Von Jean Paul an Max Richter. Bayreuth, 13. Juli 1821 bis 16. Juli 1821.
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125,29
Nichts wird mir in diesem Jahre bei meiner kränklichen Körper
stimmung sauerer als Briefe zu
schreiben. Auch hilft kein Beantworten;
10 neue sind
wieder da, bevor ich 10 alte nach 10 Wochen beantwortet
habe. Und dann die verwünschten Manuskripte, die 30 mal mehr Mühe126,1
des Lesens kosten als Bücher — ein Trauerspiel aus Pommern
— eines
aus Ungarn — eines aus Berlin — ein Band Gedichte aus
Berlin — noch
ein Heft — dann ein Roman von daher — Und das schreibende
Volk
begehrt gar noch Vorreden und lange Kritiken von
mir. Unbedachtsam126,5
war es daher, mir ein Manuskript,
dessen Sendung ich mir sogar vorher
verbeten hatte, auf
den Hals zu schicken, ob ich gleich das fromme Feuer
deiner Freundschaft und Hülfbegierde dabei recht sehr lobe und liebe.
Ich bin seit 6 Monaten traurig, daß ich so viele
Vorbereitungen —
Plane — Exzerpten — Gedanken — zu lesende
und zu schreibende126,10
Bücher vor mir sehe, wozu 2
Jahrzehende zu klein wären und wozu ich
doch vielleicht
nur X — Jahre mehr übrig habe — Und da soll ich ein
Briefschreiber und Geschäftträger an Buchhändler und gar
ein Vor
redner werden — Max, mit
einem solchen zweiten Antrage komme nie
mehr! Wie gern schrieb’ ich recht lange Briefe an dich
als Vater und an126,15
Voß als Freund! — Die 100 fremden Schreiber in der Welt
umher
denken aber, man habe doch Zeit genug zu Einem Briefe,
nämlich zu
Einem für jeden Einen von den 100. —
Eigentlich bin ich nur mit Cotta
bekannt; aber dieser schlug mir schon so oft, d. h.
allemal den Verlag
fremder Manuskripte ab. Wie könnt’ ich
vollends eine Vorrede zu solchen126,20
Briefen, zumal
über ein noch unbekanntes Kunstwerk machen? — Ich
habe
nichts gethan, weil ich nichts thun konnte. Henne’s
Streben und
Charakter acht’ ich freudig, ob er gleich mehr
jugendliche Selberbewußt
heit hat als
er sich nach 20 Jahren wird verzeihen können. — Auch
Emanuel subskribiert auf den Diffiko. Die Schweizer aber sind be-
126,25
sonders sich und ihm die
Unterstützung seiner patriotischen Dichtkunst
schuldig.
Das Übrige hab’ ich im Blättchen an Henne selber gesagt.
Die
Stelle in seinen Briefen, daß er an 1 Tage 4 bis 500
Verse im Diffiko
gemacht, plaudere niemand aus. Zu eben so viel
prosaischen Zeilen126,30
bedürft’ ich einer Woche. —
Voß sieht nun, daß ich das schlechte Wetter richtiger
vorausgesehen
als die Apostel den jüngsten Tag. Das schöne kommt aber
desto ge
wisser im September und
Oktober; und dann auch ich zu euch Lieben!126,35
Meinem
Innern und Äußeren ist eine solche Reise, als Wintergegen
gift sehr nöthig. — Sage Voß mit
einem Gruße, daß ich durch meine
127,1
Erwähnung eines Aufsatzes von ihm über den Kometen in der ele-
ganten Zeitung weiter nichts wollte
als scherzen über sein — ge
brochenes
Versprechen; und endlich entschuldige mein Schweigen mit
diesem Doppelschreiben. —127,5
Deine Bibliolatrie ist mir freilich 100 mal lieber als eine Biblio
phobie bei einem Jüngling; und das
Fruchttreiben des Herzens, sei es
auf welchem Boden es
will, mir das Wichtigste. Freilich kannst du im
N[euen] Testament — so wie in jedem
alten Buche, z. B. im Homer
sogar die Bibel — alles finden was du vorher hinein —
gelegt. Gebrauche
127,10
doch als Kühlofen oder als Sehglas die
Kommentarien [von] Paulus
darüber. — Bringe mehr Licht und Bestimmtheit in deinen
Briefstil, den
sogar ich nicht immer ausrathe; auch mehr
Deutsch in dein Deutsch,
z. B. „wenn ich in deine Stube herein sehe“ muß heißen hinein; „das
Buch was“ muß heißen das oder welches; nicht „Reuter“ (von127,15
ausreuten,
ausroden) sondern Reiter.
In deinem sehr schönen Brief an Thingen hab’ ich — schon
aus poli-
tischen Gründen — das ganz falsche
Urtheil über Sand ausgestrichen,
dessen eben so unsittliche als unverständige That
Deutschland eben auf
127,20
die Sandbank wieder gebracht. Nach seinem
Grundsatz dürfte jeder
Katholik Luthern, Voltairen, und
jeden großen prot[est]antischen
Minister ermorden. Sterben für eine Idee ist leichter
als für eine leben.
Noch gehen seit Jahrhunderten die
blühenden Wittwen in Hindostan
jährlich in den Feuertod für ihre Männer. Die Spahnreliquie ist gar127,25
lächerlich und hat etwas von
h[eiligen] Kreuz-Spähnen. Eben so
gut
könnte man Manheimer Sand, worauf er getreten,
verschicken. Warum
nicht den Mond zu seiner Reliquie gemacht, weil er ihn
oft angesehen?
— Schelling war
wieder bei mir; wir könnten recht innige Freunde
werden, wären wir an Einem Orte, so ruhig und mild
sprach er über127,30
Herder und Sätze. Der junge Kapp trank von mir mit Vortheil ma-
gnetisiertes Wasser und ist jetzo in
Marienbad. — Deine Handschrift
bessert sich; nur die ll schreibe nicht ld. — Um dem
reichen Thingen
Porto zu ersparen, mußte ich 1 fl. geben, zumal da du
auf so unbedeu
tende Drucksachen
geschrieben: Werth 7 fl., was nicht wahr war. So127,35
schriebst du ganz unrecht 12 fl. auf die letzten. Ich schreibe auf meine
Manuskripte nur den Werth des Abschreibens. Je größer du
einen vor128,1
lügst, desto mehr Porto. —
Aus diesem Briefe theile nur vorlesend mit.
— An Otto hab ich noch nicht geschrieben; wir sind nicht mehr
die
Alten; ein hartes Wort! — Übrigens, mein theuerster Sohn,
glaube ja
nicht, weil ich manches Rügewort habe sagen
müssen, daß meine Liebe128,5
gegen dich nicht im Wachsen
ist, da ja dein Herz und deine Kraft und
dein Lernen noch
immer auch darin sich befinden. Habe nur recht heitere
Stunden in der Zeit die allein die schönste des Lebens ist. Grüße Voß
und seine Lieben — den sanften Creuzer — Daub — Paulus —
und
Sophie Dapping und die Thiedemannschen.
128,10
Richter
Sage Henne übrigens, daß ich mich recht auf seine
persönliche Er-
scheinung im Herbste freue. — Zu
schreiben hab’ ich ihm vergessen, daß
ich die alten
Gedichte aus Mangel an Zeit, an Lust, an Wörterkenntnis128,15
etc. nicht durchstudieren können.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Max Richter. Bayreuth, 13. Juli 1821 bis 16. Juli 1821. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_197
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 6 S. 8°. J: Max Richter Nr. 11×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 115. 125,33 bevor] aus wenn 126,9 6] nachtr. 11 2] aus ein 12 nur] aus keine 17 doch] aus schon 19 so oft] aus öfter 23 jugendliches 29 seinen Briefen] aus seinem Briefe 127,9 in] davor gestr. sonst 10 gelegt] aus trägst Gebrauche] aus Lies 11 Kühlofen] aus Kühlmittel 23 eine2] aus sie 28 zu seiner Reliquie] aus dazu 31 Sätze] aus Meinungen 35 war] aus ist 128,1 einen] aus ihn 6 da] aus so wie 7 befinden] aus befindet (vgl. 25, 2f.)
126,2 ff. Trauerspiel aus Pommern: von Meinhold, s. Nr. 133†; eines aus Ungarn: von Kornfeld, s. Nr. 149†; eines aus Berlin: von Rellstab, s. Nr. 185†; Gedichte aus Berlin: von Rellstab und Kreuser, s. Nr. 89†; Roman aus Berlin:? 127, 18 Thingen: ein damals in Berlin studierender Freund von Max, wahrscheinlich Leopold Karl Heinr. Freiherr von Thüngen, geb. 1800 in Meyernberg b. Bayreuth, vielleicht derselbe, den Rellstab im nächsten Jahr in Heidelberg kennenlernte und als einen der gründlichsten Schüler Hegels bezeichnet (Aus meinem Leben, 2. Bd., S. 166). 25 Spahnreliquie: von Sands Schafott. 31 Kapp: s. Nr. 318 und 379.