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Korrespondenz

Von Jean Paul an Caroline Richter. München, 27. Juni 1820 bis 28. Juni 1820.

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47,1
München d. 27ten Jun. 〈Dienstag〉 1820

Meine geliebte Karoline! Vorigen Sonntag 〈den 25ten〉 Nach
mittags bekam ich deinen Brief vom 24ten datiert. Wahrscheinlich
gebrauchst 〈hältst〉 du den zurückgebliebnen vorjährigen Kalender auf47,5
meinem Tische. Ferner schreibst du: deinen Brief erhielt ich Donnerstag
Abend als ich von Emanuel etc. kam. Emma schreibt den 24ten: vor-
gestern als wir von Emanuel etc. Odilie schreibt: Am Mittwoch Abend
empfingen wir, nachdem wir von Emanuel etc. Diese allein hatte Recht
bei dem „Pappa“, den sie ja künftig Papa schreibe, und nicht der „Pappe“47,10
ähnlich. — Den Wein, dessen Fuhrmann du mir hättest nennen sollen,
hab’ ich noch nicht. 〈Eben unter dem Schreiben der zweiten Seite
kam er an.
〉 Vor seiner Ankunft kann ich noch nicht zwischen hiesigem
und baireuter Fuhrwerk entscheiden. — Durch Wetterzufälle und durch
den Hofprediger Schmidt, der morgen hier mich zum Mittage ein- 47,15
geladen, mußt’ ich Nymphenburg und also den König versäumen, der
heute nach Baden geht und den ich so gern wiedergesehen hätte. Von
Montgelas wurd’ ich gestern auf heute mit meinem Sömmering u. a.
zum Mittage geladen; aber die an demselben Vormittage eintreffende
Todespost seiner Frau in Mailand brachte eine Absagung. Übermorgen 47,20
ess’ ich bei Sömmering, der dem alten Heim durch Feuer und Alter
ähnlich, eben so häufig über den großen Platz zu mir herüber springt. —
Drei musikalische Himmelabende oder Feiertage — natürlich in Zwischen
räumen — genoß ich bei F. v. Schaden und Yelin durch den berühmten
Stunz und seine Frau und deren Schwester, z. B. gestern sein himm- 47,25
liches Stabat mater. Auch Max, der in Gesellschaft sich höchst unver-
legen (gegen Damen), anständig, bescheiden (sorgfältiger gekleidet als
ich) und doch witzig zeigt. Mich kann er nicht satt küssen vom Früh
stück an bis abends an die Abtritts Thüre an der Treppe. Seine jetzigen
Kenntnisse haben ihn aus einem baireuter Schulknaben zu einem 47,30
akademischen Jüngling gemacht und in der Philologie könnte er leichter
Lehrer als Schüler Degen’s sein. — Er verdarb mir aber eine Nacht
Schlaf, als er mir erzählte von seinem Jammerleben in Winters
Anfange 〈November Dezember〉 im ersten dürftigen Logis — wie ein
kleines Eisenöfchen nicht recht heizte, die Fenster zerbrochen waren, das47,35
Holz gestohlen — er Morgen und Abends nichts genoß, oft Mittags
kein ganzes Essen und wie alle Kleider dem Magern zu weit wurden;
und wie er krank ohne einen Menschen im Bett lag — in der einsamen48,1
Stube und einsamen Stadt jeden Abend aus Sehnsucht weinte — und
doch bis 12 Uhr fortstudierte — —


den 28ten Jun. 〈Mittw.〉

Vorliebe für Essen 〈Näscherei〉 oder gar für Geld hat er nicht im48,5
Geringsten. 4 fl. gab er, ohne mich zu fragen, zur Geburttagtasse von
Thiersch her; und fragt mich immer, warum ich Geld schone, da ers bald
für sich nicht mehr zu brauchen hoffe und die Schwestern auch genug
hätten. Vom herrlichen Stollen, den mir Renate brachte — das erste
mal brachte sie gebackne Hollunderstrauben — nimmt er nur wenig an48,10
und versäumt leicht den Kaffée. —


Jetzo bin ich über meine Abreise entschieden. Dieser Brief kommt
Sonnabends an. Bestelle bei Krotsch auf den Montag (damit er am
Sonntage sich Leute werben kann) den vorigen Kutscher mit vorigen
Pferden und wo möglich mit dem neuen Wagen, aber so daß er zu48,15
seinem Ausruhen und meinem Einrichten schon Donnerstag Mittags
da ist. Ich reise (ohne Umweg über Augsburg,) blos über Eichstädt
nach Nürnberg und Streitberg und komme am Montage abends an.
Das Wetter bleibt, wie ich dir schon neulich schrieb, den ganzen July
schön. Bekämest du aber nicht sogleich den rechten Kutscher 〈besonders48,20
die rechten Pferde〉: so warte lieber einige Tage. Lies diesen Brief
zweimal, um nichts zu vergessen. — Zwei Flaschen von dem neu ab
gezognen Wein kannst du doch noch dem Kutscher mitgeben; der alte
ist trefflich eingepackt angekommen. — Ich hatte einer Familie den
Besuch des Schliersees, der ein Altarstück sein soll gegen den Stahren- 48,25
berger-Holzschnitt, versprochen; aber die Ferne von 10 Stunden
kostete mich 3 Tage; und ich will alles daher mit dem Stahrenbergersee
in 1 Tage abthun. Überhaupt treffen fast nie die Naturfreuden anderer
mit meinen eigenen zusammen; mein Seeligsein ist eigner Art. So setzt
Schlichtegroll blos sich in meine Seele mit seinen Anpreisungen Mün- 48,30
chens und der Akademie, nicht mich, den er nicht kennt, in seine. Über
große Lebens Punkte kann mir — am Ende gilt der Satz auch für jeden
andern — niemand rathen und helfen als ich mir. — Eine große Elle Le
vantine kostet 2 fl.; ich müßte also an 32 fl. ausgeben, die mich vom
nöthigen Überschusse des Reisegeldes entblößen würden. Und ist denn48,35
gerade so theueres Zeug unentbehrlich? — Emanuels Anweisung (grüße 49,1
und danke recht) weiß ich erstlich nicht recht zu gebrauchen; zweitens mag
ich mich nicht mit so viel Geld belasten; drittens fehlt auch die Verfall
zeit. — Schreibe am Sonntage, damit ich schon am Mittwoch mich vor
bereite auf den Donnerstag. — Emma’s Feder sticht mich sogar in der 49,5
Ferne; ihr Küchenrezept mußte ich zur Leserlichkeit korrigieren; sie muß
einen Schreibmeister haben. — Sömmering wird mich in Baireut be-
suchen; er, Franz Baader, Yelin, Bahrt und andere Fremde sind ganz
meiner Meinung über die Kälte und Gemüthlosigkeit der Altbaiern
und jene drei wissen nicht drei Freunde aufzuweisen. Bei dem gemüth49,10
und geistvollen und herzigen Lerchenberg [!] (und seiner herrlichen
Frau) bracht’ ich nur noch einen Abend zu; auch er geht diese Woche.


Von Rehreny’s Bier trinkt recht viel weg. Ich will ganz helles und
bitteres. Meinem ungeschlachten Bruder trug ich noch dazu an, mir seine
Wünsche und Gründe aufzuschreiben für mündliche Rede; nur Übergabe49,15
eines Papiers durch mich schlug ich aus. — Mache ja am Ankunft
Abende, der mich wieder meinen alten ruhigen Freuden übergibt, nichts
als Suppe und Schokolade und Sallat; in den Stunden des Herzens
gibts keinen Gaumen und Magen. Ich werde recht seelig bei dir und den
Kindern sein und wir alle bei einander. 49,20


R.

Noch immer hoff’ ich für heute deine Antwort auf meinen Mittwochs
Brief vom 21ten.


[es folgen noch einige Zeilen von Max ]
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Caroline Richter. München, 27. Juni 1820 bis 28. Juni 1820. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VIII_64


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 8. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1955. Briefnr.: 64. Seite(n): 47-49 (Brieftext) und 340-341 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 3½ S. 4°. J 1: Wahrheit 8,254× (mit Einschub einer Tagebuchstelle). J 2: Nerrlich Nr. 193×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 46. A: IV. Abt., VIII, Nr. 49 und 50. 47,23 natürlich] aus freilich 48,25 sein soll] aus ist 32 große Lebens] aus solche 33 mir. —] hier folgt in J 1 eine Stelle aus dem Tagebuch v. 29. Juni 34f. vom nöthigen Überschusse] aus des nöthigen Überschusses

Angekommen 1. Juli, mit einem „Blättchen“ von Max an die Mutter. 47, 21f. Heim: vgl. Bd. VII, Nr. 258†. 25 Joh. Hartmann Stunz (1793 bis 1859), Kapellmeister und Komponist, besonders von geistlicher Musik, Schwiegersohn der Frau von Schaden. 48, 6f. Thiersch hatte am 17. Juni Geburtstag gehabt. 10 gebackne Hollunderstrauben: vgl. I. Abt., V, 7, 11f. 30f. Akademie: Karoline hatte geschrieben, Otto sei für Annahme der Stelle, sie selber rate nicht zu, „die Kinder schreien gegen München“; in A schreibt sie, sie würde nur sehr ungern nach München ziehen. 49, 11 Lerchenberg: verschrieben für Lerchenfeld. 14–16 Bruder: Gottlieb hatte zu Karoline beleidigende Reden darüber geführt, daß J. P. keine Bittschrift von ihm habe mitnehmen wollen. (Vgl. Nr. 565.)