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Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 6. September 1807.

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Bayreuth d. 6 Sept. 1807
163,29

Lieber Heinrich! Ein Briefchen ist doch immer besser als kein163,30
Brief. Nimm es denn an als Weissagung großer Briefe, die einer
von uns beiden darnach schreiben wird.


Zum Glücke sagt mir zuweilen ein Reisender, daß du zwar im
Schlafrocke, aber doch nicht im Bette bist. Deine akademische Rede,
auf die ich nicht blos wegen ihres erhaltenen Lobes, sondern wegen163,35

ihrer Dicke — wenn dieß nicht identisch ist — so begierig bin, hab’164,1
ich im dummen Bayreuth noch nicht aufgetrieben, aber meine
Stellnetze darnach schon ausgestellt. Du sollst darin „viele Wahr
heiten“ gesagt haben, d. h. scharfe. — Sonderbar, daß die Menschen
unter Wahrheiten-Sagen nur tadelnde, nie lobende meinen; so schwer164,5
und selten ist also diesen guten Seelen, den Menschen, das Tadeln.


Mein guter Schlichtegroll wird dir zwar nicht auf der philo-
sophischen Arena und Sandwüste und Sandbank — aber desto mehr
im ersten und letzten Eden-Garten eines schönen reinen treuen
Herzens Genüge leisten — Und mit seiner Frau kannst du sogar 164,10
disputieren; sie wird dich, wenn nicht besiegen, doch auslachen
und lieben und herzlich anblicken. Viel schönes rousseauisches oder
Genfer Blut rinnt durch ihr deutsches Herz. — Schlichtegroll
hab’ ich um die Leute (und deren Adressen) gebeten, wodurch man
in die Akademie hineinkommt; ich sehe beim Henker nicht ein, 164,15
warum ich gar nichts werden und haben soll.


Das Folgende ist blos eine Frage an dich: ein Freund fragt mich
nämlich, ob ich nicht durch eine Konnexion in München dem Prof.
Voß in Halle, der seinem Ruf nach Dorpat gern eine Vokazion
in die erledigte historische Professur in Landshut vorzöge, zur letztern 164,20
verhelfen helfen könnte. Joh. v. Müller schätzt ihn sehr. Du weißt
am besten, was meine Münchner Konnexionen sind und vermögen.


Mir gehts wie dir, nur dir aus höhern und genialen Gründen;
nichts hoffend von der Philosophie, les’ ich doch die Philosophen.
Eben leg’ ich Asts Geschichte der Philosophie aus den Händen, die 164,25
mir sehr gut zu sein scheint und worin man die immer dünner auf
einander liegenden Luftschichten bis zum Ausgehen des Athems
herrlich hinter einander durchsteigt. Ast hält Schelling für den
Vor-Höchsten und schließt mit einer Verweisung auf eine Luft
schicht oder ein Werkchen von sich selber, das natürlich erst ein164,30
anderer philosophischer Historiker einzuschalten hat. — Hegel
sogar überraschte — nach seinem verworrenen Schreiben oder
Denken gegen dich — in seinem neuesten philosophischen System
mich sehr durch seine Klarheit, Schreibart, Freiheit und Kraft; auch
er hat sich vom Vater-Polypen Schelling abgelöset; wiewol man 164,35
alle diese nach einander abgehenden Arm- und Kopf-Polypen leicht
wieder in den Vater-Polypen stecken kann.


Dieß Bild sollt’ ich merken und ausmalen.

165,1

In München verlegt Scherer etwas Lustiges von mir; er gefällt
mir sehr, wenn er ist, wie sein Brief.


Ich hoffe, daß ich endlich einmal einen Brief geschrieben, worin
ich meiner politischen Gemüthsverfassung mit keinem Worte ge165,5
dacht. Ich muß aber daher schon auf dieser Seite aufhören und dich
und deine Schwestern herzlich grüssen (auch Ritter) und mich als
deinen alten Ernst-Vogel unterschreiben, als deinen



J. P. Fr. Richter;

denn auf dieser Seite in Betreff der neuesten und nachneuesten165,10
Verhältnisse würd’ ich wol schreiben: Und so weiter.


Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 6. September 1807. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=V_397


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961. Briefnr.: 398. Seite(n): 163-165 (Brieftext) und 331-332 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 7½ S. 8°. Präsentat: Jean Paul e. d. 12ten Sept. K (nach FB Nr. 56): Jakobi 6. S. ab 8ten. J 1: Roth Nr. 328×. J 2: Jacobi S. 130×. 163,35 erhaltenen] nachtr. H 164,6 und selten ist also] aus wird H 13 rinnt] fließt K 14 Leute] davor gestr. Namen H 24 der Philosophie] aus den Philosophieen H 28 hinter] aus auf H 29f. eine Luftschicht oder] aus sich H 36 nach] aus von H 165,4 geschrieben] aus schreibe H

163,34 Jacobis akademische Rede: „Über gelehrte Gesellschaften“, München 1807; vgl. Nr. 407. 164, 12f. Auguste Schlichtegroll war eine geb. Rousseau, aber in Berlin geboren. 17ff. Christian Daniel Voß (1761—1821), Professor der Philosophie in Halle; der Freund ist vielleicht Krause, der mit dem Philosophieprofessor Jakob in Halle in Verbindung stand, s. Bd. VII, Nr. 533, 273,14†. Die Landshuter Professur erhielt Köppen. 25 Fr. Ast, „Grundriß der Geschichte der Philosophie“, Landshut 1807. 31 Hegel: vgl. Nr. 377. 165, 1 Das Bild vom Polypen wurde — in etwas veränderter Form — verwendet I. Abt., XVII, 457,14ff. 7 Der Physiker Joh. Wilh. Ritter (s. Bd. IV, Nr. 299, 167,4†) war 1804 nach München an die Akademie be rufen worden.