Von Jean Paul an Friedrich Wilhelm Hagen. Bayreuth, 16. September 1810.
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Es würde mich schmerzen — wiewol ich diesen Schmerz verdiente
— wenn Sie mein bisheriges Schweigen für ein Mißurtheil
über
Ihr Werk genommen hätten. Aber die Liebe, welche Sie
darin137,5
für meine Ansicht gezeigt, und die Absicht und
der Werth Ihres
Buchs
[mußten] Ihnen unsere Zusammenstimmung
zusichern. Ihr
Enthusiasmus erfreuet mich, er ist das Herz des
innern Menschen,
ohne welches er leichenkalt umliegt; die
warme Sonne des ganzen
Lebens, indeß bloße Einsicht der Mond
ist, der freilich nicht brennt137,10
und keine Gewitter
erzeugt, aber auch keine Früchte und Frühlinge.
Allerdings
taugt eine Sonne ohne Mond so wenig als ein Mond
ohne Sonne —
für niedere Leser dem Buch mehr Klarheit und eine
andere
Ordnung wünschen — Gegen Fichte: denn ja nicht an An-
schauungen und Empfindungen fehlts dem
Kinde — darin schwimmt137,15
sogar das Vieh wie das Kind —
sondern [an] Kräften und Mitteln,
dieses allgemeine verworrene Leuchten in bestimmte
Sternbilder ab
zutheilen und durch die
Auflösung des Ganzen in Theile sich ein
Bewußtsein zu
verschaffen. Dieß vermag aber nur die Sprache,
welche
gleichsam die weite einfarbige Weltkarte illuminiert. Und137,20
daher ist das Pestalozzische Abc der Empfindung die beste
Lese-
methode des Buchs der Natur. Er hätte
zwar statt der Anschauung
eben so gut das Anhören wählen
können, aber die Meßlehre für
das Auge theilt feiner, bleibt
länger, kommt öfter und erinnert
sich leichter als die für
das Ohr (Musik) ... Ermatten Sie nicht137,25
auf Ihrem Wege
bergan. Und kämen Sie sogar nicht hinauf: so
tröste Sie das
Bewußtsein, recht lange das Auge gegen einen Berg
gipfel gerichtet zu haben, nicht gegen das platte Land des
Furchen
Ziehens nach Brod.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Wilhelm Hagen. Bayreuth, 16. September 1810. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_352
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K (nach Nr. 354): Pfarr Hagen in Dottenheim 16 Sept. B: IV. Abt., VI, Nr. 78. 137,17 ab-] aus ein- 23 f. für das Auge] aus des Auges
Über Friedr. Wilh. Hagen (1767—1837) s. Br. II, 513, Nr. 713. Seit 1809 Pfarrer in Dottenheim an der Aisch, hatte er im Mai 1810 Jean Paul seine mit einem langen „Sendschreiben“ an J. P. eröffnete Schrift „Über das Wesentliche der von Pestalozzi aufgestellten Menschenbildungsweise und die Einführung des Elementar-Unterrichts derselben in die Schule zu Dottenheim“ (Erlangen 1810) zugeschickt und ihn gebeten, für die gute Sache mitzuwirken. Gegen Fichte: vgl. dazu Levana, § 131.