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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 3. Dezember 1798 bis 8. Dezember 1798.

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Weimar d. 3 Dec. 98 .

Geliebtester Jacobi! Ihre Antwort brachte mir unter meine hiesige Himmel den dritten mit. Sie hat mein ganzes Herz erquikt und erwärmt. Ich sagte schon seit mehreren Jahren überal: ich mag keinen Autor mehr sehen, ausgenommen Einen, Sie. Ich mus es, aber möge Ihr zweites Ararat ein näheres sein als Eutin.

Ich wil erst Ihren Brief nach der Seiten-Topik beantworten.

Baggesen ist, wenn ich lesend rathen darf, eine blühende frucht tragende heisse Welt, aber mit einem moralischen Schwerpunkt ausserhalb des Mittelpunkts — Der vortrefliche, humoristische, ächt wizig und frei zusammenfassende Baggesen kan nie Ruhe finden, nie wissen was und ob er liebe und kaum Eigennuz und Opfer trennen. —

Mein Titan ist und wird gegen die algemeine Zuchtlosigkeit des Säkulums gewafnet, gegen dieses irrende Umherbilden ohne ein punctum saliens — gegen jede genialische Plethora, d. i. Parzialität — gegen die ästhetische (artistische) und philosophische Trennung des Ichs von der Beschauung, als müsse nicht diese auf jenes wirken, es voraussezen, nur durch dasselbe gelten und darin früher und später wohnen als in der Abstrakzion.Dieser mislungene Ausdruk wil sagen, daß sowohl der Genus als das Prinzip der dargestelten (ästhetischen oder philosophischen) Gestalt ja nicht wieder in der Darstellung liegen könne. Beinahe jede Superfötazion und jedes hors d’oeuvre der menschlichen Natur sol im Titan Spielraum für die eignen Fehler finden; obwohl diese Moral nur in jener Freiheit darin lenkt und predigt, womit die poetische Gerechtigkeit der Moral sich in der Wirklichkeit hinter das tausendfache Räderwerk der WeltMaschine verbirgt. Der gewöhnliche Leser mus im ästhetischen Werke wie im kosmischen um uns überal nur Physik und nirgends Endabsichten antreffen. — Eigentlich ist doch im Weltal jede Physik Metaphysik und Teleologie, und jedes Gesez der Natur wird nicht von Endabsichten begleitet, sondern sogar gemacht, und diese thun entweder nichts oder alles, wie ja der volendet-moralische Mensch schon keine Adiaphora und in der elendesten Handlung einen moralischen Willen haben müste.

Verehrtester Freund! Ich sage alles dieses nur mir und lassen Sie mir dieses epistolarische Soliloquium zu!

Ihre vortrefliche Antizipazion aus Ihrer Schrift ratifiziert zu meiner grösten Freude das was ich Göthen auf seine Frage über Fichte antwortete: „er ist der gröste Scholastiker; aber die ganze Sekte hält das Licht (oder das Auge) für das Objekt.“ Ich sezte noch dazu: zum blossen scharfsinnigen Philosophen kan man sich machen durch Fleis, indes dem tiefern ausser dem Auge auch die Gegenstände mitgegeben sind. Ich finde in Fichtes System eine moderne Luftleerheit (kenn’ es aber nur aus dem Niethammerschen Journal und aus seiner hinten treflichen Moral) und halte das Prinzip, das das Bewustsein erklären sol, nämlich das Zurükwirken auf sich, aus einem häslichen Anthropomorphism hergeholt, da Wirkung auf sich nichts heisset als die Verwechslung der Wirkung auf das Vexier-Ich (den Leib) mit der aufs avthentische. — Seine Erklärung ist eine viel kühnere und dunklere Voraussezung als das zu erklärende.

O guter Jacobi! wie leicht rettete ich mich durch alle kritische und fichtische Strudel blos mit Ihrem Ruder. Schon die einzige VII. Bei lage in Ihrem ewigen Spinoza ist die Rechtfertigung, der Inbegrif, die Auflösung und das Gegengift der ganzen Kantischen Vernunft kritik.

d. 5 Dec.

Es that mir weh, guter Jacobi, daß der Dolch der Krankheit immer an Einem Haare über Ihnen hängt. Man sagte mir einmal von Ihrer Migraine. Ich war früher durch Wassertrinken in demselben Fal; behandelte mich aber als asthenisch, obwohl ohne Brown und half mir durch Bier und Bitterklee. Mein Selbst-Emanzipieren von allen Doktorhüten hat meinen Kopf und die suffixa konservieret; und ich vertrage 12 Stunden Arbeiten und 12 Stunden Marschieren. — Schreiben Sie mir etwas Bestimtes über Ihr Kranksein und über das Gegentheil, d. h. alles. Adam Smith sagte, es wär’ ihm lieb zu wissen, daß Milton Riemen stat der Schnallen in den Schuhen getragen: wahrhaftig ich weis über Ihre chaussure noch wenig, und es sol mir lieb sein, hinter die Sache zu kommen.

Weimar kan so wenig als eine Ponaeropolis auf mich wirken, wie meine vorigen Städte als Moropoles. Erstlich sind die Städte mehr zu loben.Für eine Seele wie die Ihrige ist es begreiflich und nicht kleinlich, daß ich ein Stük häuslicher Glükseligkeit durch meine Miethsherschaft antizipiere, deren kindliches Wohl- und Recht-Wollen in ein früheres Jahrhundert zu gehören scheiut. Zweitens schrieb ich in einem Marktflecken unter dem Krumschliessen der Verhältnisse und entgegengesezter Geselschaft die Mumien und den Hesperus, und in Hof und Leipzig den Rest ohne andere Aenderung als die des — Kopfes. Die Wirkung des Kontrasts lass’ ich weg. Und dan, was sind alle meine vorigen Stunden gegen eine bei Herder, diese klingende Säule in der dumpfen feuchten Baumans höle der Welt, diesen nicht blos mit der Feder, sondern mit dem Herzen, mit dem Leben, mit dem Denken dichtenden Geist, dessen körperliche Stimme schon in mein innerstes Herz wie ein Harmonien-Echo geht. Und wir lieben uns recht; o guter edler Jacobi, wie glüklich und wie heis und wie liebend würd’ ich an Ihrem so lange geliebten Herzen liegen und wohnen! —

Haman wäre der andere Mensch, den ich sehen möchte, wenn nicht der Tod zum Präsentieren nöthig wäre, eine von der Studierstube durchs Empyräum reichende Gestalt, für welche nichts klein und nichts gros war, sondern alles verknüpft wie Orthographie mit Heterodoxie. Sie sind diesem Geiste eine Kollegial-Unsterblichkeit schuldig durch Aufnahme seiner Juwelen-Kolibri-Werkgen in Ihre, mit 10,000 Noten ad usum delphinorum.

Was die beiden lieben Novem- und Dezembrisierer und ästhetischen enfans perdus, die Schlegel, anlangt: so ist nichts dabei zu machen als ein Spas; — und dieser kaum. Ich hätte längst einen kleinen mit diesem Zwillingsgestirn, wodurch niemals Phöbus gieng, exemplarisch getrieben — wär’ ich von dessen unmoralischen Absichten überzeugt gewesen. Da ich aber das nicht bin — vielmehr das Gegentheil erfahre, so tief sie mir auch ihre Saugestacheln in die poetische Ader sezen — so kan ich nie sie bekriegen, sondern nur ihre Prinzipien; und hier sind, wie im Leben, widersprechende Beispiele besser als widersprechende Annotazionen. Ich kan meiner toleranten Vernunft und meinem weichen Herzen keine Personalsatire mehr abgewinnen, so viel leichter und reizender sie auch wäre als die perennierende. Wer Sie verstand, hasset Schlegels bulla in coena domini und ihn selber — ob er sie gleich, wie mir ein Freund von ihm sagte, ohne andere Teleologie als angeborne geschrieben haben sol —; zumal da Ihr Werk gerade gegen jenen genialischen Sonnenflecken die Seifenkugel bringt, den er zugleich vorwirft und selber trägt. — — Bei mir war, wie bei den Deutschen, Philosophie früher als Dichtkunst; Planeten sieht man abends früher als Sonnen, wiewohl hier wie überal im Universum (Gott ausgenommen) nur die Stufe unterscheidet, und nicht die Art. Seit 10 Jahren aber geh’ ich in allen konzentrischen Ringen des Pindus leichter herum als im untersten kritischen.

Ach ars (et artes) longa (et longae) et vita brevis und die Kan tischen Perioden sind so lang und wie jede Weitschweifigkeit so dunkel. Kurz ich habe, meine Jugend ausgenommen, in allen Wissenschaften leichter herumgelesen als in der Philosophie, — wenige Kantische und Ihre Werke ausgenommen. Und eben darum, unendlich theuerer Geist! — fals Sie in diesem Winter nichts öffentlich geben — eben darum versagen Sie Ihrem treuesten und innigsten Schüler nicht alles! Noch keine Philosophie — ausser der der Alten — hat mich so tief angefasset und das Licht in den düstersten Schacht so reinigend gesenkt als Ihre, und keine studiert’ ich wiederholter, da darin die breitesten Fenster blos durch die um sie aufgehäuften Schäze zuweilen zugedekt und verfinstert werden. Jeder Mensch wird zu irgend einer Philosophie wie zu irgend einer Dichtungsart geboren. Und darum sollen Sie, wenn Sie zu Ostern nichts geben, mir zuweilen einige Bogen über was es sei vorstrecken. N. B. sub conditione disciplinae arcani.

d. 6 Dec.

Ich besuche Sie hier auf dem Papierschnee jeden Abend, wenn ich aus meinem Dämmerungs-Hesperien zurükkomme. Dieses besteht darin blos, daß ich im Finstern auf und ab laufe und singe und träume und denke und fast zu glüklich werde. Beim Himmel ich wars und bins überhaupt zu sehr, (auch in meinem Siebenkäsischen Streite mit Armuth, Verhältnissen und Publikum) und es fehlet meinem Paradies nichts als eine — Heva, die ich noch dazu wie Miltons Adam schon oft genug vor dem — Aufwachen gesehen.

d. 8. Dec.

Ich wil heute nicht eher in die Oper gehen als bis ich meine brief liche geschlossen. — Vor allen Dingen und Bitten thu’ ich die fünfte an Sie, mir — und meiner Zeit-Armuth — nicht nur den Brief und so viele Gedanken darin zu vergeben, sondern auch die unhöfliche Kako-graphie. Zweitens das Gegentheil der 5ten, mir über meine Bücher nicht zu vergeben, sondern daran (das Lob wil ich errathen) zu tadeln, wenn das in einem Briefe thunlich ist. Drittens die 4te, einen eben bald zu geben. Beim Himmel, Ihre grüne Brieftasche ist mir eine andere als die grüne des Hrn. v. Sartines, es ist der grüne Rasen, das Wintergrün, das den Lerchen im Bauer die Auen ersezt. Viertens die vierte — aber diese, einzelne Bogen betreffend, that ich schon oben. Und nun segnendes Schiksal, das mir die so lange gepflegte Sehnsucht nach diesem geliebten Herzen erhörte, mach’ dieses immer froher und mich seiner werther, und wenn ich Ihm einmal ins Antliz schaue, mög’ ich darauf keine Spuren von den kalten Schatten dieser Wolken-Erde finden — Und gieb ihm überal Liebe! — Welche hohe Stunde, geliebtes Wesen, steht noch in meiner Zukunft!


Richter

N. S. Die Sardonische Thersites Rezension in der A. L. Z. über unsern Schlosser ist von Schelling. — Zu Ostern edier’ ich: „J. P. Briefe nebst dessen künftigem Leben.“ — Lebe heiter, schöne Seele!

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 3. Dezember 1798 bis 8. Dezember 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_167


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 170. Seite(n): 128-133 (Brieftext) und 436 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K: Jakobi 3 Dec. J 1: Roth Nr. 272×. J 2: Jacobi S. 4× (wahrscheinlich nach J 1). *J 3: Zoeppritz Nr. 62 (nach einer Abschrift). B: IV. Abt., III.1, Nr. 97. A: IV. Abt., III.1, Nr. 137. 128,32 den dritten] einen 3ten K 129,10 ein] so K, cui J 3 21 kosmischen] so K, Kosmischen J 3 130,7 Anthropomorphism] so K, Anthromorphism J 3 hergehohlt K 12 mit Ihrem] durch Ihr K 18 Einem] so K, einem J 3 22 suffixa] so K, Suffixa J 3 30 vorige J 3 Moropoles] so K, moropoles J 3 131, 22 Absicht J 3 24 Saugstacheln K 132, 11 Schacht] danach nachtr. der Seele K 13 angehäuften K 14f. Philosophie wie zu irgend einer] so K, fehlt J 3 19 sie J 3 20 Hesperion J 3 25 Heva] so K, Eva J 3 35f. eine andere] lieber K 36 Rase J 3 133,4 ihm K 9 A. D. L. J 3

Nr. 167—170 sind jedenfalls zusammen abgesandt worden. 129, 4 –8 Baggesen: s. Nr. 170†. 17–20 Vgl. I. Abt., XI, 68, 27–30. 22f. Vgl. I. Abt., XI, 86,4f. 30 Jacobi hatte anscheinend einiges aus seiner damals schon begonnenen Schrift „Von den göttlichen Dingen“ mitgeteilt, vgl. seinen Vorbericht zur 1. Ausgabe (1811). 32ff. Vgl. 94, 14 –18†. 130, 4 Niethammersches Journal: s. zu Nr. 138 und IV. Abt. (Br. an J. P.), III.1, Nr. 53. 5 Fichtes Moral: „System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“, Jena 1798. 12–15 VII. Beilage in Spinoza: vgl. I. Abt., IX, 475,35. 21 Bitterklee: vgl. Bd. II, Nr. 316, 195,23†. 29f. Poneropolis: Stadt der Bösen (bei Plutarch); danach bildet Jean Paul Moropolis, Stadt der Dummen; s. II. Abt., III, 326,37†. 31 Marktflecken: Schwarzenbach. 131, 14 f. Jean Paul denkt an Hamanns Schrift „Neue Apologie des Buchstaben h“ (1773); vgl. I. Abt., XI, 359,34f. und III. Abt., Bd. VI, Nr. 629†. 31 ein Freund Schlegels: Novalis, vgl. 282, 20 ff. 132, 25 f. Milton: Paradise Lost, 8. Gesang. 28 Oper: am 8. Dezember wurden „Die theatralischen Abenteuer“ von Cimarosa und Mozart gespielt. 35f. Vgl. „Die grüne Brieftasche des v. Sartine, welche bei Mlle du Thé gefunden worden“, aus dem Franz., Haag 1779, und Wekhrlins „Chronologen“ II (1779), 255—277; Jacobi schrieb wegen seiner Augenkrankheit meist auf grünem Papier. 133, 9 f. Joh. Georg Schlossers gegen Kant gerichtetes „Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studieren wollte“, rezensiert in der Allg. Literaturzeitung v. 5. Okt. 1798, Nr. 299.