem
Storch91,5
schnabel in Miniatür
abzeichnen. Bist du nach der Silhouette eines
Esels begierig?
oder ist es Verdienst, ein Tier zu schlagen, das ieder
Eselsiunge schlägt? Und doch war ich vor einiger Zeit Willens, den
Midas zu meinem Pegasus zu machen. Ich wolte nämlich beim
hiesigen Buchhändler etliche Bogen drukken lassen, vor deren
Ver-
91,10
fertigung mir aber iezt ekelt. Denn
wie wenig würde der Rükken, den
plumpe Prügel kaum rüren, für
eine Reitpeitsche empfindlich sein. So
hält z. B. der H.
Kaufman Köl[er] wenig von den Skizzen „weil
man,
um ein Wort zu verstehen, erst eine Stunde sizen mus“ und das
einzige
Lob, welches mir bei ihm mein Buch einträgt, ist, daß
ich ein Irgeist 91,15
bin. Ich würde dir die erste Hälfte
dieses Urteils, fals es aus einem
klügern Munde gekommen wäre,
aus Bescheidenheit verschwiegen
haben; allein die Höfer sind so
dum, daß es nicht nur keine Ere ist, von
ihnen nicht verstanden zu werden, sondern auch die gröste
Schande
wäre, wenn man es würde. Mit dem Pfarrer in Rehau bin
ich ein
91,20
wenig zerfallen und bei ihm seit meinem Hiersein nur
einmal gewesen;
die Ursache davon verdient nicht geschrieben,
sondern kaum gesagt zu
werden. Die übrige Beantwortung deines
Briefs solst du von mir
nicht lesen, sondern hören. Bald werd’
ich an dem Orte sein, nach dem
ich mich sogar senen würde, wenn ich dich da nicht anzutreffen
fürchten91,25
müste. Ich mus bald in das Paradies, das ich
sobald verlassen werde,
das du sobald verlassen wirst. Die
Zeit, die uns unsrer Trennung ent
gegenreist, braucht keiner neuen Flügel; und wir müssen uns nicht
vorher trennen eh’ uns das traurige Schiksal trent.
Hätt’ ich merere Köpfe wie G[eryon] und
merere Hände wie
91,30
Briareus oder wenigstens den Kopf und die Sekretaire des
Zäsars, so
würdest du stat eines Briefs 7 bekommen und du würdest deine
Ver
zögerung, sie zu beantworten,
wenigstens mit der zeitfressenden Lesung
derselben
entschuldigen können, stat daß du iezt deine Briefe so weit
läuftig schreibst, wie künftig deine iuristischen Arbeiten
und das [?]
91,35
Sterlingsgold, das du nach der iuristischen Terminologie
Scheide
münze nenst, zur Breite eines
Bogens schlägst. Deine Lustigkeit freut
meinen Kopf und mein
Herz; überhaupt verwechsle nicht Selbst92,1
kentnis mit Selbstpeinigung und wenn du dich selbst zu sehen meinst,
so erinnere dich an die Leute, die auch sich selbst zu sehen
meinen; allein
die Schrekgestalt ist nicht sie selbst, sondern
ein Gespenst. — Liskov ist
ein herlicher Satiriker, er übertrift Rabnern und erreicht
Swiften;
92,5
von ihm hab’ ich eine bessere Ironie gelernt, die ich
meinen gedrukten
und meinen schon abgeschriebnen Sachen geben zu
können gewünscht
hätte etc.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 22. Juni bis 19. Juli 1783. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_51
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 6 S. 4°; Schluß (von 89 , 34 [über]dies an) fehlt. K: 17 [aus 14]. An Örthel. Den 22. Junius. (Die einzelnen Absätze wie in H datiert. Vgl. 87, 30f.) i (z. T. J)1: Wahrheit 3,206. 232. 252. 355×. i (z. T. J)2: Nachlaß 2,272×. B: IV. Abt., I, Nr. 16. A: IV. Abt., I, Nr. 21. 82,22 worin bis 24 wonten.] worin lauter Narren wonten, stat daß in andern nur viele wonen. K 83,4 in] aus weit von H, weit von K 9 werden] aus sein H 15 Superintend] so auch mehrfach in den Grönländischen Prozessen und in Vogels Briefen und „Raffinerien“! 19 das Bild] aus den Kopf H 21 affektirter] nachtr. H 23 Got sei bei uns] nachtr. H 27 Gegenbilde] aus Bilde H 30f. der Nar] aus die Narheit H 84,4 köntest] aus wirst H 12 zu] davor gestr. geglaubt zu haben ich [aus du] vielleicht H Lage] aus Neuigkeit H 19 sie] aus es H 34 2] aus 3 H 85 , 5 dem deinigem aus deinem H 11 geniest] aus riecht H 18 Warheit] aus Stelle H 23 geschmeichelt] aus schmeicheln H 33.35 Gallop] aus Galop H 35 stürzen sie] aus stürzt H 37 trunknen] aus betrunknen H dem Genusse] nachtr. H 86 , 5 seiner eignen Genugtuung] aus der Genugtuung desselben H 25 nürnbergischen K 32 einer Nachlese] aus der Wiederholung H 87 , 3 ein Wiziger] danach gestr. ist ein Galanterie[warenhändler?] H 4 Genie] aus Denkender H 6 Preussen K 12 mit] aus aus H 13 mist] aus missest H 19 entdekst] aus findest H 29 bekömst K 32 Fraumutter K 88 , 4 transsubstanziret] aus transsubstanziaziret H 26 Hypochondrist] aus Hypochonder H 89 , 16 Zerstörer] aus Feind H 17 derselben] aus davon H 19 nämlich der Volkommenheit] aus woraus sie entsteht H 20 Nebenbulers] davor gestr. — wie oft nur scheinbaren — H 27 werde gesagt haben] aus gesagt habe H 34 [über]dies] von hier ab nach K 36 der Kopf den] den Kopf der K (i 1 und i 2 lesen um den Kopf) 91 , 2 Sysiph.] aus Sisiph. K
83 , 15 Superintendent in Hof war seit 1774 Joh. Christoph Weiß; vgl. 173, 4ff. 17 der rote Doktor: vgl. 107, 7†. 84, 19 Fischer: Apotheker in Hof, vgl. 35, 30, 141, 30f. 30f. Rezension des Annulus: Allg. D. Bibliothek, 47. Bd. (1781), I, 155; Richter hatte vermutlich nur diese gelesen. 85, 2 neulich: 78, 17f.; vgl. B: „Du sagst: man sol die Briefe gleich nach dem Lesen beantworten. Ja das glaube ich ist bei Dir wahr, es ist es auch für mich, wenn ich die Briefe eines andern, aber nicht wenn ich die Deinigen lese. Sie sezzen mich in Flammen, die meine Gedanken verzehren, wie der Mond durch die Sonne erbleicht. O lieber Richter wie viel Dank bin ich Dir schuldig, daß Du meine Briefe liest und mir so schöne schreibst. Sie verdienten es grösseren Männern Freude zu machen. Mein Herz ist so dankbar dafür, daß es Dir Gleiches mit Gleichem zu vergelten wünschte, aber die Kräfte sind zu schwach und mein Stolz, der Dir nichts gern schuldig zu bleiben wünschte und mir zugleich ihre Grösse zeigt, stürzt mich oft in Verzweiflung...“ 26f. Vgl. I. Abt., I, 170, 16–18. 86, 24–28 Vgl. II. Abt., II, 65,27ff.†. 28ff. Vgl. Vorschule der Ästhetik, § 44 (I. Abt., XI, 160,19ff.). 87, 6–8 Vgl. I. Abt., I, 207,4f. 88, 8 Buch gegen das Christentum: vielleicht „Über Pfafferei und Religion, Duldung und Religionsvereinigung, hauptsächlich die Protestanten betreffend“, Leipzig und Wien 1783 (von Heinrich Keller). 9 Seiler: Buchhändler in Leipzig, vgl. Nr. 103. 90, 31 Jakuten: vgl. II. Abt., II, 43, Fußnote. 91, 10 hiesige Buchhändler: Maier, der die Buchhandlung des verst. Vierling (s. 47, 22) übernommen hatte, vgl. Nr. 173 und 159, 21ff.; der Aufsatz, den Richter bei ihm drucken lassen wollte, war vielleicht die Satire über Existenz des Teufels (II. Abt., II, 271—339), die dem Titel zufolge im Vierlingschen Verlag gedruckt werden sollte. 13 Wohl der spätere Bürgermeister Köhler, s. Nr. 161†.