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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 30. November 1798.

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Weimar d. 30. Nov. 98 [Freitag].

Lieber Otto! Gestern erhielt ich deinen Brief, aber erst durch einen zufälligen 1tägigen Umweg über Belvedere. — Zuerst die Antworten! Ein Krankenlager ist bei mir unmöglich, wenns nicht ein chirurgisches ist. Sonderbar, ich paste ärgerlich hier auf euch und ihr auf mich. Aber bedenkt keine Seele mehr, daß ich vor Arbeiten, Lesenvon mehrerern langen Mspten, z. B. die Metakritik. — der herlichen Herderschen und Böttigerschen Bibliotheken — und Gängen und Briefen (denn durch meine Leipz[iger] Flucht hab ich wieder ein Brief Feleisen auf dem Hals) so wenig Zeit habe, daß schon das Annehmen eines Briefes eine ausführliche Antwort darauf ist? Du allein scheinst genügsamer, denn du verlangst, ich sol blos mehr schreiben wie du, welches wenig ist und ich auch in Leipzig that. Seit einiger Zeit halt ich mir ein langes Papier, worauf die Namen der Personen stehen, an die eben zu schreiben ist, welches jezt erst 15 sind. Blos dir widm’ ich die einfältigsten Briefe, weil ich in den kurzen an andere Leute nichts erzähle und nur Sachen treibe.

Der Mädgen-Briefwechsler Emanuel erbosset mich an meisten — jezt noch gar durch seine Ocher-Dinte (in deiner Satire), wovon es kein Beispiel giebt, selber nicht in deinem Dintenfas. Diese Dinte und dein Hineinkorrigieren geben mir einen Vorschmak, wie mir wäre, wenn ich ein gutes Manuskript aus dem Herkulaneum durch die Abrol Maschine, die monatlich einen Zol abwickelt, zu lesen hätte. Deine erst halb gelesene Satire ist ganz originel für mich, fein gewandt und anspielend und vol Wiz und Kentnisse; aber etwas Ordentliches sag ich erst nach der ganzen und 2ten Lesung. —

Glaube der Poss[eltschen] Zeitung nicht (der Aufsaz ist von Göthe). Es hat uns allen Langweile gemacht. Aber die künftigen 2 Stücke sind in seiner Giganten Manier. Ich bekomme sie künftig durch einen Schauspieler im Mspt. — — Deine Schwester bleibt die einzige, die mir Hof vordramatisiert, wenn sie leider nur nicht so lange schwiege. — Schicke mir den Imperativ des alten närrischen Partizipium in dus. — Die Bücher haben Zeit. —

Im bald zurükzusendenden Brief von Jakobi ist folgendes zu er klären. Ich schrieb in der Abzugswoche durch die Gräfin Münster an ihn und sagte mit: gegen den jezigen Fohismus etc. solten sich drei Weise aus Morgenland in einer Monatsschrift vereinigen, nämlich er, Herder, und — weil allemal ein Mohr dabei ist — ich, und dem Gottkind des Positiven Weihrauch etc. bringen. — Baggesens Brief ist mir moralisch widrig und ästhetisch angenehm.

— Mit Herder wachs ich immer tiefer zusammen; kaum 4 Tage können wir uns missen. Er gab mir seine Metakritik, gegen die ich viele Noten machte, durch deren Gebrauch er manchen dialektischen Quartstössen ausbeugt. Vor ihm und seinem Weib öfn’ ich mein ganzes Herz mit allen kühnen Urtheilen; in Leipzig hatt ich keinen solchen Ver trauten. Gewöhnlich abends nach dem Arbeiten vor 7 Uhr komm ich zur Frau, dan gehen wir oder ich hinauf zu ihm und bis zum Essen glüht Auge und Mund; und so fort bis 10½ Uhr. Wieland ist einige Tage jezt bei ihm und wir sind alle Abende beisammen, auch Einmal in der Zauberflöte; und es rührt mein Herz, wenn ich so die 2 guten alten verdienstreichen Männer vor mir sehe. — Göthen sprach ich bei ihm selber, und as in Jena bei Schüz mit ihm und mit Mdme Mereau (eine niedliche Miniatür-Grazie) Loder, Böttiger, D. Hufeland etc. (von Helfrecht hat er nur das niederschauende Auge und die Stellung, aber nichts von dessen Jämmerlichkeiten). Von Göthe weis ich nichts zu sagen so wie von Schiller; beide waren freundlich. Schüz lud mich und Böttiger und einen Legazionsrath Gerning. Wir schliefen bei ihm. Und noch hängt bei mir der Pelz dieses Redakteurs, worin ich nach Hause fuhr. Er ist der gefälligste Man. — Die regierende Herzogin lies mich (auf meinen durch allerlei Hände gehenden Wunsch) zu sich rufen. Ich liebe diese edle stolze und so mütterliche Frau herzlich. Bei der ersten Vorstellung hat mans mit diesen Leuten leicht. Da nur sie fragen (daher sie auf Biographie, die Quelle ihrer Fragen, so aus sein müssen) so lebt man ganz ruhig, man erwartet seine Question und giebt dan sein Feuer.

Ich weis nicht, ob ich schon gesagt, daß ich durch Thümmels Hülfe, 500 rtl. preuss. in der Altenburger Bank à  2½ p.c. untergebracht. —

Mein gröstes Labsal ausser Herder hier ist meine Hausfrau. Nie war ich so Stuben-glüklich. Ich wil nur etwas von unserem Verhältnis anführen: ein an sich geräumiger Nachttopf wolte doch nicht zulangen, wenn ich gerade schrieb, weil er und das Dintenfas wie natürlich in umgekehrtem Verhältnis vol und leer werden. Die Frau sah, daß ich oft die Treppe in der Kälte hinabmuste. Sie brachte mir also einen ganz neuen Bowlen-mässigen getragen, bei dem ich 8 Seiten schreiben kan. — Sie sorgt für Holz, Tabarro (denn heut geh ich [in] die Retoude mit einer Augen-Achte, und esse abends vorher bei Herder und Wieland), für Wohlfeilheit, wäscht, wenn ich verreise, wie meine Mutter, alles, sogar das Dintenfas, und ich kehre (wie) in eine wartende Familie zurük. Ihre Tochter ist schön und gut wie der Schwiegersohn <Satler>. Der Man, ein Leser und Zeichner architektonischer Bücher, (er ist Rathsmäuerer) ist sanft und dreht mit ihr Wulgern, die Gänse zu „fretzen“ (zu stopfen). Bei seinem Geburtstage bekam er 4 Tortenund so bekomm’ ich von allem was sie bäkt und hat, erwieder’ es aber. und von mir 1 Bout. Malaga. Die Herzogin Mutter sagte mir, meine Hausfrau läse sehr. Ich fragte diese; es kam daher: einmal hatte sie das ökonomische Lexikon zum Lesen auf der Bibliothek begehrt — man wunderte sich — es wurde für sie angeschaft. Der Teufel hole junge Aufwärterinnen. — Ich gebe ihr das Geld im Grossen und einen Beutel dazu — und dan neues ohne Rechnung. Sie ist hochachtungswürdiggut.

Da alle Welt mit dir überein stimt und auch Jakobi und die Kalb: so mach’ ich mir über die Palingenesien keine Sorge mehr, ob sie gleich in verdamter Liebes-Pein geboren wurden. Ach die Berlepsch hat mir viel genommen. — p. 194 im 2 Th. der Palingenesien fuhr in meiner Seele mitten [in] der komischen Arbeit der Entschlus, ihre Hand anzunehmen, wie ein Sturm auf. —

Apropos! Der sphragistischen Zufälle wegen wil ich künftig folgende NB. Chiffern brauchen:


Arche bedeutet Göthe — Taube die Herzogin — H. Geist die verwittibte Pegasus Herder Nachtigal sie Osterlam Herzog.
Ach ich komme nie dazu — als in Hof — dir mein Herz aufzublättern. Nur Einmal wenn ich dich in meinem Siz der Seeligen hätte! Du köntest wohl; aber du thusts nicht aus zu grossem Stolz und zu grosser Bescheidenheit. — Drinnen bei euch hab’ ich dan des Guten auf einmal zuviel; und hier wäre die blosse Friz schon etwas für meine Erinne rungen. Im künftigen Jahr komm ich im Frühling und im Herbst. Es ist ein Kazen- oder doch Gemsensprung. Ach hier wenn ich dich hätte, unter den Meinigen, vor Herder, in meiner alten Stube und könte so zugleich strömen und trinken. Dieses Blat wird deinen Geburtstag antreffen; aber diese drückende Kluft zwischen dem Tage und dem Wunsch, und dan wieder zwischen der Erinnerung und ihrer Ankunft! O wär er doch nur 1½ Monate früher, so müst ich ihn mit und neben dir feiern, mein theuerer Christian, es würde uns wohl alle beide zu tief erregen — ach was thät’ es bei mir, wenn ich nur über die gesunde Unschädlichkeit deines zu hoch wogenden Herzens gewisser wäre. Nein, wir werden doch nicht ganz glüklich, bis wir einander jede Woche sehen können. Aus meinem Kopfe ist manches, aus meiner Brust gar nichts gewichen was der Liebe und Freundschaft gehört. O du Guter! feier’ ihn, deinen Neujahrstag fröhlig, und nicht zu sehr weinend, an dem Herzen unserer Freundin. — Jezt gut! Ich kan an dich und meine Mutter nie lange mit troknen Augen denken. Schlaf wohl! d. 1 Dec. Heute send ichs auf die Post.erst den 2ten, weil Herder den Jakobi hatte. Gegen den herlichen Abend bei Herder konte die Retoude nicht recht aufkommen. Ich fand aber darin lauter schöne Gestalten, und doch keine, woran nicht das oder jenes Geistige fehlte. Ich dachte heute (nicht auf Lorbeer- sondern) Mohnblättern auszuruhen; aber eben werd ich (und Herder und Wieland) zum diner bei dem h. Geist invitiert, das einen ausser aller Ordnung sezt, weil’s erst um 3 Uhr anhebt und weil man ungemein viel dabei [trinkt?]. Aber morgen sol Ordnung se[in, wenigstens] Vormittags, [denn Nach]mittags ist Sontag. Leb wohl Geliebter.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 30. November 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_164


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 167. Seite(n): 124-128 (Brieftext) und 434-435 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 14 S. 8° (am Schluß defekt). K (nach Nr. 158): Otto 30 Nov. J 1: Otto 2,366× (der Schluß gehört zu Nr. 288; der richtige Schluß ist fälschlich zu Nr. 179 gezogen). J 2: Nerrlich Nr. 48×. B: IV. Abt., III.1, Nr. 101. A: IV. Abt., III.1, Nr. 110. 124, 14 30] aus 29 H 19 mehr] nicht K 24 blos] stand erst nach verlangst H wie] als K 25 wenig] aus leicht H, leicht K 27 eben] nachtr. H 28 den kurzen] aus denen H 32 selber nicht] aus nicht ein[mal] H 125,1 die] seine K 4 und Kentnisse] nachtr. H 8 künftig] nachtr. H 11 Partizipium] davor gestr. Plusquam- H 13 bald zurükzusendenden] nachtr., bald doppelt unterstr. H 19 mir] nachtr. H 24 kühnen] nachtr. H 25 abends nach dem Arbeiten] nachtr. H 32 Loder, Böttiger] nachtr. H 33 die Stellung] aus den Stand H 35 freundlich] davor gestr. freilich H 126,2 auf] davor gestr. allemal H 6 erwartet] aus passet H 11 Stuben-] nachtr. H 13 wie natürlich] aus gerade H 16 kan] aus wil H 20 wartende] nachtr. H 32 mit dir] nachtr. H 127, 1 f. ihre Hand] davor gestr. sie H 3 sphragistischen] nachtr. H 12 in] aus an H 19 zugleich] nachtr. H 23 und neben] nachtr. H 25 gesunde] nachtr. H 27 ganz] nachtr. H 31 Jezt] aus Nun H 33 1 Dec.] aus 30 H 128, 6f. ergänzt aus K (H defekt)

Otto erhielt den Brief am 9. Dezember, seinem Geburtstag (s. 139, 5 ). 124, 17 f. Otto hatte Jean Paul wegen seines Schweigens für krank gehalten. 31 Otto hatte seine Satire über Cölestin (s. zu Nr. 136) geschickt, und zwar in einer noch nicht ins reine geschriebenen Fassung (s. seinen Brief an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 126). 125, 6 –9 Otto hatte geschrieben, er habe in der Posseltschen Zeitung über das neue Theater in Weimar und Schillers Wallenstein gelesen; es handelt sich um Goethes Bericht über die Erstaufführung von Wallensteins Lager in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (der Fortsetzung von Posselts Annalen, s. Bd. II, zu Nr. 296) vom 7. Nov. 1798, worin es heißt, über das Unterhaltende des Stückes sei im Publikum nur eine Stimme. Jean Paul hatte das Stück bei der zweiten Aufführung am 3. Nov. gesehen, s. 114, 2 †; vgl. auch 135, 29 , 155, 8 –10 und Persönl. Nr. 129. Das Wallenstein-Manuskript hoffte er wohl von dem Schauspieler Schall zu bekommen, durch den sich Böttiger das Manuskript von Wallensteins Lager zu verschaffen gewußt hatte, s. Archiv f. Literaturgeschichte IX, 39 und XV, 388. 11 Otto hatte von einem Zirkular erzählt, worin der „alte Bergherr“ (Herold) etwas Närrisch-Eiteles vom (kategorischen) Imperativ geschrieben hatte; vgl. I. Abt., Bd. II, 192,19. 18 Baggesens Brief: an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 99. 29 Zauberflöte: am 28. Nov. 1798. 30–32 Vgl. Goethes Tagebuch v. 24. Nov. 1798: „Abends bei Schütz. Waren zugegen: Böttiger, Richter, Loder; Hufeland, Mereau, Succow mit Frauen; Dem. Geisler von Wittenberg, Gries.“ Christiane Vulpius schreibt am 27. Nov. an Goethe, Richter habe sich in Jena ein Räuschchen getrunken und sich in die Madame Mereau verliebt. 33 Helfrecht: Rektor in Hof; die Parenthese bezieht sich auf den Mediziner Hufeland. 36 Johann Isaak von Gerning (1767—1837), Diplomat, Kunstsammler, mit Knebel und Herder befreundet. 126, 3 –7 Vgl. I.Abt., X, 430,13–24 (Flegeljahre Nr. 59). 8f. Vgl. 108, 27 f. 23 Wulger oder Wolger: Mehlnudel. 27 das ökonomische Lexikon: wohl die Enzyklopädie von Krünitz (Berlin 1773ff.) 35 Palingenesien: I.Abt., VII, 310, 6–9. 127, 15 die Fritz: wahrscheinlich Spitzname von Julie Herold (s. Bd. II, Nr. 228†), wohl nach ihrem ersten Vornamen Friederike; vgl. Otto 3,381 und 4,91. 22f. Jean Paul meint, wenn Ottos Geburtstag, statt am 9. Dezember, im Oktober wäre, so wäre er vor seiner Übersiedelung nach Weimar nach Hof gekommen.