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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 3. November 1797 bis 4. November 1797.

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Leipzig d. 3 Okt. [vielmehr Nov.] 97 [Freitag].

Der Erstling meiner Briefe gehöret dem Erstling meiner Liebe, Dir. Aber diesesmal erzähl ich mehr meine äussere Geschichte als meine innere; und noch dazu ohne Extra-Wörter.

Am lezten Sonabend entzog mich Plotho den Träumen der Ein samkeit: Nauendorf und sie war da. Am Sontage verlor Hof noch das, was Tithon behielt, die Stimme: das Kirchengeläute warf mir noch einige Laute der Vergangenheit nach. — Für 12 rtl. (incl. des Passagiergeldes) bin ich nach Gera geflogen wie nach Leipzig gewatet. Der blaue Engel in Schleiz und der schwarze Bär in Auma verdienen verwechselte Namen: der Engel fras, der Bär sättigte mich.

Um 10 Uhr Dienstags schossen wir ins lachende Gera ein. Niemand gefiel mir da mehr als der — Hausknecht. Spangenberg ist der Mark zieher meiner Kraft und ich falle mat hin: ich mochte nicht mit ihm in die Bekkersche „Erholung“. — Buchhändler Heinsius speisete mich abends wie der schwarze Bär — Wein, Weiber und Gesang und ein Nar sein Lebelang (D. Schmidt aus Jena) und ein Blinder, der meine Verbeugung gar nicht erwiederte, waren da. Heinsius Frau (Schwester Göschens) ist rundbackig, lebhaft, wizig und eine lebendige in einer chemise steckende Empfindung. Es war hübsch. Heinsius ist fein und höflich.

Den andern Tag um 10 Uhr fuhr ich fort, um früher auf den Weg zu kommen als der Regen. Der Fuhrman (noch freundlicher als sein Vor-Fahrer) nahm mit 8 rtl. gut Geld und meinen Nebenausgaben vorlieb. Überhaupt wust’ ich es so zu machen, daß ich mit 40 rtl. pr. c. meine ganze Reise abthat. Durch nichts lernt man mehr sparen als wenn man verthut.

In Pegau schlief ich. Jetzt fand ich schon sächsische Höflichkeit und — Spizbüberei: sogar die Accisbedienten und Fuhrleute haben ihren Theil Höflichkeit. Ich wil mich lieber betrügen als anschnauzen lassen. — Am Mitwoch bestreuete der Himmel meinen Weg durch die schon entblätterten oder entfärbten Laubenreihen bis ans Petersthor mit Schneeblüten, wie sonst meinen bayreuther mit Blütenschnee.

4ten Okt. [vielmehr Nov.]

Ich und mein Bruder wurden überal für Kaufleute angesehen, ob gleich nur ich mit Büchern handle. Unter dem Mauththor hatt’ ich nichts zu geben als eine Antwort. Ich fuhr zu Beygang — ich mus 1000 Dinge weglassen — er, sein associé und mein Korrektor (und so nachher alle Leipziger) empfiengen mich als wär’ ich wieder in Weimar. Ich sah flüchtig das Museum, dessen Verzierung, Bücher schäze und Bequemlichkeiten und Stille (denn es ist ein besonderes Sprechzimmer) die drei hochgewölbten Sääle zu himlischen Freudensäälen machen. Dan führte mich Herman in mein Logis, das mir mit seinen hohen Stuben, hohen Fenstern, herlichem Ofen (ich brauche ⅔ weniger Holz) und mit seinem neuen Ammeublement (die Kommode ist besser als alles was ich hineinlege) und mit seiner Hausherschaft (Kunsthändler Pfarr) und mit der gefälligsten Köchin (die immer neben mir in der Küche ist und die für 2 rtl. ¼jähr. alles besorgt) meinen Dank gegen Herman (den associé) immer höher trieben. Zu Mittag assen wir bei Beigang: seine Frau ist eine schöne etwas volle, gebildete und biedere Belgierin. Abends as ich bei Oertel im Hirsch. Herman führte mich hinauf. Sieh die Spiele des Zufals: so wohnt im Hohen thalschen Hause auf dem Markt (meines ist in der Petersstrasse) ein Friedr. Richter 3. Trepp. hoch — so ess’ ich aus Ek’s Hause, wo ich sonst as.

Oertel hatte schon vorher einen Brief deponiert, der mich zu einem einsamen Wiedersehen einlud: nach einer ½ Stunde macht er die Nebenstube auf und seine Frau — so gros und schmächtig wie Renate, weder schön noch unangenehm, aber mit liebequellenden milden Augen, die einem das Herz zauberisch wegziehen — fiel mir, obgleich noch Mutter und 2 Schwestern da waren, um den — Hals. Ich war so verwirt als froh. Ihre Kehle ist wie ihr Auge. Und da sie das Ver gismeinnicht und manche welsche Stücke sang: so kanst du leicht denken, wohin meine Ohren mein Herz führten und welche nahe zwischen den Tönen schwebende Vergangenheit mich zu tief bewegte. — Herman besorgt alles, wechselte mir 20 Ldr. mit 9 rtl. Gewinst und erpressete noch ein Quart — lief zu Traiteurs, bis er einen hatte, der mir das schmakhafteste und reichlichste Essen, 2 Porzionen, und vorher einen Küchenzettel, (woraus ich zwischen 2 Braten und 2 Gekochten Ein Gericht wählen kan) selber ins Haus schikt wöchentlich für 1 rtl. 18 gr. — Donnerstags abends war ich im Konzertsaal — über 100 Zuhörer — Pauken, ein pergament[ner] Donner — Orgel — Sängerin — kurz ich hörte das erste mal in meinem Leben Musik. Wie dem Adam die Thiere wurden mir Leute präsentiert, aber blos weil ich einen Namen hatte: wovon ich nur den Prorektor Erhard und den D. 〈M.〉 Michaelis mit Söhnen nenne. Leztere trinken morgends Thee, ziehen sämtlich Pelze an und gehen ins Museum und — abends nach Hause: sie haben da Wärme frei. Noch um 8 Uhr kam zu mir ein Mensch ohne Hut mit straubigem Haar, aphoristischer Stimme und Rede, frei und sonderbar, (Thyriot, ein Violinist und Philolog) und machte den beschwerlichen Sonderling, weil er mich für einen hielt. Sein 2tes Wort war, er bitte mich, das Logis zu verlassen, weil er mit mir unter einem Dache wohne und öfters komme; und fragte, wie ich an einen Ort ziehen [könne,] der mich nächstens [ Lücke ] werde. Und das geschie[ht] [ Lücke ] das erste mal bin [ich] [ Lücke ] höflich, und das 2mal [grob]. — Gestern war ich in der Oper mit Oertel, die ich mit 10 Weimarschen Bühnen erkaufte. Die Truppe tanzt Ballete wie geflügelt[e] Engel.

— Und nun mehr ists genug. Sei du mein historischer Repetent: denn ich habe kaum Zeit, etwas 1mal zu schreiben. — Mein Gotlieb wird 6 fl. zu dir schicken: brich sie auf und nim das Geld für die Leinwand und 2 fl. rh. für den alten Herman, dem ichs restiere.

[Schre]ibe mir alle historischen [Bette]leien von Hof so wie [alles] Wichtige. — Ich danke [dir] für dein leztes Geschenk, [da]s ein wahres Wundwasser auf der dürren Reise war: die gestrige Bouteille im italienischen Keller reicht deiner das — Wasser. — Umarme deine geliebte Schwester und deine Brüder in meine Seele und schwöre ihnen die Liebe in meine. — Ich hoffe daß mein Nachlas bald nachfährt, wiewohl mir Pfarr alles herzlich gern leiht. — Lebe wohl, mein Theuerer, aus Schmerzen erschaff ich mir jezt eine Zeit, wie ich sie in Weimar hatte — nämlich die künftige in Hof.


R.

Herolds Brief, worin die Empfindung sogar das Du gebraucht, würde dich freuen: dank’ ihm dafür und sage, der Abschiedsbrief sei mir lieber gewesen als jedes Abschiedsessen.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 3. November 1797 bis 4. November 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_1


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 1. Seite(n): 1-4 (Brieftext) und 386-387 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 10 S. 8° (defekt). K (nach Nr. 2): Christian. J 1: Otto 2,115×. J 2: Nerrlich Nr. 28. A: IV. Abt., III.1, Nr. 3. 1,2 Okt.] von Otto verb. in Novem. H 7 Hof] aus ich H, ich K noch] nachtr. H, fehlt K 8 Tithon] aus Thiton H 12 verwechselte] entgegengesezte K 14f. Marktzieher HJ (vgl. 234,32 ) 20 lebendige] aus wahre H 23 Uhr] danach gestr. regnete es H 27 abthat] aus machte H 2,1 Pegau] aus Auma H fand] aus empfand H 36f. kanst du leicht denken] weist du K 3,5 woraus] aus wo H 6 Ein Gericht] nachtr. H 14 Wärme] aus alles H 17 beschwerlichen] nachtr. H 20 J 1 ergänzt langweilen 31 die gestrige] aus eine H 36 erschaff] aus schaff H

1,6 f. Plotho, Nauendorf: s. Bd. II, Nr. 596f. Vgl. Sophie v. Brüningk an J. P., 23. Nov. 1797 (IV. Abt., III.1, Nr. 5): „Ich komme heute von Zedwiz. Fr. v. Plotho ... erzälte mir einige Szenen Ihrer lezten Erscheinung — Ihr Klopfen an die Thüre — Ihren Eintritt ins Zimmer — Ihren Abschied ... übermorgen erwarte ich Ploth[os], Nauend[orffs] und noch mehrere Gäste ...“ 8 Tithon: vgl. I. Abt., VII, 200,17–19. 14 Spangenberg: Heinrich, s. Bd. I, zu Nr. 240. 16 Heinsius: vgl. Bd. II, Nr. 667†. 18 Schmidt: vielleicht Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766—1849), ein Freund des Herderschen Hauses, später als Lyriker hervorgetreten; vgl. auch Bd. II, 347, Nr. 656. Blinder: Franz Adolph Sachse, s. Bd. VI, Nr. 68. 2, 11 Associé Beygangs war der Buchhändler August Hermann, s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.2, Nr. 288. 13 Museum: vgl. Bd. II, Nr. 510, 290,20†. 16 Logis: Jean Paul stieg also nicht erst im „Blauen Engel“ ab (Bd. II, 377,30 und 380,31). 20 Der Kaufmann Johann Gottfried Pfarr wohnte in dem neben Beygangs Museum gelegenen Hause des Grafen Christian Gottlieb von Hohenthal, Petersstr. 32. 22 Anakoluth. 24 Oertel: Friedrich, vgl. Bd. II, Nr. 211. Im Gasthof zum Goldnen Hirsch, Petersstr. 57, hatte Richter wohl schon als Student mit seinen damaligen Freunden Adam Lorenz von Oerthel und Johann Bernhard Hermann verkehrt. 27 Eck: vgl. Nr. 70†; er wohnte Petersstr. 120. (Leipziger Adreß-, Post- und Reise-Calender auf 1797.) 35f. Vergißmeinnicht: das von L. Schneider komponierte Lied von Max von Knebel; s. I. Abt., III, 295,24; M. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, I, 448. 3, 11 Christian Daniel Erhard (1759—1813), Professor der Rechte. 12 Christian Friedrich Michaelis (1770—1834), Philosoph und Ästhetiker, seit 1793 in Leipzig habilitiert. 16 Thyriot: s. Nr. 17†; seinen Bericht über diese erste Begegnung s. Persönl. Nr. 36. 22 Oper: in Leipzig gastierte damals die Truppe des Barons von Stentzsch aus Prag, Musikdirektor Wollaneck; am 3. Nov. 1797 wurde „Das Sonnenfest der Braminen“, heroisch-komisches Singspiel von K. F. Hensler, Musik von Wenzel Müller, gegeben. 28 der alte Hermann: der Vater von Richters Jugendfreund, der Zeugmacher war. 32 italienische Keller: vgl. Bd. I, zu Nr. 263.