Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 16. Juni 1819 bis 17. Juni 1819.
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270,23
Ich habe deine beiden Briefe, jeden nach 4 Tagen, erhalten. Von270,25
hier aus gehen Briefe nur Mittwochs und Sonntags am Morgen
ab; folglich dieser erst Sonntags. Ich hoffe, du hast die gute
Emma nicht mitgeschickt, nicht blos, um der Last so
vieler Verbind-
lichkeiten auszuweichen, sondern
besonders aus Reisegründen. Ich
habe im Wagen kaum mit
meinem Gepäcke Raum; und der Pudel270,30
kann durchaus
nicht den ganzen Tag außer dem Wagen sein. Eine
größere
Schwierigkeit wären die Schlafstellen. Die Reisekosten271,1
würden sich verdoppeln, welche so groß sind, daß ich in Anspach für
ein elendes Abendessen 2 fl. 12 kr. zahlen müssen. Das
Mittagessen
kostet gewöhnlich 1 fl. Lasse mir das
Bißchen Bequemlichkeit, da
ich ohnehin so gar froh nicht
bin, schon wegen des dummen Wetters.271,5
Emma ist noch jung genug, um 1000 mal besser die Welt zu
genießen
als ihr armgeborner Vater. Auch wär’ es mir gar nicht
lieb, wenn
deine Einsamkeit gar verdreifacht würde. — Gott
gebe, daß dir
niemand aus wolwollender Einfalt
zuredet!
Hier wird man aus den Thées gewöhnlich ohne Abendbrod
heim271,10
geschickt, das ich
dann für einige Groschen im Gasthofe suchen muß.
Gott!
wie hungert mich nach einem Stückchen
bair[euter] Bäcker-
brod. Das hiesige — blos aus Dinkel
gebacken und ungesalzen —
schmeckt ungefähr wie
getrockneter Kleister oder papier maché;
und doch würgte ich es einige Abende — aus Sparsamkeit —
mit271,15
einem Stückchen Wurst hinein. Die hiesigen
Milchbrödchen
schmecken wie euere Semmeln. Ich könnte
mir wol abends hier
kochen lassen, aber der gute Mohr ißt schon um 6 Uhr; also kann
ich ihm diesen Feueraufwand nicht zumuthen. Mein guter
Kaffee
kostet mit allem mir bei ihm 12 kr. Das
gefälligste dienstfertigste271,20
Ehepaar, so wie die
17jährige Magd, von der alle Baireuter Mägde
Ordnung und Eile lernen könnten. Sogar lieber als im Wenner-
schen Hause ist mir dieses
häusliche Still- und Kleinleben. — Ich
habe gar zu viel
zu erzählen und so wenig Zeit. Der Tisch liegt voll
Bücher aus der Bibliothek und von der Huber etc.etc. —
Das Besuchen
271,25
am Morgen hört nicht auf und ich bin zuweilen von
2 bis 10 außer
Haus — Arbeiten will ich auch ein wenig —
Nehme doch ja O[tto]
und E[manuel]
mein Schweigen nicht übel, zumal da ich in den
Briefen an dich manches für sie schreibe. — Gestern als
ich auf der
Silberburg (ein öffentlicher Lustberg mit Gärten, wo
jeden Sonn-
271,30
abend Konzert ist) arbeitete,
kamen 3 Deputierte der Tübingischen
Studenten an, um mich zur Feier des 18ten dahin einzuladen mittelst
eines sehr schönen Schreibens; ich schlug es natürlich mit vieler Artig
keit und Wendung ab. — Bekannt und
geliebt bin ich hier hinlänglich
und in jeder Gassen-Ecke
seh’ ich den Rücken eines Verehrers stehen.271,35
Nur
müßt’ es am Ende auch dem eitelsten Narren lästig fallen, daß
er an einem öffentlichen Orte (z. B. im Gartenkonzerte)
nicht herum
gehen kann, — um etwa einige weibliche
Gesichter anzusehen, oder272,1
die Gartenpartien — ohne hinten
und vornen und seitwärts von
100 Augen verfolgt; oder,
wenn er gar ins Sprechen kommt und
sagt: „Ihr Diener“ oder
„eine Flasche Doppelbier“, von den nächsten
Ohren verschlungen zu werden. Gnade dann Gott dem
armen272,5
Narren, wenn er vollends etwas Dummes sagt
anstatt das Aller
witzigste und
Erhabenste. Einen oder ein Paar Verehrer und Ver
ehrerinnen an jedem Orte lass’ ich mir gefallen; man wird
aber
am Ende so unverschämt und gleichgültig wie ein
Prinz und thut
als sei man zu Hause, nämlich in
Baireut.
272,10
Ich will doch auf gerade wol heute den Brief abschicken; ob er
vielleicht eher kommt. — Nur noch einiges. Der gute Graf
Berol-
dingen und sie nahmen mich neulich
zu einem Pickenick auf die Geis-
burg (ein sehr schöner Berggarten),
wo der österreichische Gesandte
272,15
Trautmannsdorf, der baiersche Tautphäus, der
preußische Küster
(dessen Frau sich noch des Lebens mit dir grüßend
erinnert), der
hiesige Minister der auswärtigen Angelegenheiten
Winzingrode,
der junge aber reichausgebildete Graf Kufstein, die
Oberhofmeisterin
von Seckendorf — eine Frau von der lustigsten Laune —
und noch
272,20
andere Weiber waren und alles heiter und frei.
Darauf oder abends
fuhr die Gesellschaft und ich mit dem
Grafen nach der Silberburg,
die schönste Stelle für mich. Alles Schöne liegt aber
weit von
Stuttgart; ach es ist kein Heidelberg oder Frankfurt. —
Cotta, bei
dem ich heute zum ersten male esse, kam schon
Sonnabends; er ge272,25
währt die
reichste Unterhaltung bis sogar in die Philosophie hinein.
— Der Professor Reinbeck hat bei seinem Ehrenwort der Haus-
man[n]skost mich auf immer an seinen
Tisch geladen. Er hielt es;
im niedlichen Eßzimmer stand
ein Bett. Er hat eine herzige gebende,
obwol nicht schöne
Frau. An demselben Tage ging ich mit dem
272,30
geheimen Rath von Hartmann — als Muster verehrt und ein
Liebling der Königin — nach Geisburg, wo Reinbeck eine
große
Gesellschaft versammelt hatte, zumal von Weibern. Ich
vergesse
aber die Namen, sobald ich sie gehört. — Die
alte Huber — bei der
ich auch zum Thée war — ist
voll Geist und Herz (das letzte werd’ ich272,35
dir
zeigen, wenn ich mit Herder, dem Manne ihrer Tochter, von
ihr
spreche), konnte aber kaum in der Jugend schön gewesen
sein. —273,1
Dem Könige lass’ ich mich nicht vorstellen; er
liest wenig und hat
nur einige Offiziere bei sich. Eine Herzogin ... ich weiß
nicht welche
auf dem Lande — will mich durch Matthison sehen und kann
machen,
daß ich Hosen anziehe, die ich seit drei
Jahre[n] vergeblich im Koffer273,5
herum fahre. — Seit gestern und heute (und fast
immer) genießen
wir liebliches Regenwetter und ich wäre
das glücklichste Wesen von
der Welt, wenn ich eine
Krautpflanze wäre oder ein Gerstenfeld. —
Sage dem Eisenhut, daß er sich in der 1ten Woche des Julius
bereit hält für mich, aber durchaus seinen Sohn muß ich haben,
273,10
nicht einmal den Vater. — Lasse jetzo an 50 Maß
Bier abziehen
und gieße in das Weinfaß eine Flasche guten Wein nach. — Vergiß
ja nicht bei
Schwabacher die Wechselsache. — Otto möge doch
Krausen sagen, daß ich, wenn ich da gewesen wäre, gern
mit Jacob
zu ihm gegangen wäre. Wahrlich bei meiner Verarmung an
ge273,15
lehrter Gesellschaft in
Baireut muß ich Gott für jeden Ersatz danken.
— Hätt’ ich den Festtag meiner geliebten Odilie, die
[ich] wenigstens
in der Abendmalkleidung sehen muß, abwarten wollen: so
hätt’
ich deiner Einpacknoth wegen durchaus erst am
Mittwoch abreisen
können; und da hätt’ es geregnet und
ich wäre — zu Hause geblieben,273,20
was freilich das
Gescheidtere gewesen wäre. — Wie könnt’ ich an
die Schweiz denken? Um mir nur weiß zu machen, eine
Nebellinie
von ihr am Horizonte zu sehen, müßt ich wenigstens einen
Tag lang
reisen. — Mein Briefchen an Breul hast du doch übergeben? —
Meinen guten Kinderlein kann ich jetzo nicht antworten,
nur danken;
273,25
und das Gutsein des Max ist mir zugleich erwartet
und erfreulich. —
Schreibe mir etwas, was dich — und folglich mich —
erfreuet. —
Und so will ich denn meine hiesigen Wochen
weiter hinduseln, und
dann die Baireuter, bis die ganze
Narrheit vorbei ist.
Es gehe dir wol, liebe Karoline!273,30
Grüße meine beiden Freunde und die herrliche Welden.
Was schreibt dein Vater? — Ich bin schon 3 Abende zu Hause
geblieben, ob mich gleich die Huber gestern zu Tautphaeus nehmen
wollte; auch bei Paulus bin
ich seit dem ersten Besuche nicht wieder
273,35
gewesen.
Ist der Vogel oder ein Frosch verhungert oder gar niemand?
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Caroline Richter. Stuttgart, 16. Juni 1819 bis 17. Juni 1819. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VII_533
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 8 S. 8°. J 1: Wahrheit 8, 182× (als Schluß von Nr. 530). J 2: Nerrlich Nr. 172×. B 1: IV. Abt., VII, Nr. 183. B 2: IV. Abt., VII, Nr. 184. A: IV. Abt., VI, Nr. 195. 271, 6 Emma] davor gestr. Die besser] aus mehr 27 wenig] danach Für mein geselliges Benehmen hab’ ich mir neue Gesetze gegeben. Ich suche Ruhe, vermeide überkochende Liebe; bin nicht kühn und satirisch, und tische keine Persönlichkeiten auf. Ich ken ne die Nähe der Gefahr bei fremdem Beifall und bei eignem. — Mein Schweigen kann bei meinem vielen Reden keiner Mißdeutung blos stehen, aber wohl mein Reden; eine Minute schweigen bessert viele Reden aus. J 1 J 2 (diese Sätze, die sich in H nicht finden, muß Förster aus einer andern Quelle interpoliert haben, vermutlich aus dem Reisetagebuch) 272,2 von] davor gestr. mit 4 von] aus mit 6 vollends] aus gar 17 grüßend] nachtr. 273,9 1ten] aus 2ten
Erst am 30. Juni, nach Nr. 534, angekommen. Karoline hatte in B 2 geschrieben, die Schwester der Enzel (Frau Seeligmann, s. 268, 25f.) komme auf 8 Tage nach Bayreuth und habe angeboten, eines von Jean Pauls Kindern auf der Rückreise mit nach Stuttgart zu nehmen und als Gast zu beherbergen, bis J. P. es wieder mit heimnehme; ob er erlaube, daß Emma mitkomme, da Odilie nach Hohenberg gehe (zu Schubaerts, vgl. Nr. 356†) und Max zu beschäftigt sei. 270 , 29—31 Vgl. die Schilderung des vollgepackten Wagens in der Selina, II. Abt., IV, 222, 27— 30 . 271, 27f. Karoline hatte in B 1 gebeten, er möge doch an Otto schreiben, der über ein häusliches Unglück verstimmt sei. 29—34 Einladung der Tübingischen Studenten: vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 186 und die Notiz über den Vorfall in der (Hallischen) Allg. Literaturzeitung, Dez. 1819, Nr. 309. 272, 15ff. Joseph Graf Trautmannsdorf (1788—1870, s. Wurzbach 47, 73f.). Joh. Nepomuk Franz Xaver Freiherr von Tautphöus (zuweilen auch Tautphäus geschrieben, 1765—1835), den J. P. schon 1799 in Hildburg hausen gesehen hatte, s. Br. III, Nr. 329, 260, 22f. Heinrich Karl Friedrich Levin Wintzingerode (1778—1856), erst seit 17. Mai 1819 württemb. Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Franz Seraphicus Graf Kuefstein (1794—?), s. Wurzbach 13, 314. Julie Henriette, geb. Freiin von Seckendorff (1779—1837), seit 1802 Gattin des Obersthofmeisters Karl Alex. Siegmund von Seckendorff. 29ff. Reinbeck war seit 1817 in 2. Ehe verheiratet mit Emilie Hartmann, Tochter des Geheimrats Joh. Georg August von Hartmann (1764—1849), des Leiters des Katharinenstiftes. 36 Therese Hubers Tochter Luise war mit Emil von Herder (1783—1855) verheiratet, dem 5. Sohn des Dichters, der seit einiger Zeit als Forstbeamter und bayerischer Regierungsrat in Bayreuth lebte. 273, 2 König: Wilhelm I. (1781—1816—1864). 3 Herzogin: Wilhelm, s. 275, 5ff.†. 9 Eisenhut: Bayreuther Fuhrmann. 13 Schwabacher: Richters Hauswirt (seit 1817). 13—16 Jacob (s. Bd. VI, Nr. 187) war, nach B 1, gleich nach Jean Pauls Abreise gekommen, um ihn mit Krause auszusöhnen; vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 205. 17—21 Odilie: vgl. 264, 30†; Karoline hatte in B 1 bitter bemerkt, sie habe jede Feier ihres Geburtstags (7. Juni) verbeten, „denn ein Tag, dem aus dem Wege zu reisen der Gatte selbst der Einsegnung eines geliebten Kindes seine Gegenwart entzieht, verdient nicht von seinen Freunden als ein Festtag begangen zu werden.“ (Der Satz ist ausgestrichen, aber wohl erst a posteriori.) 21—24 Karoline hatte in B 1 geschrieben, eine Gräfin Vitzthum mit Tochter, Freundin der Ende, (Gattin des Dresdner Hofmarschalls), die sie besucht habe, reise nach der Schweiz und hoffe J. P. am Bodensee zu begegnen. 24 Breul: s. FB Nr. 41.