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Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 8. März 1799 bis 21. März 1799.

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Weimar d. 8. März 99.

Ältester Bruder meiner Seele! In deinem Wörtgen Du liegt ein langes verlebtes Beisammensein — ich könte dir jezt alles sagen, meine jämmerlichsten Kleinigkeiten und Sorgen, meine Leibgerichte und alles.

Die Insolazion des blauen Himmels hat dich nun gewis wieder in deinen eingesezt. Auf deinen Brief an Fichte lauer’ ich mehr als auf die ganze Ostermesse.

Deine Vorrede ist eine fast demonstrative Parodie der Jenaischen Paralogismen; und aus diesem Scherz ist tiefer Ernst geworden. — Ich wolte, das Schiksal hätte dir und Salomo nicht das gegeben, was ihr nicht begehret habt, damit ihr andern das öfter gäbet, was sie auch nicht begehren. —

Hier nim mein musivisches Steingen zu deiner Almanachs Musaik. Ich schlug bisher den periodischen Schriftstellern mich ab, weil ich zu meiner Renbahn ein Ries Drukpapier vor mir haben mus — weil kleine Romane bei mir zu grossen werden — weil Satiren keiner gern mag — weil ich mit Leib und Seele immer nur in Einer Hauptarbeit webe und lebe. Aber dir und deinem Bruder gab ichs mit Freuden; ja gefälts dir nicht, so zeug’ ich etwas anderes und sogar was — du vorschreibst. Die Nothwendigkeit ist bei mir eine musa (tacita).

Ich fürchte, Baggesen hat auf sein Sendschreiben ein geistreicheres, längeres und wärmeres d. h. ähnlicheres erwartet als mein Billet war; thue für mich die 5te Bitte an ihn. Wüst’ er meine Plane, Satiren, Gleichnisse, Abhandlungen die schon da liegen und die in 20 Jahren kaum zu edieren sind — und in 20 Jahren wächset eben so viel neues wildes Fleisch nach —: so würd’ er sich wundern, daß ich mir nur noch Zeit nehme zu schreiben Weimar den 6ten.

Ach Bruder, nun quälet mich dein Bild. Denn ich wil zu dir, mein Herz schlägt nach dir. Nur auf 2 Tage wenn die Sarawüste der Haide sich durch einen Erdfal abkürzte. Schreibe mir Baggesens Hochzeit. Ich komme vielleicht, wiewohl mit vieler Hofnung, mich zu — verloben. Beim Himmel! das ist mir nöthiger als Himmelsbrod. Hätt’ ich eine Frau — das heisset bei mir blos ein junges, ganz sitlichreines, helles weibliches Wesen, keine genialische — so fragt’ ich nach dem Gelde und nach dem Abendessen etwas, und nach Geselschaften weniger und nach dem Leben mehr, das meine poetischen Träume immer durchsichtiger und flitterhafter schlagen. Deutsche Weiber such’ ich zuerst in Niedersachsen; gallische und Teufelsgrosmütter viel südlicher.

— Nim es mit dem vom Staate etc. gebognen und wundgeriebnen Herder nicht genau. Er trägt auf seinen zarten Zweigen ausser den Früchten die Konsistorialwäsche, die jener an ihn hängt zum Troknen. Ach welchen Zederngipfel würd er treiben ausserhalb der Kanzeldecke und Sessionsstube. —

Ich habe Schellings Weltseele mit viel Vergnügen und Erbossung gelesen, jenes über den Scharfsin, diese über das Ende und über die mechanische oder atomistische Philosophie, die in jeder Minute über die atomistische Physik klagt. Er hat heraus, was das Leben ist. 1) Erstlich besteht es darin, daß das algemeine Leben stat der geraden Linie einen Kreis beschreiben mus; dadurch wird aus dem ungeheuern Meer etwas individuelles und bestimtes ausgehoben 2) dieser Kreis besteht darin, daß das aus blossen chemischen (Des- und Oxydazions-) Prozessen bestehende negative (oder todte und mechanische) Lebensprinzip vom positiven glüklicher Weise angetroffen und belebt werde; dan gehts. Das positive, worauf ich durch das ganze Buch hofte, weis er nicht weiter anzugeben als daß es im Algemeinen überal size und blos bei glüklichen Anlässen sich als Vieh etc. zeige. Und so durch die Assumpzion eines algemeinen vagabunden Lebens wird jedem Vernünftigen das örtliche klar genug.

Ich werde stets gelassen bei so etwas bleiben; aber das verstatte mir, darüber des Teufels zu werden — Ich bitte dich sehr, mir über den „Brief an meinen Sohn Hans Paul über die Philosophie“ so wie über die Abhandlung über das Träumen in meinem künftigen Buche, dein Urtheil zu sagen.

d. 21. März.

Vergieb, so wie das schnelle Schreiben, den schnellen Schlus meines durch die Lustreise nach Gotha so lange unterbrochnen Briefs. Ich kan dir meine Verwiklung in Briefe und Bücher nicht stark genug sagen.

Schreibe bald, mein Bruder und geniesse eines milden Frühlings! Gestern beschlos ich mein 36tes Lebensjahr; und mein reichstes, denn es gab mir dich. Und jedes künftige lasse dich mir! Lebe froh du Guter! Herder grüsset dich und die Deinigen herzlich wie ich.


J. P. F. Richter
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Weimar, 8. März 1799 bis 21. März 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_226


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 229. Seite(n): 165-167 (Brieftext) und 448-449 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8°. Präsentat: Jean Paul e. den 1sten Apr. 1799. beantw. den 29ten —. Zum Anfangsdatum hat Jacobi zugesetzt: abgegangen den 21ten —. K: Jacobi den 21 März. J: Jacobi S. 10. B: IV. Abt., III.1, Nr. 137. 165,29 verlebtes Beisammensein] Beisammengew[esen]sein K 166,8 Drukpapier] aus Papier H 11 gab] aus geb’ H 13 bei] nachtr. H eine] aus die H 14–20 von Jacobi am Rande angestrichen H 15 d. h. ähnlicheres] nachtr. H 22 Sarawüste] aus Saarawüste K 23 Schreibe bis 24 vielleicht] von Jacobi unterstr. H 26 das heisset] aus d. h. H 27 keine genialische] nachtr. H 34f. ausser den Früchten] nachtr. aus stat der Früchte H 167,3 in jeder] aus jede H 7 und bestimtes] nachtr. H dieser Kreis besteht] aus bei [gestr. Men] Thieren H 10 glüklicher Weise] nachtr. H belebt] aus beseelet H

165,32 –34 Jacobi hatte sein spätes und ungenügendes Antworten mit seiner durch die Kälte angegriffenen Gesundheit und mit der Notwendigkeit, Fichtes Brief an ihn (s. Fichtes Leben u. literarischer Briefwechsel, 2. Aufl., 2. Bd., 1862, S. 170) zu beantworten, entschuldigt. 166, 1 –13 Jacobi hatte Jean Paul und Herder um Beiträge zu einem von seinem Bruder Johann Georg im Verlag von Perthes herauszugebenden „Überflüssigen Taschenbuch auf 1800“ gebeten und den geplanten Inhalt seiner eignen Vorrede dazu, worin er die neueste Transzendentalphilosophie persiflieren wollte, mitgeteilt. Jean Paul sandte ihm die „Huldigungspredigt“ (I. Abt., XIII, 126—132). 14–20 Jacobi hatte geschrieben, Baggesen habe ihm auf die Zusendung von Richters Brief (Nr. 170) nicht geantwortet. 23 Baggesens Hochzeit mit der Genferin Fanny Reybaz fand am 1. Juli 1799 in Paris statt. 167, 1 Schelling, „Von der Weltseele“, Hamburg 1798. 18f. I. Abt., VII, 439—449 und 398—409.