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Korrespondenz

Von Jean Paul an Rebekka und Samuel Wulff Friedlaender. Weimar, 8. Mai 1799.

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Weimar d. 8 Mai 99.

In der Sonderbarkeit Ihres Wunsches, liebe Unbekanten, liegt zugleich dessen Rechtfertigung, nämlich Ihr reines Vertrauen. Das Sonderbare ist die Voraussezung, daß im 18ten Jahrhundert 99 ein Mensch ein neues Linderungsöhl für eine Wunde habe, die den Heilmitteln der andern Jahrhunderte widerstand; aber in der Heilkunde macht das Vertrauen den Arzt und das Ach eines theilnehmenden Wesens tröstet oft mehr als die Trostpredigt eines kalten.

So sehr oft Menschen sich des Antheils am Tode geliebter Seelen anklagen: so sehen Sie doch aus der immer gleichen Zahl derer, die an dieser oder jener Krankheit sterben, daß nur ein höheres Gesez uns alle abruft. Nun ist es sonderbar, daß wir in der unendlichen Weltmaschine, worin die Erde kaum ein Rad und wir kaum die Zähne des Rades sind, über uns die Maschine vergessen, für die wir etwas opfern müssen, da sie so viel für uns opferte. Gott sendet den Luther und den Rousseau zur rechten Zeit; wissen wir, wie er in die künftige Welt seine Geister aus dieser schicken mus? — Unserer kleinen Freuden und Absichten wegen auf dem Erden-Körngen sol der grosse Bau umgebauet werden? Und wir wollen den Lauf der Natur, dem wir ja eben alle Güter verdanken und den wir ehren, wenn er giebt, umgekehret haben, wenn er nehmen mus. — Nur das Veränderliche oder Seltene — d. h. das scheinbare, weil das Seltene so nothwendig ist als das Gewöhnliche — wird uns zu ertragen schwer, nicht das Unveränderliche — als wären nicht beide eins — und ein kalter Sommertag ärgert mehr als ein Wintertag, obgleich die Nothwendigkeit dieselbe ist; stürbe jeder z. B. im 30ten Jahr, wir erduldeten es nicht viel schwerer als den Winter.

Wie, der Unendliche hat im Körper des Wurms jede Ader und jeden Ring berechnet; nur ein ganzes Menschenleben brächt’ er nicht in Rechnung? Ich gab auf mein und auf fremdes Leben Acht und fand darin die Hand eines unendlichen Geistes, der nicht Ein Wesen sondern Millionen Einem Ziel zutreibt. Geben Sie z. B. nur auf den immer wiederkehrenden Wechsel von grossem Glük und Schmerz, auf die Nemesis Acht!

Die Menschheit geht jezt durch ein rothes Blutmeer — vielleicht mehr als ein Jahrhundert lang — ihrem gelobten Land entgegen; — und unsere frühere Geburt erspart uns Wunden: wissen Sie, ob das weich-organisierte Wesen nicht zu sehr wäre von den blutigen Wellen erschüttert worden, die schon in unserer Zukunft rauschen? — Unser Leben ist ein Abend und vol Dämmerung und wir können unsichtbare Wesen verlezen ohne es zu wissen; und darum spricht das Gewissen in uns als Ruf in der Nacht: können Sie wissen, welche schmerzliche Verbindung Ihr ewiger Gram mit der Geisterwelt und sogar mit dem geliebten Wesen habe? Und noch dazu ist in Ihrem Schmerze eigentlich eine auflösende Süssigkeit, die eben seinen Abschied so verzögert, ich möchte sagen ein Luxus der Wehmuth — Und da eine Person von Ihnen dadurch früher sich zerstöret als die andere: hat sie dan in der lezten Minute einen Trost, wenn das weinende Auge in das brechende blikt, und wenn sie sich sagen mus: diese frühe Scheidung, diese tiefe Wunde ist ja blos meine Schuld? —

Allerdings kan man nicht die Ankunft eines Leichen-Gedanken verwehren; aber sein Bleiben und seine Geselschaft steht in unserer Gewalt; und man braucht oft nur die Trauer-Idee nicht träumerisch zu verfolgen, nicht zu dekorieren. Wer sich trösten wil: er wird bald getröstet; aber wir sagen oft, wir können nicht, da wir nur nicht wollen.

Nehmen Sie, liebe Seelen, diese eiligen Worte so auf wie sie gegeben werden; aber verhehlen Sie sie auch andern.

Ihre Antwort und Ihre nähere Kentnis wird meinem Herzen wilkommen sein; aber geben Sie mein Schweigen darauf blos der Menge meiner Arbeiten und Briefe schuld.

Leben Sie wohl — was Sie leicht können, da Sie sich lieben. Wie, der Himmel beschied Ihnen ein so seltenes Glük und Sie klagen so bitter über die Unterbrechung eines andern, dessen Wiederholung in seinem Vermögen ist? —


Jean Paul Fr. Richter
[Adr.] An den Bewusten abzugeben.
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Rebekka und Samuel Wulff Friedlaender. Weimar, 8. Mai 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_257


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Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959. Briefnr.: 261. Seite(n): 188-190 (Brieftext) und 457 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: ehem. Lessingsche Autogr.-Slg. Nr. 2790. 6 S. 8°; Adr. auf beiliegendem Umschlag. K (nach Nr. 261): Ehepaar in Königsberg 11[!] Mai. i: Wahrheit 6,88. J 1: Preuß. Ostseeblätter, 27. Febr. 1832. J 2: Carl Robert Lessings Bücher- u. Handschriftensammlung, hgb. von Gotthold Lessing, 2. Bd., Berlin 1915, S. 247. 188, 25 f. Heilmitteln] aus Arzeneimitteln H 31 nur] nachtr. H 32 alle] nachtr. H 189,3 Erdensandkörngen K 5 verdanken] danken K 6 oder Seltene] nachtr. H 8 Unveränderliche] aus Unabänderliche H 9 wären nicht beide eins] aus wär’ es etwas anders H 11 nicht viel schwerer als] wie K 17f. den .. Wechsel] aus die .. Folge H 18 auf die] aus diese H 23 weich-organisierte] verstorbne K 28 ewiger] aus unrechter H 29 habe] aus hat H 34 wenn sie sich sagen mus] aus mus es sich nicht sagen H 37 Bleiben] aus Dasein H

Samuel Wulff Friedlaender (1764—1837), Kaufmann in Königsberg, ein Neffe von Mendelssohns Freund David Friedlaender, und dessen Frau Rebekka, geb. Friedlaender (1770—1838) hatten sich nach dem Tod eines Töchterchens anonym an Jean Paul gewandt mit der Bitte um Trostgründe. Vgl. Nr. 371. 189, 9 f. Vgl. I. Abt., VI, 180,6ff., II. Abt., IV, 3,5ff. 20f. Vgl. I. Abt., IX, 225,24f. 29f. Vgl. 14, 28 f.