Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 9. Oktober 1798.
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Lieber Otto! Ein fremder Brief ist ein schöner Faden in der Antwort
darauf, die ich ohnehin so eilig zu geben habe. Grüsse
erstlich meinen105,1
in einer retraite
meiner Herzkammern wohnenden geliebtesten Ema-
nuel, der keinen Fehler hat als
seine italienische Buchhandlung[!] im
Briefschreiben; bei Renaten entschuldigt er das Schweigen
durch
mütterliche Geschäfte, bei mir aber nicht durch väterliche. —
Über105,5
und in den
R[eichs]Anzeiger hab ich selber etwas
Sanftes eingeschikt.
Mach immer deine Sache gegen Schlegel. Gott gebe, daß ich das
Blat
gegen ihn nicht wieder vergesse. Ich werde täglich kälter
gegen solche
Klozios redivivos. — Zu Emanuel
komm ich im Frühling gewis. —
Die Koehler war gotlob nicht bei
mir. Du weist schon, daß ich nach
105,10
Solons Psephisma, den Höfern ausserordentlich
entweder gut bin
oder aufsässig. — Ich denke den 22 Oct. in Weimar zu sein; in Weissen-
fels bleib ich bei Hardenberg, und den andern Abend bei Wieland,
um an einem Morgen mit so vielen Arbeiten einzufahren. Ich
bedarf
eines gymnastischen Orts, wo meine Seele eine
Palästra findet; einen105,15
Kampf- und Waffenplaz; Leute,
die einen anstrengen und übertreffen;
in <ad> altiora sagt der Geist — denn hier ist plattes
Land. — Ich
logiere bei dem Satler Kienholz auf dem Markt. — Gestern war
Thümmel mit Weisse bei mir. Gerade
wie — nur feiner und ge-
bildeter — wie dein Onkel Joerdens (in
Zedwiz) sieht er aus. Vom
105,20
homme de monde und d’esprit kont’
ich bei ihm nichts vermerken;
aber schönen redlichen
Germanismus der Treue. Nur als er mir sagte,
daß er im 6ten (vielleicht zu
Ostern kommenden) Bande noch schlim
sei und erst im 7ten (und leider
lezten) sich bekehre, fuhr ein sarkastischer
Glanz über das
deutsche Gesicht. —
105,25
Die Berlepsch ist hier, sie hat ihre Briefe abgefodert. Ihr
und
mein Betragen ist abgemessen — Gott gebe, daß es so
rastädtisch und
regenspurgisch bleibe — Darin stekt mein Friede. —
Hier kan man sein Haar entweder à la Brutus, oder Titus oder
Caracalla oder Alcibiades
verschneiden; unsere Köpfe wollen so
105,30
gut — und nicht um ein Haar
schlechter — die Alten nachahmen als
die grosse Nazion. — Die Weiber windeln leider jezt den Kopf
ganz
in einen Seiden-Turban ein; die Pariserinnen sollen wie ich
höre
ihren glat abscheeren. —
Lebe wohl! — Du kanst mir die Briefe noch hieher schicken.
105,35
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 9. Oktober 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_136
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 8°. J 1: Otto 2,350×. J 2: Nerrlich Nr. 46. B: IV. Abt., III.1, Nr. 87. A: IV. Abt., III.1, Nr. 93. 105,3 Buchhandlung] wohl versehentlich statt Buchhaltung 6 und in] nachtr. 14 an einem] aus am 17 denn] aus aber 26 f. und mein] nachtr. 31 die] aus den davor gestr. die grosse Nazion in der Nachahmung 33 wie ich höre] nachtr.
105,2 Otto hatte aus Bayreuth geschrieben, wo er 14 Tage zu Besuch bei Emanuel war, der die Retraite, einen ehemals fürstlichen Landsitz in der Nähe der Fantaisie, erworben hatte. 6 Reichsanzeiger: s. zu Nr. 126; Otto hatte angefangen, über die betrügerische Ankündigung der beiden Taschenbücher einen satirischen Aufsatz zu schreiben, der zugleich gegen die „Glotzischen“ Schlegel gerichtet sein sollte. 9 Klozios redivivos: vgl. I. Abt., VII, 494,13†. 10 Die Köhler: vermutlich Helene; Otto hatte erwähnt, sie sei nach Leipzig gereist; in A widerrief er die Nachricht. 18 Kienholz: die richtige Schreibung ist Kühnold oder Kuhnhold (vgl. Bürgermeister Kuhnold in den Flegeljahren); er war Maurer, der Schwiegersohn Sattler (s. 126, 21 ). Das Logis lag an der Westseite des Marktes, Ecke der Windischengasse. (Nach Ermittlung von Karl Bechstein, Weimar.) 20 Joerdens: s. Bd. I, zu Nr. 58. 22–25 Vgl. 22, 3 –6†. 26 Berlepsch: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 90. 27 In Rastatt tagte damals der Friedenskongreß. 29–32 Vgl. 73, 20 –24 und I. Abt., VII, 376,15f.