Von Jean Paul an Friedrich Immanuel Niethammer. Bayreuth, 8. Oktober 1813.
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Verehrtester Herr Oberkirchenrath! Sie werden es schon ge346,15
wohnt haben, wenn Sie meine Hand sehen,
daß ich sie immer auf
mache, um etwas
hinein zu bekommen; — wiewol für andere ge
wöhnlich, was aber oft noch mehr ist als für sich selber. Dieß mal
bitt’ ich für unsern trefflichen Professor Wagner. Die Zeit ver-
mehrt seine Verdienste nicht blos an
Ex-, auch an Intension. Was346,20
ich z. B. von seiner
Geschichte der Philosophie gelesen, nämlich die
der jonischen
und der neuesten Dreifelderwirthschaft von Kant, Fichte
und Schelling, ist eben so gelehrt als scharfsinnig. Seine
Primaner
und Sekundaner, deren Prüfungen mir immer Feste sind, gehen
so
philosophisch gewaffnet gegen die Übergewalt eines
ersten philo346,25
sophischen Systems
auf die Universität, daß sie eines kaum zu
hören brauchen.
Mein Sohn von 10 Jahren hat mit noch an-
deren seit 3 Jahren aus einem bloßen
täglich zweistündigen Unter
richt so viele
Sprachgründlichkeit geholt, daß er und noch Jüngere
in ein
Paar Jahren griechische Spezimina wie jetzo lateinische
346,30
machen können.
Sie errathen nun leicht, warum ich seine Bitten zu den meinigen
mache. Die ihm wichtigste ist, daß der künftige Nachfolger Fiken-
schers nicht über ihn geordnet
werde, damit er die bisherige Achtung
der Professoren und
Schüler gegen ihn und das Vikariat des Rektors,
346,35
der ihm bisher aus Alter die Direkzion der ganzen
Studienanstalt
überlassen, noch feuriger zur Verwendung
der letzten verwenden347,1
könne.
Seine zweite Bitte ist die um den Theil der
Naturalbesoldung,
den Fikenscher
vor ihm voraus hatte. Sechs Kinder, zwölf Amt-
jahre und das jetzige bellum omnium contra omnes rechtfertigen347,5
schon
die Bitte. Schon vor 8 Jahren bekam er vom König von
Preußen bei einem auswärtigen Rufe eine Gehaltzulage und
von
den Ministern das Versprechen des Steigens in Rang und
Honorar.
Am meisten würde ihn Unterordnung unter den künftigen Pro
fessor durch die Hemmung seines pädagogischen
Patriotismus347,10
kränken, denn Lehren ist sein Leben,
und die Schule sein Himmel,
und uneigennütziges Abarbeiten
sein erster, tiefster, längster Lohn.
Mein achtendes Urtheil über ihn hab’ ich in der 2ten
Auflage
der Levana, an welcher
man eben druckt, auf 2 Seiten ausgedrückt.
Verzeihen Sie der väterlichen Dankbarkeit eine
Weitläuftigkeit,347,15
welche ich Ihren Kenntnissen der
Schulanstalten des Königreichs
wol hätte ersparen sollen. An Jacobi ... Es geh’ Ihnen
wol
unter, oder vielmehr zwischen den Gewittern der Zeit.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Immanuel Niethammer. Bayreuth, 8. Oktober 1813. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=VI_799
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Kat. 706 Stargardt (13./14. März 2018), Nr. 156a. K (von Emmas Hand, Schluß eigenh.): Niethammer 8 Okt. i: Denkw. 3, 262. A: IV. Abt., VI, Nr. 232.
346,33 ff. Fikenscher war im März 1813 gestorben; sein Nachfolger als Klassenlehrer der Obermittelklasse des Bayreuther Gymnasiums wurde Besenbeck. Rektor war 1811—21 Degen, s. Nr. 575†. 347, 1 Verwendung: wohl verschrieben für „Verbesserung“ oder dgl. 13f. Levana, § 156 (I. Abt., XII, 400). — Niethammer antwortete, Wagners Wünsche seien erst nach Entscheidung der Sache eingetroffen und daher nicht erfüllt worden; es sei jedoch für seine Neigung zum Dirigieren schon ein ausgedehnterer Wirkungskreis in Aussicht genommen. „Jacobi erinnerte sich bei Ihrem Gruß, daß er noch in Ihrer Schuld sei.“