Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Schwarzenbach a. d. Saale, 9. März 1785.
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155,1
Ich bin, wie du siehest, nicht in Hof: gleichwol mach’ ich mir diese
Gelegenheit 〈Erlaubnis〉 zum Stilschweigen nicht zu Nuze. 155,5
Deinem Einfal: „vielleicht wäre (durch deine Gesundheit) einem
„Bewohner des Sirius Abbruch geschehen“ seze ich eine Fabel ent
gegen, deren Ausbildung du mir aber erlassen wirst.
Schwerlich kante
iene Purpurschnekke, von der ich iezt erzählen
wil, die Menschen, die
ihr viel zu gros vorkommen musten, um
ihr nur Riesen zu scheinen und 155,10
die in ihren Augen
Welten sein musten, die sich nicht bewegen: die
Purpurschnekke
konte mithin ihre Verbindung mit dem Menschen so
wenig fassen
als ich oder du die unsrige mit dem Sirius. Indessen
nahm
einmal ein Römer einen Stein und erschmis die Schnekke. Eine
philosophische Schnekke lies einige Trostgründe für unsere
Schnekke 155,15
fallen, die mit den schmerzlichsten
Empfindungen rang und suchte sie
durch die Vorstellung des
wolthätigen Einflusses, den ihr Leiden auf das
Ganze haben
könte, geschikt zu beruhigen. „O! rief das leidende Ge
„schöpf mit einem Spotte aus, den man dem Schmerze gern, aber
„schwerlich dem Voltaire verzeiht, vielleicht wird durch
den Untergang
155,20
„einer Schnekke wol gar eine Welt (sie meinte einen
Menschen) ihrem
„Untergange wieder abgeiagt.“ Und das war auch
wahr. Denn der
Römer hatte sie getödet, um ihr Blut in das
Schreibzeug seines
Kaisers einzuliefern. Dieser unterschrieb damit (mich dünkt,
das Blut,
womit noch iezt Friedenstraktaten unterzeichnet
werden, ist wol nicht 155,25
von Schnekken) eine Schrift,
deren rothe oder kaiserliche Unter
zeichnung einem angeblichen Missethäter das Leben errettete.
— „Aber
„die Vernunftmässigkeit dieser schmerzlichen
Verbindung und Ver
„kettung, gegen die das
offenbare Unvermögen unsers Blikkes, sie
„nach allen Linien
oder auch bis ans Ende einer einzigen fortzuver155,30
„folgen, noch kein Einwurf sein mag, auch zugestanden: was
ist das
„für mich für ein Trost, wenn
ich unglüklich bin, damit es andere
„nicht sind? Höchstens kan
er die beruhigen, die von meinen Schmerzen
„diesen Nuzen
ziehen und deren Glük ich mit meinem Unglük erkaufe!“
Wer über
die Nothwendigkeit, daß seine Leiden die Bedingung eines 155,35
fremden Wolseins sind, unwillig ist: der mus auch die übrigen Auf
opferungen für das Vergnügen des andern
scheuen und misbilligen 156,1
und es mus ihm unbegreiflich sein, wie
einer Zeit, Kräfte und Gesund
heit blos dem
Vortheile eines fremden Ichs geloben könne: indessen ist
diese
ganze Aufopferung sogar noch überdies blos scheinbar und für
das Vergnügen, das mich das Kasteien meiner niedrigern Triebe kostet, 156,5
entschädigt mich die Befriedigung gewis genug, die eben dadurch
der
edelsten Regung, der Menschenliebe, wiederfähret. Und wer
sagt, daß
mein Schmerz die Quelle eines fremden Vergnügens ist:
der sagt
auch zugleich das mit, daß der Schmerz eines andern
wieder die
Quelle eines Vergnügens für mich sein wird; und
dieser wechselseitige 156,10
Einflus
und Tausch der Schiksale erstattet wol zulezt gar auch dem
niedrigen Triebe seine Auslagen wieder. Ich weis, du würdest dich für
einen andern sogar körperlichen Leiden unterziehen: wenn du nun
glauben köntest, daß deine iezigen andern vortheilhaft
sind; würdest
du sie nicht durch eine höhere Rüksicht adeln
und den unfreiwilligen 156,15
Verlust der Gesundheit durch
eine menschenfreundliche Einwilligung, in
eine tugendhafte
Aufopferung verwandeln? — Übrigens habe, wenn
nicht mit der
Hypochondrie, doch mit meiner Trostpredigt Geduld und
ertrage
wenigstens die leztere gesezt: sogar die Beantwortung derselben
mus ich von dir fodern, welche mein lezter poetischer Brief vielleicht 156,20
weniger verdiente.
Es ist hohe Zeit, daß ich dir für deinen Verweis (wegen des Doppel-
maiers) einen ordentlichen Verweis gebe.
Ich wolte wetten, du hast
nach der Lesung meines Briefs über
den Doppelmaier so zu dir oder
zum Herman gesagt: „der Richter
ist doch auch gar zu leichtgläubig und
156,25
„er lässet sich was anders weis machen: sowol in der
Leichtgläubigkeit
„als in der Tracht, da ist er einem
Engländer nicht sehr unähnlich.“
Alle die Schwachheiten, die du an ihm findest, erklären wol
seine Ver
schlimmerung und geben ihr
vielleicht eine verzeihlichere Gestalt: aber
sie bleibt doch
noch immer. Ferner: die Anekdote mit dem medizinischen 156,30
Buche, hab’ ich von keinem Höfer gehört, sondern von einem, der sein
Freund war und dem er das Buch (und noch andern) vorlas. Die
medizinischen Geschichten, die darin vorkamen, waren zum
Theil im
Bezirke seiner Zuhörer vorgefallen, welche über die
Verfälschung der
selben am ersten urtheilen
konten. Endlich ist seine Abhandlung über
156,35
die Alchymie so schlecht nicht, daß ihm ein höherer
Beistand entbehrlich
gewesen wäre. Der Erzähler von diesem
allen ist selbst ein Alchymist:
dieser bekam von
Generalchirurgus Theden in Berlin einen Brief,
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worin ihm gerathen wird, sich iene vortrefliche, von einem
wahren
Adepten geschriebene und mit wichtigen Beobachtungen
gezierte Ab
handlung anzuschaffen. Wenn ich
mit dir selbst sprechen werde: solst
du noch mehr Anekdoten von
ihm erfahren, welche die gegenwärtige 157,5
nur alzu glaublich
machen. — Übrigens marterte ihn seine Frau mit
der Furie der Eifersucht: auch wolte er sie einmal prügeln.
Mich dünkt,
die Wahrheit von diesem allen mus iedem
einleuchten, der auch nur
ein wenig leichtgläubig ist.
Ich möchte dich bald sehen: denn iezt haben wir viele Materie, eh’157,10
wir uns aus reden. — Der Seiler hat mir
nur 1. Brief geschrieben.
Ich hoffe, meine Leute schikken ihm seine rechten Bücher.
—
War mein Manuskript schon beim Keyser in Erfurt?
(Ein gewisser nochlebender Jude in Bayreuth wurde einmal von
einem Konsistorialrath mit der Erdichtung aufgezogen: „die
Türken
157,15
„hätten viel verloren, und um sich eine höhere Gunst zu
verschaffen,
„opferten sie und zwar allezeit einen Juden und
einen Esel mit ein
„ander.“ Der Jude
antwortete: „es ist für uns alle beide gut, daß
„wir nicht dort sind.“)
In Schwarzenbach sagte man, eh’ du deinen lezten Brief schriebst,
157,20
daß du tod wärest: welches ich aber wol nicht glaube,
weil du davon in
deinem lezten mit keinem Worte redest;
indessen köntest du doch in
deinem künftigen nur ein Paar
Worte über den Werth ienes Ge
rüchtes
verlieren. — Lebe wol lieber Geplagter und erscheine oder
schreibe bald deinem Freund R.157,25
N. S. Die Weinertin hat wieder geschrieben, ich weis sie mit nichts
zu besänftigen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Schwarzenbach a. d. Saale, 9. März 1785. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_96
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 4°. J 1: Wahrheit 3,394×. J 2: Nachlaß 2,309×. 155,8 erlassen] aus schenken 30 Linien] aus Seiten 156,27 Engländer] aus Engelländer [?]
155,20 Voltaire hatte im „Candide“ die Rechtfertigung des Leidens in Leibniz’ Theodizee verspottet. 156, 25–27 Über Richters Leichtgläubigkeit beklagt sich auch Hermann in einem Brief an Albrecht Otto vom 23. Januar 1785 (Schreinert S. 32). 157, 1 Johann Christian Anton Theden (1714—97); vgl. 84,15.