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Korrespondenz

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 5. Dezember 1797.

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Leipzig d. 5. Dec. 97 .

Dieses Blat, lieber Christian, sol nichts enthalten als was meinen Biographien zu oft fehlt, Geschichte: sie wächst mir sonst über den Kopf oder kömt mir aus demselben.

Platner kam mir ohne die Heiligenglorie, die der Jüngling ihm gegeben, vor. Er ist lustig, äusserst eitel, erbosset gegen die Kantianer (auf die er mir eine Satire abschmeicheln wil), höflich, gegen Damen galant (wiewohl er sich beim Auf und Abgehen doch so umkehrt, daß er einen Zirkel mit seinem os sacrum beschreibt). Mir schien er Kant nicht aufmerksam genug gelesen zu haben, weil er mir das Dasein einer gewissen Behauptung desselben anfangs läugnete dan zugab. Er sucht und verspottet die höhern Stände gleich sehr. Nach 8 Tagen lies er mich zu einem „Thee-Souper“ — habe eben jezt auf 8 Tage voraus eine Karte zu einem Thee Souper von einem Kaufman Stoll bekommen — erbitten. Um 7 Uhr trinkt man noch Thee, um 9 Uhr isset man, um 1 Uhr geht man. Es war fast mein schönster Abend hier. Nicht nur Hindenburg und seine Frau — Prorektor Erhard und sie — M. Klodius und seine Mutter, eine Harmonikaspielerin — Buch händler Fleischer und seine Frau, nämlich die verheirathete Tochter Platners waren (ausser 4 oder 5 andern vergessenen) da, sondern auch die unverheirathete Nam[ens] Friederike. Mit Md. Feind (die vor trefliche Frau, wovon ich dir schrieb) hatte ich schon vorher den Plan entworfen, daß sie jene Fr. bitten liesse und ich zufällig nachkäme. Diese Fr. errieth ich aus einigen fremden entfalnen Zügen; sie ist Amön[en] im Muthe ähnlich und sieht (etwas zu dik für 15 Jahre) völlig wie die gelehrte und schöne und edel-mystische Schurman aus, deren Portrait [im] alten Merkur stand. Ich war zum Glük ihr Tisch nachbar. Freimüthig-wizig s[ogar] gegen den Vater, kühn aber [ Lücke ] edel, vol Phantasie [ Lücke ] herlich sing[end und] sprechend, [ Lücke ] stet. — Ihre [ Lücke ] spielt, wie Mozart selber sagte, besser als er: ich war vor Erstaunen weg über diesen Ausdruk, und habe doch den Helf recht gehört. Auch das Instrument fand Mozart als das beste. Die Tischreden bestanden in Wiz und Frohsin, ohne Steifigkeit — Es sind 4 oder 5 liebende Familien, die alle im Sommer in 1 Garten wohnen. Zu jedem bin ich gebeten und jeder neue Bekante macht wie Ein Nar zehn.

Den Tag vorher (d. 1.) war ich von Stoll (seine Frau ist dem Karakter nach eine Engländerin) zum grossen [Bal] geladen, den 50 asso[ziier]te reichste und feinste [Fam]ili[en] hier von Zeit [zu Zeit ge]ben. Puntsch und Essen [ Lücke ] der Rest gut; [er sol dei]ner Schwester mit allen Pas beschrieben werden. Die Polizei ist hier vortreflich. (Denke nicht, daß ich jezt nichts als Lorbern für die Leipz[iger] heraustreibe: es sollen auch Ruthen an mir wachsen, aber heute nicht.) Weiße suchte mich im Konzert (er wolte mich anfangs besuchen, aber ich besuchte ihn und sah Frau und Kinder) und richtete mir ein Versprechen von Thümmel aus: „ich solle sehen, in den künftigen Theilen der Mitt[äglichen] Reis. sei er besser 〈keuscher〉.“ Aber Weisse der den 6ten im Mspt hat (und der 7. komt noch) sagt, er merke wenig davon. Er ist ein ehrwürdiger verbindlicher freundlicher Greis aber ohne viel Mark. — Mich mus hier jeder lesen, und wenn es ihm auch Qualen macht, mus er mich doch wenigstens vom Verleiher holen lassen und durchstöbern. — Die 2 Töchter der Feind frappieren durch ihre unschuldige, frohe, freie Naivetät: die Mutter gewöhnte sie immer unter Manspersonen und dadurch sind sie kalt und lustig; und werden schwerlich bis zum Unsin verliebt. — Melzer ist ein kraft voller Weltkenner und ältlich: vielleicht beredet er mich im Winter nach Berlin. — Ich hätte jezt beinahe auf 3 Wochen jeden Abend ein anderes Absteigequart[i]er. Ich poliere mich unsäglich, ganze Stücken fallen ab. — Es gehören viele Siege über den Sieger dazu, sich zwischen den ziehenden Reizen der 1) Bücher 2) der Schreibereien 3) der Bekantschaften abgewogen einzutheilen. — Ausser der Berlepsch hab ich noch nirgends hingeschrieben als nach Hof. Aber kein Mensch bedenket meine Lasten: ich habe jezt eine neue Hevristik zu Planen oder Geschichtgen erfunden und bekomme so viel Stof, daß ich viel zu bald sterbe. — Thyiriot (er hat einen humoristischen Bruder) ist besser als ich dachte: meine Kälte nahm seine erkünstelte Sonderbarkeit weg; er ist ein reiner unschuldiger Jüngling, wird aber nie glüklich werden, weil er zu viel Ehrdurst hat. — Der Kaiser in Rusland lässet alle Bücher eh sie erlaubt werden, ins Russische übersezen und dan verbrennen: der Senat sol ihn für tol erklärt haben, nach andern wurd er vergiftet. — En face hat mich Pfenni[n]ger gezeichnet: es ist dem Kupferstich nicht im mindesten ähnlich und mir auch nicht — der Spizbube sieht mir aus den Augen. Das Publikum wird sich in diese 2 Werke von 1 Meister nicht zu finden wissen. — Hier ist schwüles Wetter wie im Juny: jede Woche 3 blaue Tage, dan Regen. — Kausch in Schlesien wurde durch ein Handbillet von Wilhelm III los. — — Dieser Brief enthält fast blos die Kapitel-Überschriften meiner Biographien: spänn’ ich sie nun so aus wie in diesen und wie du haben woltest, so könt’ ich keine andern Bücher weiter machen.

An deinem geliebten Geburtstage wird dieses Blat anlangen und dich unter deinen höchsten Freuden treffen: ich feier ihn allein, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft — du weist, was ich wünsche und wen ich liebe. Und so denke du auch an mich unter den Deinigen und das Schiksal thue den Rest.


R.

Ich sehne mich sehr nach deinen 2 Antworten!

N. S. Apropos gieb der armen Julianne auf meine Rechnung (sogar nach ihr sehn’ ich mich, so tol es klingt) 60 kr., der vorigen Aufwärterin 30 kr. und den KursKindern 30 kr. Das ganze Nest sizt ungeäzt in demselben Armenhaus. Ums Himmels [willen] schreib alles richtig auf.

2 N. S. den Brief an Emanuel giebst du Renaten.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 5. Dezember 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_24


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 24. Seite(n): 20-23 (Brieftext) und 393-394 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Berlin JP. 8 S. 8° (S. 3/4 defekt). K: Christian 5 Dec. J: Nerrlich Nr. 30×. A: IV. Abt., III.1, Nr. 15. 20,33 ohne] davor gestr. das erstemal H 21,4 mir] nachtr. H 5 gewissen] nachtr. H 17 liesse] nachtr. H 20 völlig] nachtr. H edel-] aus etwas H 22 -wizig] nachtr. H 36 Lorbern] aus Lorberen H, Lorbeer K 37 an] aus K 22, 1 Weiße] aus Weisse H 3 ein Versprechen] aus einen Grus H 5 im Mspt] nachtr. H 18 abgewogen einzutheilen] unterstr. K (vielleicht wegen des Rhythmus, vgl. I. Abt., XI, 310,14–16) 22 Thyiriot] davor gestr. Wie kan ich bei diesem Reichthum der vorigen Materie meine H 33 von] nachtr. H 23, 9 ihr] aus dieser H 10 30] beidemal aus 24 H

Otto erhielt den Brief erst am 13. Dezember. 21,2 f. Vgl. Fälbel, I. Abt., V, 230,1ff. 3–5 Vgl. 8, 31–34. 11 Karl Friedrich Hindenburg (1741 bis 1808), Professor der Mathematik und Physik. 12 Clodius: s. 17, 29 †; seine Mutter, Julie, geb. Stöltzel (1755—1805), war auch Schriftstellerin. 15 Friederike Platner heiratete später (30. Mai 1802) den Konsulenten Dr. jur. Friedrich August Nauwerk. 20f. Ein Porträt der Mystikerin Anna Maria von Schurmann (1607—78) s. Teutscher Merkur, 1777, 2. Vierteljahr. 24 ist wohl „Schwester“ zu ergänzen. Mozart war im Frühjahr 1789 in Leipzig und spielte bei Platner vor. 25f. Helfrecht: s. Bd. I, zu Nr. 351; vielleicht ironisch gemeint. 22, 1 Weiße: s. Bd. I, Nr. 65†. 3ff. Der 6. Teil von Thümmels „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich“ (s. Bd. I, Nr. 368†) erschien 1799, der 7. Teil 1800, der letzte (10.) erst 1805; vgl. 105, 22 –25. Jean Paul hatte in der „Erklärung der Holzschnitte“ (1797) die anstößigen Stellen in dem sonst von ihm bewunderten Werk bedauert (I. Abt., VII, 105,24ff†). 28–31 Pfenninger: vgl. 19, 20 f†; in Hof hatte er Jean Paul im Profil gezeichnet und danach gestochen (s. Bd. II, Nr. 569, 313,3–6 und die Tafel nach S. 320). 33 Der schlesische Arzt Johann Josef Kausch (1751—1825) war wegen Verdachts der Mitschuld an der Geheimbündelei seines Schwagers Zerboni (s. Bd. II, zu Nr. 701) im Februar 1797 verhaftet, im April aus Preußen ausgewiesen worden. 23, 1 Ottos Geburtstag: 9. Dezember. 7 zwei Antworten: auf Nr. 16 und 24. 8 Juliane: s. Bd. II, Nr. 517, 294,34†. 13 Brief an Emanuel: Nr. 21.