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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 25. Januar 1816 bis 27. Januar 1816.

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55,3
Baireuth d. 25 Jenn. oder Pauli Bekehrung 1816

Geliebter Heinrich! Welch’ ein stummer Sünder bin ich, zumal55,5
nach der Freude über die erste bis vierte Lesung deiner Einleitung!
Aber die Sünde des Schweigens ist wie jede andere, schon, gleich der
Blattlaus, mit einer langen Generazion ohne neue Befruchtung
trächtig. — Und doch könnt’ ich mich mit den Leuten etwas ent
schuldigen, welche mir fast jedes Vierteljahr Manuskripte schicken55,10
und dafür Urtheile, Vorreden und Verleger verlangen.


Durchaus und innigst eins bin ich mit deiner Einleitung und ich
hänge dir von Jahr zu Jahr blos immer dichter an. (Schon aus der
Nebenstellung Baaders an Klopstock, gegen welchen letzten du mich
gewiß keiner Dulie und Hyperdulie beschuldigen wirst, hättest du55,15
mein Lob blos auf beider Kürze der Worte und Werke beziehen
sollen; wiewol ich den dunkeln, oft barbarisch-redenden Baader an
den Stellen des Einleuchtens sehr hoch achte.)


Rein und scharf hast du von deinem Berge herab den Lauf der
verschiedenen Systeme geschieden und verfolgt. Hätten wir nur ein55,20
anderes Wort statt der Vernunft, welche bald, subjektiv, Vernehmen
und Anschauen, bald, objektiv, Vernommenes und Angeschauetes
oder Idee bedeutet! Eigentlich glauben wir doch nicht an das
Göttliche (Freiheit, Gott, Tugend etc. etc.) sondern wir schauen es
wirklich als schon Gegeben oder Sich-Gebend; und dieses Schauen55,25
ist eben ein Wissen, nur ein höheres; indeß das Wissen des Ver
standes sich blos auf ein niedriges Schauen bezieht. — Man könnte
die Vernunft das Bewußtsein des alleinigen Positiven nennen (denn
alles Positive der Sinnlichkeit löset sich zuletzt in das der Geistigkeit
auf und der Verstand treibt sein Wesen ewig blos mit dem Rela55,30
tiven, das an sich nichts ist; daher vor Gott das Mehr und Minder
und alle Vergleichstufen wegfallen). — Sogar die Zufälligkeit muß56,1
sich der Verstand erst von der Vernunft erborgen, denn jene setzt schon
die Nothwendigkeit als ihren Gegensatz, den aber nur die Vernunft
feststellt 〈gebiert〉, voraus, und der Zufall ist blos eine Verschleierung
der Freiheit; oder die Nothwendigkeit wäre selber ein Zufall von56,5
Ewigkeit.


Treffend sind deine Apollons Schüsse auf den neuesten Schelling.

den 27ten

Genug! Leider sag’ ich dir kein anderes wahres Wort mit allem
als höchstens dein eignes. So wollt’ ich z. B. noch schreiben, daß56,10
ohne göttliche Persönlichkeit ja gar keine endliche, die doch keiner
läugnet, zu Stande käme, oder diese wäre dann selber jene, oder eine
Weltseele, da jedes Selbbewußtsein höher und mächtiger ist als
ein ganzes blindes taubes Spinoza-All.

Die größte Beschämung der Philosophie des Verstandes ist die56,15
Scholastik — diese größere kantische Antinomistik — aus welcher man
den schärfsten Skeptizismus als aus einer kritischen Essigmutter
bereiten könnte. — Mein alter Haß gegen die Wortwelt-Weisheit
ruht auf den Seiten 26, 27 etc. meines Clavis Fichtiana, die du
sammt der Zueignung an dich wiederlesen solltest. — Ist man ge56,20
gründet wie du, oder durch dich: so findet man wahrlich mehr Po
sitives — als bei jenen Wortweltweisen — in analogischen Schlüßen
wie die Herd[erschen] vom Schmetterling auf die Unsterblichkeit,
oder wie meine auf diese aus dem organischen Magnetismus. Wir
sollten eine solche Anthropologie des göttlichen Anthropomorphismus56,25
versuchen. Ist denn A[ltes] und N[eues] Testament etwas anderes
als eine analogische Schlußkette des Positiven?


Die Form deiner Einleitung ist klassisches Philosophen-Deutsch
und für mich Ohrenzauber; deine philosophische Sprache reift
immer blühender und fruchtbarer an deinen Jahren. Reife sie noch56,30
lange fort! — Eben so ist dein französischer Brief an la Harpe ein
Sprach- wie Sachmeisterstück (Zum Glück war er mir noch ein neuer
Reichthum) (Überhaupt ist die französische Sprache durch ihre feste
Wortfolge und ihr lateinisch-scholastisches Wörterbuch der Philo-
sophie gerade so diensam wie der Dichtkunst unfolgsam). Nur 2 mal56,35
stieß ich an. P. 517 erwartet man nach den Partizipien Ne regar-
dant, ne connaissant etc., da sie sich auf raison, nicht auf désir 57,1
beziehen, nach der Regel statt notre désir etc., vielmehr elle est
si peu touchée de notre désir etc.
— Zweitens p. 520: Cet
apperçu saisi, si:
wie viele s-Laute und si-Laute und fast zwei
gleiche Partizipien!57,5

Am Namenfeste der lieben Königin [28. Jan.],
die ich so gern wie eine Madonna im Engel-
Nimbus ihrer schönen Kinderchen sehen möchte.

Es ist besser, ich schicke morgen den Brief fort, wenn anders das
Geschwätz einer ist. Ich freue mich auf deinen 3ten Band. Traue57,10
dir lieber zu viel als zu wenig zu: so irrst du weniger; und gib uns
allen deine von mir gelesenen Aphorismen, welche wie Minerva ja
so gleich fest bekleidet aus deinem Kopfe gekommen sind. In deinen
Jahren muß man auf keine Jahre warten; sogar ich thu’ es in den
meinigen nicht, sondern arbeite und lese, in der Berechnung meines57,15
noch kurzen Lebenrestes, wie toll fort, um nur endlich an meine opera
omnia
zu kommen. Ach Gott! erst im 53ten Jahre sieht man ein,
wie wenig Zeit man für die Wissenschaften hat. Geschichte allein —
Mathematik allein — Physik allein fodern ein ganzes Leben, und
dann kommt noch vollends das, was man nebenher schreiben will.57,20
Und doch gehör’ ich noch dazu unter die, welche ohne Amt von Auf
bis Untergang saßen und lasen.


Ich war nicht in Regensburg; in solcher Nähe hätt’ ich dem ziehen-
den Magneten gewiß wenigstens geschrieben, wenn nicht gar gefolgt.


Dein Buch bekam ich erst im Dezember.57,25

Ein besonderes Glück und Talent hast du im philosophischen
Namengeben, z. B. das Weder-Noch, Weisen Be-Weisen etc. Du
solltest öfter bei Feinden zu Gevatter stehen.


Im Frühjahr komm ich gewiß nach Regensburg.

Ich erwarte von dir keine Antwort, da du mir ohnehin schon die57,30
zweite seit heute schuldig bist. Schreibe nur sonst.


Und so geh’ es dir denn recht wol in deinem hellen Abendrothe,
geliebter Geist! Ich grüße herzlich deine beiden Deinigen.


Dein
J. P. F. Richter
57,35
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 25. Januar 1816 bis 27. Januar 1816. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_153


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Textgrundlage
D: Jean Pauls sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 7. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1954. Briefnr.: 153. Seite(n): 55-57 (Brieftext) und 353-354 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8°. (Mehrere Stellen von Jacobi rot angestrichen.) Präsentat: e. d. Isten Febr., b. d. 11ten Mai 1817. K: Jakobi Pauli Bekehrung. J 1: Jacobi S. 173× (3. Jan.). J 2: Roth Nr. 354×. A: IV. Abt., VII, Nr. 51. 55,10 Vierteljahr] aus Jahr K 17 an] aus in H , in K 25 SichGebend] danach an. K 29 zuletzt] aus doch H , doch K 33 Gewalt] davor gestr. einen Sprung K 56,1 wegfallen] danach gestr. müßen H 5f. Zufall von Ewigkeit] aus ewiger Zufall H K 10 dein eignes] aus deines H noch schreiben] herschreiben K 12 wäre] verb. in würde u. wiederhergest. H , würde K eine Weltseele] aus ein Weltgeist H 13 ist] aus wäre H , wäre K 16 größere] aus wahre H 17 als] aus wie H 22 bei] aus in H 29 Ohrenzauber] aus Ohrzauber H 34f. der Philosophie] aus den Philosophien H 35 wie] aus als H 57, 3 de] aus du oder umgekehrt H 12 welche] die K 13 fest] aus recht H 16 an meine] aus zu meinen H

Antwort auf Jacobis nicht erhaltenen Brief v. 26. Dez. 1815 (s. Bd. VI, Nr. 866). 55, 4 Pauli Bekehrung: vgl. Bd. VI, Nr. 447, 179, 21†. 6 Einleitung: zum 2. Bande von Jacobis Werken (Leipzig 1815); vgl. Nr. 126. Jacobi hatte am 18. April 1814 (vgl. Bd. VI, Nr. 226) geschrieben, er habe zu seinem den 2. Band eröffnenden „David Hume“ eine ungefähr 6 Bogen lange neue Vorrede verfaßt, die zugleich und noch mehr eine Einleitung in seine sämtlichen philosophischen Schriften sein solle, indem sie die vollendete Darstellung seines Systems gebe. 14 Baader: in der Vorrede zu seinem „Museum“ hatte Jean Paul die leeren Räume in den Werken einiger Romanschreiber (vgl. Bd. VI, Nr. 826, 358, 9f.) in Gegensatz gestellt zu der gedrängten Fülle Klopstocks, Baaders und Kants (I. Abt., XVI, 6); anscheinend hatte Jacobi diese Stelle beanstandet. 56, 19 Clavis Fichtiana: s. I. Abt., IX, 470. 25 göttlichen Anthropomorphismus: Jacobi bittet in A, Jean Paul möge sich über diesen Kardinalpunkt ihrer gemeinschaftlichen Philosophie einmal ausführlich auslassen. 31 Brief an Laharpe: am Schluß des 2. Bds. von Jacobis Werken; die erste Stelle darin S. 516, nicht 517. 57, 6 Das Namensfest der Königin Karoline von Bayern wurde immer besonders festlich begangen. 12 Aphorismen: vgl. Bd. VI, 161, 9—11, 289, 14—17, 323, 34ff, 376, 8—10. 27 Weder-Noch, Weisen Be-Weisen: Jacobi a. a. O. S. 89ff. und 12.