Von Jean Paul an Caroline Richter. Dresden, 23. Mai 1822 bis 27. Mai 1822.
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178,11
Dein am Donnerstage abgegangner und Montags angelangter
Brief hat mir lauter Gelingen gemeldet und gebracht; so wie ich über178,15
haupt der Vorsehung für ein seltenes
Zusammentreffen günstiger
Umstände — im Gegensatze der
Münchner ungünstigen — danken
muß. Aber die Lückenhaftigkeit meines Lebens bezieht
sich ja, wie du
wissen könntest, nur auf das Alter, das
die Dichtfreude der Jugend aus
schließt, auf mein zu starkes Gefühl der wenigen Jahre, die mich wenig178,20
mehr vollenden lassen, und auf das andere der Zeit aus
Sekunden
Vertröpfeln — und auf das
letzte, das uns beide nun nicht mehr ver
lassen kann auf dem Wege nach der Fantaisie.
Ich habe dir neulich, meine Karoline, mit einer irrigen Voraus178,25
setzung Unrecht gethan, weil ich an
das Aufmauern eines hohen Ofens
wie deiner, dachte; aber
ein so wohlfeiler ist mir gerade recht lieb, zumal
da ein
strenger Winter für mich entschieden ist. — Kannst du mir kein
Andenken für die liebe, liebe Minona zu kaufen anrathen,
das nicht zu
theuer und doch ihrer würdig wäre? Sinne nach. Neulich
bei dem178,30
vortrefflichen Schwarz in Friedstein — der mir 16 Flaschen seines selber
gebauten Burgunders gegeben, dessen Bezahlung in Geld
anzunehmen
er mir hoff ich ohne Zweideutigkeit
versprochen — sang Minona, nach-
dem die schöne Frau von Schwarz mit Operkraft ein langes italienisches
Kunstwerk herrlich vorgetragen,178,35
da sang Minona das Göthesche Italienlied mit so vollen, reinen, aber
gedämpften Flötentönen, daß ich eine ½ Stunde lang meine
Rührung
zu bekämpfen hatte. Immer voll Kopf- oder
Zahnschmerzen bleibt
sie doch heiter und
geschäftig. — Graf Nostitz soll (ich sah ihn noch
179,5
nicht) Baireut sehr schön
und dich, Zu-Fleißige, malend gefunden haben.
— Hier sind meist schöne und doch nicht zu heiße Tage,
und ich werde
den Sommerrock mir ersparen können. —
Ich kann deine Briefe immer kaum erwarten, da sie mir ja von179,10
3 Geliebten berichten, dir aber meiner nur von 1
Menschen. Morgen
Mittags, wo einer kommen muß, will ich
mehr nachtragen über die
Abreise. Dresden hab’ ich nun
ziemlich ausgenossen und ich sehne mich
in mein Haus und nach meinen Arbeiten und Gärten, was
alles hier
fehlt. Kraft und Feuer ist hier wenig, — wenn
ich Menschen wie Tieck,
179,15
bei dem ich gestern gegessen, ausnehme — kein
Muth zur Sprache oder
gar Satire über Staatverfassung.
Ferner hab’ ich das Unglück, immer
10, 15 auf einmal zu
hören, so wie Frauen in ganzen Herden zu sprechen,
wenn
ich abgelebte Dichterinnen ausnehme. — Im Stern wurde
mir
ein Pickenick von Ammon und Schütz gegeben.
Kalkreich[!], Kind,
179,20
Theodor Hell, Wolke, Tieck, Malsburg, Raden,
Maria Weber (der
geniale Komponist des Freischützen), Roos, und noch
mehre Dichter
waren dabei. Die seltensten Weine schwemmten alles zu
einem Freuden
und Freundschaft-Chaos
zusammen; und ich mußte wirklich von so
vieler die
Nebenbuhlerschaft aufopfernden Liebe hingerissen werden.179,25
Hinterher kamen noch Kranz und Gedicht. Heute sollt ich
vielen davon
noch einen ganzen Tag zu einer Wasserfarth
hergeben; aber einen
ganzen kann ich nicht ohne alle
Einsamkeit hinbringen. So werd’ ich
auch einer Pohlin Feldhousen, deren Mann ankommt, die Fahrt nach
der berühmten sächsischen Schweiz abschlagen. — Im mir
schlecht
179,30
geschilderten Theater war ich noch nicht. — Heute
will ich zum zweiten
mal die Kirchenmusik hören, ob mir gleich der Anblick
der Messe viel
versäuert. — Die 3 Fürstinnen sind wieder entflogen. —
Ergriffen und
erhoben hat mich nichts mehr als Elisa Recke, da sie
bei der Ende für
180,1
meinen Geburttagwunsch auf einmal begeistert meine Hände
an ihre
Brust drückte, Du sagte und dankte und mir die
Stirn küßte. — Ende
gedachte, wie natürlich, nie des Carové-schen Streits.
— Die Kirchenmusik vom großen Hasse ist wie eine neue
Welt auf
180,5
mich gestürzt, ein wogendes Tonmeer, das sich doch
wie ein Strom nach
Einer Richtung bewegt. Lange, lange
hab’ ich solche Sänger und einen
solchen Künstler nicht
gehört. Wie gönnte ich deinem Ohre und deinem
Herzen einen
solchen Himmel wie deinem Auge den hiesigen Bilder
himmel! Und bekommen wirst du ihn einmal auch gewiß.
Bei dem Gastmal im Stern bekam ich von Ammon die
feierliche
Zusage eines Stipendiums für Richard. — Nur einige male as ich bei
Minna Mittags; und so 2 mal im Gasthofe. — Der herrliche
Schütz,
der seiner Engländerin ein besonderes Haus ganz nach
englischer Bau-
180,15
art außer Dresden schaffen
ließ, schenkte mir 6 Bouteillen engl. Ale
(Oel) und 1 Büchse engl. Senfpulver, das nirgend hier zu
finden ist.
Etwas Besseres genoß ich nie und wir können künftig bei
unsern Gast
malen damit wahrhaft
glänzen, wenn wir vollends das Rindfleisch
und die Gäste
dazu setzen wollten. — Der berühmte Professor Vogel
180,20
will mich malen; noch scheu’ ich das Sitzen.
— — Leider ist nichts angekommen; vielleicht durch Post-Schuld.
Die am Mittwoch und Donnerstag aufgegebnen Briefe laufen
am
schnell[st]en; die am Freitag 8
Tage. Gott gebe nur, daß du mir mein
ganzes Glück — dich
— unversehrt wiedergeben kannst. — Der guten180,25
Emma kann ich aus Mangel eurer Briefe jetzo nichts
schreiben. Mein
letzter ging Montags (den 20ten) ab. — Lebe froh, liebes theures Herz!
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. Dresden, 23. Mai 1822 bis 27. Mai 1822. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_292
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 6½ S. 8°. J: Nerrlich Nr. 198×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 162. A: IV. Abt., VIII, Nr. 171. 178,20 wenig] davor gestr. nicht 22 Vertröpfeln] aus Forttröpfeln das letzte] aus ein andere(s) uns beide] aus dich auch 26 weil] aus da 30 bei] davor gestr. als 179,6 Zu-] nachtr. 26 vielen davon] nachtr. 32 Anblick] aus Unsinn 180,2 f. an ihre Brust] nachtr. 20 setzen] aus suchen
Angekommen 30. Mai. Karoline hatte ihn gebeten, sich ganz sorglos dem Genießen zu überlassen, „ohne die Foderungen Deiner — poetischen Grillenkrankheiten und ohne die geniale Reizbarkeit, die Dich um den Genuß einer so schönen Gegenwart nicht bringen sollte — doch Deine zwar nur leise hin und wieder angedeutete Sehnsucht nach irgend etwas Unaussprechlichem wird wohl wie ein Seufzer entstanden und vergangen sein, und Du bist doch wohl ganz froh!“ 178, 21f. Sekunden-Vertröpfeln: vgl. Bd. VII, Nr. 317,143, 6ff.†. 23 Am Wege nach der Fantaisie liegt der Bayreuther Friedhof (mit Maxens Grab). 25–28 Karoline hatte sich gegen J. P.s „sanften Vorwurf wegen des Ofens“ (170, 27–30) gerechtfertigt. 179, 2 Goethes Italienlied: vgl. Persönl. Nr. 130, S. 294. 5 Gottlob Adolf Ernst Graf von Nostitz und Jänkendorf (1765—1836), sächs. Konferenzminister, der unter dem Pseudonym Arthur von Nordstern als Dichter auftrat. 19 Stern : ein Gasthaus in Dresden. 20 Kalkreich: Friedrich Ernst Adolf Karl Graf Kalckreuth (1790—1873), dramatischer Dichter. 22 Richard Roos, Pseudonym des Dresdner Schriftstellers Karl August Engelhardt (1768—1834); vgl. Persönl. Nr. 313. 29 Feldhousen: richtig Velthusen, s. Nr. 333 und IV. Abt. (Br. an J. P.), VIII, Nr. 198. 31–33 Kirchenmusik: vgl. Br. III, 71 (21. Mai 1798). 180, 4 Carovésche Streit: Frau von Endes Sohn Otto hatte mit Fr. W. Carové einen Konflikt gehabt, und es hatte eine peinliche Szene gegeben, als Karoline Richter im Oktober 1821 in Heidelberg in Carovés Begleitung zu Frau von Ende gekommen war. 14–20 Vgl. Nr. 321†; das 1821 von Schütz erbaute Haus lag am Seetor. 20f. Karl Christian Vogel von Vogelstein (1788—1868), bekannter Porträtist.