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Korrespondenz

Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 13. Februar 1785.

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150,1
Hof den 13 Febr. 85.

Mein Örthel,

Ich habe dir wenig zu schreiben, aber ich wolte den Brief an die
Weinertin nicht ganz ohne Begleitung lassen. Dieser Brief enthält die 150,5
Nachlese von den vorhergehenden.


Dein H. Vater sagte mir neulich, daß er dich auch auf Erlang noch
lassen wolte: du würdest Mühe haben, ihn von diesem Entschlusse
abzubringen.


Der lezte Sommer, den wir mit einander hier verleben wolten, sol 150,10
für uns recht viele Galatage haben und beinahe aus lauter Flitter
wochen,
(stat daß iezt uns Zahlwochen peinigen) bestehen. Viel
leicht wird dir dan hier nichts fehlen als der — Herman, den dir niemand
ersezen kan. Ich werde wol nicht eher ruhen als bis ich mich mit
ihm verloben dürfen: denn ich glaube, Montaigne hat doch nicht 150,15
ganz Recht, wenn er meint, man dürfe nur soviele Freunde als Weiber
nehmen. Wenn (ich komme von einem aufs andere; aber du wirst mir
die fliegenden Gemsensprünge meiner Phantasie so gern verzeihen als
den ziehenden Faulthiergang meines Briefstils) wenn nicht Ähnlichkeit 151,1
des Kopfes, sondern blosse Ähnlichkeit des Herzens die Freundschaft
machen können sol: so fehlet hier doch noch manches. Blosse gegen
seitige Tugend kan Hochachtung erregen, aber eine Vereinigung wie
zwischen Montaigne und Boethie stiftet sie wol schwerlich. Wenn ich 151,5
einen fragte: warum liebst du nicht lieber dieses Mädgen, das wenig
stens eben so schön, gut und klug wie das ist, an dem du hängst: so
würde er mir nichts zu antworten wissen; ich aber würde an seiner stat
sagen: mit der Liebe ists wie mit der Freundschaft und wie mit allen
Empfindungen, die auf tausend unsichtbaren und im freien schwebenden 151,10
und fliegenden Fäden ruhen. — Platner empfiehlet eine gewisse feine
und höfliche Zurükhaltung, eine gewisse Etikette in der Freundschaft
und warnet vor grosser Vertraulichkeit: du wirst aber gewis fühlen,
daß diese Regel auf Montaignes Freundschaft gar nicht passet: passet sie
freilich auf die gewöhnlichen, so ist es ein Beweis, daß sie wenig taugen151,15
und daß Freunde, die zu diesem wolthätigen Betruge ihre Zuflucht
nehmen müssen, entweder viele Fehler haben, von deren Verlarvung
die Dauer und der Grad ihrer Freundschaft abhängt, (d. h. also ihre
Liebe hat Vorzüge zum Gegenstande, die beide gar nicht haben)
oder sonst Volkommenheiten an einander wenig genug kennen, um 151,20
nicht sich zu weigern, dafür Fehler zu übersehen.


Ich komme von der Freundschaft, nach einer bekanten poetischen
Figur, auf die Hofleute und erzähle dir eine schöne Anekdote von
einem. Unter dem vorigen Margrafen [!] war einmal ein Hofman,
der hatte einen schönen Hund. Der schöne Hund war einmal mit dem 151,25
Margrafen und seinem Hern und vielen Hofleuten in Einem Zimmer
und lies seinen Urin ans Bein des gedachten Margrafen. Die ganze
stehende Armee desselben fiel iezt mit Waffen über den Hund her;
besonders that sich unter denen, die ihn hinausprügelten, sein Herr
hervor. Zulezt gieng auch der Margraf den Weg des Hundes und sein 151,30
Herr hielt an die Anwesenden folgende Rede: „Wenn ich ie etwas
„gethan habe, was eines ächten Hofmans nicht ganz unwürdig ist, so
„war es iezt. Der Hund, den wir mit einander hinausprügelten, ist
„mein: ich habe kein Weib, kein Kind, keinen Freund; aber den Hund
„hab’ ich stat des allen und lieb’ ihn. Sehen Sie indeß, da der Hund 151,35
„in die Ungnade meines Fürsten fiel — so kant’ ich ihn nicht mehr und
„schlug ihn mit.“


Mein voriges Geschwäz sagte dir nichts, was du nicht wustest; aber 152,1
wenn ich dir das nicht sagen sol, was du schon weist, warum sagst du
mir so oft und ich dir, daß ich bin dein Freund R.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 13. Februar 1785. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_93


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956. Briefnr.: 93. Seite(n): 150-152 (Brieftext) und 459-460 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 3 S. 4°. J 1: Wahrheit 3,390. J 2: Nachlaß 2,307×. 150,10 lezte] nachtr. 18 fliegenden] nachtr. 39 nimt] aus gewint 151,6 f. wenigstens] aus vielleicht

150, 15–17 Montaigne: Essais I, 27; vgl. I. Abt., II, 144,4f., IV, 295,9, X, 224,14. 19ff. Morlakken: vgl. I. Abt., VI, 58,17–20, IX, 352, 19f., II. Abt., III, 368,16–20 (wo die Quelle angegeben ist). Schon Hamann vertrat die Anschauung, daß keine Freundschaft ohne Sinnlichkeit sei, s. dessen Schriften, hgb. von Roth, II, 25. 151, 22–37 Diese Anekdote steht im Deutschen Museum, 1780, II, 260; sie wird auch in den „Mixturen“ (s. zu Nr. 118), S. 168, erzählt, wahrscheinlich vom Aktuar Vogel. Der vorige Markgraf ist Friedrich Christian von Ansbach (1763—69).