Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 8. März 1799 bis 21. März 1799.
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165,26
Ältester Bruder meiner Seele! In deinem Wörtgen Du liegt
ein
langes verlebtes Beisammensein — ich könte dir jezt
alles sagen, meine
jämmerlichsten Kleinigkeiten und
Sorgen, meine Leibgerichte und165,30
alles.
Die Insolazion des blauen Himmels hat dich nun gewis wieder in
deinen eingesezt. Auf deinen Brief an Fichte lauer’ ich
mehr als auf die
ganze Ostermesse.
Deine Vorrede ist eine fast demonstrative Parodie der Jenaischen
166,1
Paralogismen; und aus diesem Scherz ist tiefer Ernst
geworden. — Ich
wolte, das Schiksal hätte dir und Salomo
nicht das gegeben, was ihr
nicht begehret habt, damit ihr andern das öfter gäbet, was
sie auch
nicht begehren. —166,5
Hier nim mein musivisches Steingen zu deiner Almanachs Musaik.
Ich schlug bisher den periodischen Schriftstellern mich
ab, weil ich
zu meiner Renbahn ein Ries Drukpapier vor mir
haben mus — weil
kleine Romane bei mir zu grossen werden —
weil Satiren keiner gern
mag — weil ich mit Leib und Seele
immer nur in Einer Hauptarbeit166,10
webe und lebe. Aber
dir und deinem Bruder gab ichs mit Freuden;
ja gefälts dir nicht, so zeug’ ich etwas anderes und
sogar was — du
vorschreibst. Die Nothwendigkeit ist bei
mir eine musa (tacita).
Ich fürchte, Baggesen hat auf sein Sendschreiben ein
geistreicheres,
längeres und wärmeres d. h. ähnlicheres erwartet als mein
Billet166,15
war; thue für mich die 5te Bitte an ihn. Wüst’ er meine Plane,
Satiren, Gleichnisse, Abhandlungen die schon da liegen und
die in
20 Jahren kaum zu edieren sind — und in 20 Jahren
wächset eben so
viel neues wildes Fleisch nach —: so würd’
er sich wundern, daß ich
mir nur noch Zeit nehme zu
schreiben Weimar den 6ten.
166,20
Ach Bruder, nun quälet mich dein Bild. Denn ich wil zu dir, mein
Herz schlägt nach dir. Nur auf 2 Tage wenn die Sarawüste
der Haide
sich durch einen Erdfal abkürzte. Schreibe mir Baggesens Hochzeit.
Ich komme vielleicht, wiewohl mit vieler Hofnung, mich zu
— ver
loben. Beim Himmel! das ist mir
nöthiger als Himmelsbrod. Hätt’166,25
ich eine Frau — das
heisset bei mir blos ein junges, ganz sitlich
reines, helles weibliches Wesen, keine
genialische — so fragt’ ich nach
dem Gelde und nach dem
Abendessen etwas, und nach Geselschaften
weniger und nach
dem Leben mehr, das meine poetischen Träume
immer
durchsichtiger und flitterhafter schlagen. Deutsche
Weiber
166,30
such’ ich zuerst in Niedersachsen; gallische und
Teufelsgrosmütter viel
südlicher.
— Nim es mit dem vom Staate etc. gebognen und wundgeriebnen
Herder nicht genau. Er trägt auf seinen zarten Zweigen
ausser den
Früchten die Konsistorialwäsche, die jener an ihn hängt
zum Troknen.166,35
Ach welchen Zederngipfel würd er
treiben ausserhalb der Kanzeldecke
und Sessionsstube. —
Ich habe Schellings Weltseele mit viel Vergnügen und Erbossung
167,1
gelesen, jenes über den Scharfsin, diese über das Ende und
über die
mechanische oder atomistische Philosophie, die in
jeder Minute über
die atomistische Physik klagt. Er hat
heraus, was das Leben ist.
1) Erstlich besteht es darin,
daß das algemeine Leben stat der geraden167,5
Linie einen
Kreis beschreiben mus; dadurch wird aus dem ungeheuern
Meer
etwas individuelles und bestimtes ausgehoben 2) dieser Kreis
besteht darin, daß das aus blossen chemischen (Des- und Oxydazions-)
Prozessen bestehende negative (oder todte und mechanische)
Lebens
prinzip vom positiven
glüklicher Weise angetroffen und belebt werde;167,10
dan gehts. Das positive, worauf ich durch das ganze Buch
hofte,
weis er nicht weiter anzugeben als daß es im
Algemeinen überal size
und blos bei glüklichen Anlässen
sich als Vieh etc. zeige. Und so durch
die Assumpzion
eines algemeinen vagabunden Lebens wird jedem
Vernünftigen
das örtliche klar genug.167,15
Ich werde stets gelassen bei so etwas bleiben; aber das verstatte
mir, darüber des Teufels zu werden — Ich bitte dich sehr,
mir über
den „Brief an meinen Sohn Hans Paul über die
Philosophie“ so wie
über die Abhandlung über das Träumen in meinem künftigen
Buche,
dein Urtheil zu sagen.167,20
Vergieb, so wie das schnelle Schreiben, den schnellen Schlus meines
durch die Lustreise nach Gotha so
lange unterbrochnen Briefs. Ich kan
dir meine Verwiklung in Briefe und Bücher nicht stark
genug sagen.
Schreibe bald, mein Bruder und geniesse eines milden Frühlings!167,25
Gestern beschlos ich mein 36tes
Lebensjahr; und mein reichstes, denn
es gab mir dich. Und
jedes künftige lasse dich mir! Lebe froh du Guter!
Herder grüsset dich und die Deinigen herzlich wie
ich.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 8. März 1799 bis 21. März 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_226
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°. Präsentat: Jean Paul e. den 1sten Apr. 1799. beantw. den 29ten —. Zum Anfangsdatum hat Jacobi zugesetzt: abgegangen den 21ten —. K: Jacobi den 21 März. J: Jacobi S. 10. B: IV. Abt., III.1, Nr. 137. 165,29 verlebtes Beisammensein] Beisammengew[esen]sein K 166,8 Drukpapier] aus Papier H 11 gab] aus geb’ H 13 bei] nachtr. H eine] aus die H 14–20 von Jacobi am Rande angestrichen H 15 d. h. ähnlicheres] nachtr. H 22 Sarawüste] aus Saarawüste K 23 Schreibe bis 24 vielleicht] von Jacobi unterstr. H 26 das heisset] aus d. h. H 27 keine genialische] nachtr. H 34f. ausser den Früchten] nachtr. aus stat der Früchte H 167,3 in jeder] aus jede H 7 und bestimtes] nachtr. H dieser Kreis besteht] aus bei [gestr. Men] Thieren H 10 glüklicher Weise] nachtr. H belebt] aus beseelet H
165,32 –34 Jacobi hatte sein spätes und ungenügendes Antworten mit seiner durch die Kälte angegriffenen Gesundheit und mit der Notwendigkeit, Fichtes Brief an ihn (s. Fichtes Leben u. literarischer Briefwechsel, 2. Aufl., 2. Bd., 1862, S. 170) zu beantworten, entschuldigt. 166, 1 –13 Jacobi hatte Jean Paul und Herder um Beiträge zu einem von seinem Bruder Johann Georg im Verlag von Perthes herauszugebenden „Überflüssigen Taschenbuch auf 1800“ gebeten und den geplanten Inhalt seiner eignen Vorrede dazu, worin er die neueste Transzendentalphilosophie persiflieren wollte, mitgeteilt. Jean Paul sandte ihm die „Huldigungspredigt“ (I. Abt., XIII, 126—132). 14–20 Jacobi hatte geschrieben, Baggesen habe ihm auf die Zusendung von Richters Brief (Nr. 170) nicht geantwortet. 23 Baggesens Hochzeit mit der Genferin Fanny Reybaz fand am 1. Juli 1799 in Paris statt. 167, 1 Schelling, „Von der Weltseele“, Hamburg 1798. 18f. I. Abt., VII, 439—449 und 398—409.