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Von Jean Paul an Helmina von Chézy. Bayreuth, 24. November 1811.

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[Druck]

Bayreuth d. 24 Nov. 1811
235,2

Unvergeßne Helmine! (Verzeihen Sie diese vertrauliche An
rede, da sie zugleich eine Widerlegung Ihrer schönen Klage ist)
Der Gartenmorgen, wo ich Sie zum ersten male sah, hat seine235,5
Blumen und seinen blauen Himmel noch nicht verloren; und Sie
stehen mir noch immer darin mit Ihrer liebenswürdigen und freu
digen Unbefangenheit. — Mein Schweigen auf Ihren Brief aus
Heidelberg rechnen Sie meinem Unvermögen, Ihre Wünsche zu
erfüllen, und auch meinem Zeitmangel zu, der mich nur auf wenige235,10
Briefe antworten läßt. Ich kann mir Sie gar nicht verändert denken,
sondern Sie bleiben mir immer die vorige naive Grazie leiblich und
geistig. Wenn ich Sie wiedersähe, würde eine schöne Vergangen
heit mit einer schönen Gegenwart in Einem Nu zusammen treffen.
Da Sie aus einer großen Stadt nur in eine größere gezogen: so 235,15
können Sie auch geistig nicht von Paris und Zeit verwandelt worden
sein — Und Sie sinds ja auch nicht, da Sie mir noch gut geblieben.


Ich beneide Sie um die Nachbarschaft des Großherzogs, die
niemand so freudig theilen würde als ich. Es ist einer meiner ältesten
Wünsche, zu diesem Fürsten zu reisen; aber dabei wird Er selber235,20
alt. Warum sind jetzt die Teufel so jung, und die Götter so alt?
Sein Vergißmeinnicht an die Fuldaer wird dem ganzen Deutschland
wolthun, bis zum Schmerze der Sehnsucht hinauf.


Ich hoffe, wir sehen uns wieder auf diesem närrischen Planeten,
der alles auseinander sprengt, und alles zu einander führt.235,25

Können Sie mir etwas vom Großherzoge schreiben: es ist eine
Gabe für mich, und ein Ersatz der Reise.


Es geh’ Ihnen wol, gute Helmine! Und möge die ewige Wunde,
die ein dahingegangnes Kind dem Mutterherzen geschlagen, durch
die dableibenden Kinder gelindert werden! Es geh’ Ihnen wol!235,30


Ihr
alter
Jean Paul Fr. Richter

Meine Frau grüßt Sie mit herzlicher Erinnerung. Ich habe
3 kräftige Kinder, worunter 1 kräftigster Knabe ist. 235,35


Zitierhinweis

Von Jean Paul an Helmina von Chézy. Bayreuth, 24. November 1811. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_569


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952. Briefnr.: 570. Seite(n): 235 (Brieftext) und 525-526 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: ehem. Collection Bovet (1887), Nr. 1056. K 1 (nach Nr. 560): Helmine — Aschaffenb. 24 Nov. (Mehrere Konzepte voraus.) *K 2 (alte Abschrift): Apelt. i: Denkw. 3, 241×. B 1: IV. Abt., VI, Nr. 167. B 2: IV. Abt., VI, Nr. 186. 235,15 gezogen] so K 1, zogen K 2

Vgl. Bd. III, Nr. 474. Helmine war mit ihren Kindern (unter denen auch ein Max war) auf einige Zeit von Paris zur Erholung nach Deutschland gekommen. In B 1 beklagt sie sich, daß Jean Paul sie „recht in den tiefsten Schattenwinkel seines Herzens“ gestellt habe, und bittet ihn, auf eine in Vorbereitung befindliche Sammlung ihrer Gedichte (erschienen Aschaffenburg 1812 in 2 Bdn.) zu subskribieren und dafür zu werben. (In einer Fußnote zu K 2 gibt sie an: „Ich hatte, wie ich glaube, Jean Paul um die Briefe meiner Mutter an ihn, welche er einmahl beabsichtigt hatte herauszugeben, und um diese Herausgabe gebeten.“ Diese Bitte hatte sie aber schon in einem Briefe vom 20. Dez. 1803 aus Paris ausgesprochen, s. Bd. IV, Nr. 315.) In B 2 macht sie ihm Vorwürfe wegen seines Schweigens und teilt mit, daß sie Fibels Leben in dem an Dalberg gesandten Exemplar (s. Nr. 554) gelesen habe, und daß ihr jüngstes Kind gestorben sei. Gartenmorgen: Helmina berichtet über diese erste Begegnung (am 3. Juni 1800 in Berlin) in ihren Denkwürdigkeiten „Unvergessenes“, 1858, I, 142 (Persönl. Nr. 102). Vergißmeinnicht: die Fuldaer hatten ihrem neuen Landesvater zu seinem Namenstage, 4. Nov. 1811, in einer kleinen Gedichtsammlung „Das Vergißmeinnicht der Buchonier“ ge huldigt, und Dalberg hatte dafür in einem sehr herzlichen Schreiben gedankt, das wohl in den Zeitungen veröffentlicht worden war; vgl. 251, 5—8 und Fuldaer Geschichtsblätter, VI (1907), S. 79f. (Frdl. Mitteilung von Dr. Hensel, Direktor der Fuldaer Landesbibl.)