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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 2. Juli 1798.

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L[eipzig] d. 2. July 98

Lieber Otto! Nichts wird mir jezt schwerer als Schweigen, — ob ich gleich in keine Posttasche etwas lege, die nicht nach Hof geht —, blos weil es andern leichter wird und weil mir durch die Flucht meines Samuels die lezte Ruine meines Vaterlandslebens umgebrochen ist, die noch vorragte. Du soltest die Leute um dich her — Amönen aus genommen, die zu leben weis, nämlich zu schreiben — zu Briefen anfachen an einen einsiedlerischen Insulaner, den die fremden Schiffe nicht über die Reste der frühern Jahre trösten. Ach man liebt nichts so sehr als was man lange liebte. Daher — um so mehr, da das Geschik mir mit zwei neuen Wolken den Weg zu 2 alten Wünschen zeigt, kurz da ich wieder zwei- wenigstens einerlei vorhabe, und da wir alle der Veränderung jezt zufliegen, nicht zugehen — steh’ ich für nichts, wenn 〈da〉 die Berlepsch nach Eger reiset. Sie wil mich mit haben. Das thu’ ich nicht; aber herwärts 〈im Septemb.〉 wäre viel möglich, wenn ich vorher 2 andere Reisen glüklich gemacht hätte. Ich meine nämlich, wenn Wernlein im September ein vernünftiger Mensch würde — woran wegen Kürze der Zeit zu zweifeln — und in Hof einliefe: so könten wir beide uns ja warlich in 1 Hafen treffen und alles wäre gut und in geraden Zahlen bestelt und nichts fehlte als Georg, der bleiben kan wo er ist. — Ich hecke hier ruhig dieses Ei und stelle dem Geschik sein Anbrüten oder Wegwerfen anheim; mach’ also nichts daraus.

3 Grazien hab ich fast hinter einander gesehen. Die Frau von Lede bur, die ich bei der Gräfin Münster gesehen und mit der ich zur Ber lepsch zog und vorher in einer schönen Junta nach Raschwiz, wo wieder etwas noch schöneres mit sanften linden Engels-Augenliedern war, eine Kriegsräthin Quandt aus Berlin, die mir Grüsse von la Fontaine brachte. Und aus demselben Berlin kam auch die Freundin Goethe’s, Marianne Meier, mit der ich wieder durch das Rosenthal zur B[erlepsch] zog und die eine hohe Stufe der weiblichen Bildung ohne Prätension und doch mit Kraft und Ruhe ziert. Überhaupt erstaun’ ich über die langen Flügel ausgebildeter Weiberseelen — nur daß unsere doch immer die Aeste bleiben, wovon und worauf sie fliegen — und über ihre Unähnlichkeit, anstat daß uns die Kultur zu Einem glatten Brei zusammenquirlet. — Die Meier, bei der ich as, so lange sie da war, kent denn doch viel Prinzen, welches den Teufel gesehen hat. — Die Skribenten ahmen mich jezt sehr nach, wodurch sie mich stärker und feiner kritisieren als irgend eine Zeitung: La Fontaine’s Julien hat es mein Schlegel öffentlich vorgeworfen; „eine Reise durch Sonne Mond und Sterne“ bei Hennings (wahrscheinlich von Spangenberg) thut es offenbar, es feh[l]t ihm nicht an Wiz und Phantasie, nur fehlt oft der Menschenverstand. — Ein anderer hat sich auf die Namen Matilde, Immanuel etc. eingeschränkt. — Klingers Buch hat leider Weissens Frau noch. — Die Konzilienakten bringe mit durch, weil ich die Wiederfoderung fürchte. — Schulz, der Verf. des Moriz, hat kein Gedächtnis, keine Besinnung, gar kein Leben mehr, er ist bis aufs Mark ausgehöhlt. — „mit kaiserlichen Freiheiten“ leiden die russischen Zensoren nicht, wegen der Revolu zionsfreiheit; so werden da auch französische Bücher mit Logarithmen verbrant. —

Jezt lies den Brief von Samuel und erst dan diesen hinaus.

— Dieser gefält mir wegen der Kälte des Herzens am wenigsten. Ich fasse nichts: sol ich ihn denn für so dum halten, daß er glaubt, seine Existenz in Erlang sei mir unbekant? — Gerade den bessern Rok schikte er mir, welches bei seiner Eitelkeit den Kauf eines neuen beweiset. — Ach wie wenig wird mir überhaupt meine Bruderliebe zurükgegeben! — Und ich sehne mich so nach fremder!

Der Titan umstrikt mich so, daß ich mit Mühe etwas Neues lese. — Lebe wohl und grüsse die Deinen.


R.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 2. Juli 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_103


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 105. Seite(n): 71-72 (Brieftext) und 413 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 7⅔ S. 16°. K: Otto 2 Jul. J 1: Otto 2,263. J 2: Nerrlich Nr. 40. 71,14 July] aus Juny H 18 umgebrochen] weggebrochen K 19 Amönen] aus Amöne H 20 nämlich] d. h. K 29 hätte] nachtr. H 35 anheim] aus frei H 72, 4 sanften linden] nachtr. H 13 zusammenquirlet] zusammenrührt K 17 mein] nachtr. H 18 Hennings] aus Heins[ius] H 20 nur] danach gestr. an Sin H

71,24 Die zwei neuen Wolken sind wohl die Sorge um Samuel und das Verhältnis zu Frau Hänel (vgl. 95, 10 †), die zwei alten Wünsche das Verlassen Leipzigs und die Verheiratung (vgl. 69, 17 ). 33 Georg Herold jun. (s. Bd. II, Nr. 563†), mit dem Otto gebrochen hatte. 72, 5 Wohl die Gattin des in Leipzig lebenden preußischen Kriegsrats Dr. Johann Gottfried von Quandt; s. Monumenta Germ. Paed. Bd. 36 (Delbrücks Tagebuch), S. 93, und „Thersites“ (Erinnerungen Garlieb Merkels), Berlin 1921, S. 114. 5f. Lafontaine: s. 76, 30 †. 7 Marianne Meyer, aus einer Berliner jüdischen Kaufmannsfamilie stammend, lebte in heimlicher Ehe mit dem Fürsten Heinrich XIV. von Reuß, nannte sich nach dessen 1799 erfolgten Tode Frau von Eybenberg, starb 1812 in Wien; mit Goethe hatte sie sich 1795 in Karlsbad angefreundet; s. Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 18. 16f. Aug. Lafontaine, „St. Julien und seine Familie“ (Familiengeschichten, 3. Bd.), Berlin 1797; Aug. Wilh. Schlegel im Athenäum, 1. St., S. 160. (Auch die 1801 anonym erschienenen „Eumeniden“ behaupten S. 81f., daß Lafontaine Jean Paul nachahme.) 17–20 Die „ Reisen unter Sonne, Mond und Sternen“, Erfurt (Hennings) 1798, sind nicht von Heinrich von Spangenberg (s. Bd. II, Nr. 443), sondern von Heinrich Schorch; s. Zeitschrift für Bücherfreunde, N. F. 4. Jg. (1912/13), S. 381. 21 Matilde, Immanuel: vgl. Klotilde und Emanuel im Hesperus. 23 Friedrich Schulz, s. Bd. I, Nr. 384, 348,12†; er starb am 27. Sept. 1798 in Mietau im Wahnsinn.