Von Jean Paul an Christian Otto. Hildburghausen und Weimar, 24. oder 25. Mai 1799 bis 30. Mai 1799.
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[Schluß Kopie]
193,12— Aber in Weimar schick’ ich den Brief erst fort. Hier siz ich nun
seit einer Woche, und recht weich. Es ist und war so: Ich
korrespon193,15
dierte schon
mehrmal mit einer Caroline v. Feuchtersleben, die
hier
ist, und dieser versprach ich zu kommen. (Denke nur
nicht, daß jezt
etwas Wichtiges komt, nämlich eine Braut!)
Sie ist ein edles, tief
fühlendes,
mänlich-festes, vom Schiksal verwundetes, ziemlich schönes
Mädgen, das mir seine silhouettierte Gestalt und Taille mit einer193,20
schwarzen Blumenkette schikte (leztere solte um mich
herum), woraus
ich sogleich schlos, sie müsse am Hofe
gewesen sein — welches sie auch
war als Vicaria einer Hofdame. Fatal ists — und im Grunde gar
nicht —, daß sie im Sprechen zu spielend und leicht ist, wie im Schrei
ben zu ernst. Sie lebt bei ihrer Mutter, Schwester und dem
Bruder,
193,25
und ich size meistens dort, wenn ich nicht am Hofe
bin, welches ausser
den Maalen häufig der Fal ist.
Hier fängt es an, almählig wichtig zu werden. Erstlich denke dir,
male dir die himlische Herzogin mit schönen kindlichen
Augen — das
ganze Gesicht vol Liebe und Reiz und Jugend — mit einer
Nachtigallen193,30
Stimrize — und
einem Mutterherz — dan denke dir die noch schönere
Schwester, die Fürstin von Solms, und eben so gut — und die dritte
194,1
Schwester, die Fürstin von Thurn und Taxis, welche beide
mit mir an
einem Tage mit den gesunden frohen Kindern ankamen
(Erlasse mir
die Männer!) Mit der von Solms wolt’ ich in einem
Kohlenbergwerk
hausen, dürft ich ihren Galan da vorstellen. Diese Wesen
lieben und194,5
lesen mich recht herzlich und wollen nur,
daß ich noch 8 Tage bleibe,
um die erhaben-schöne 4te Schwester, die Königin von Preussen zu
sehen; Gott wird es aber verhüten. Ich bin auf Mittag und
Abends
für immer gebeten. Der Herzog, (ein wenig
borniert, aber gutmüthig)
machte anfangs nicht viel Fait
von mir; aber jezt ist er mir recht gut,194,10
und er
merkte an, daß ich mir zu wenig Spargel genommen und gab
mir ausser diesem noch die ersten Hirschkolben zu essen, die nicht sonder
lich sind. Gestern hab’ ich vor dem
Hofe — phantasiert. Du erschrikst;
aber ich habe seit 1½
Jahren phantasiert vor Gleim, Weisse, Herder,
vor der Herzogin Mutter passimque. — Auch hier hab ich eine an-
194,15
ständige Brüder- und
Schwestergemeinde; und kan der Zinzendorf sein.
— Nein, es wäre Undank, wenn ich nicht die Liebe meiner
Deutschen
für den reichsten Lohn meiner Federfechterei hielte.
Ich studiere an diesem Höfgen doch die Kurialien mehr ein für
meine Biographien: Wenn alles aus den Vorzimmern in den
Speise194,20
saal zieht: so
schreitet das kurze Kammerjunker- und sonstige Volk (und
ich mithin mit) wie die Schule vor der Bahre voraus und die fürstlichen
gepaarten Personen schleifen nach. Wieland aber (das
erzählt’ er mir
selber immer mit Spas über seine Unwissenheit) gedachte
anfangs
höflich zu sein und gieng nicht voran, sondern
fügte sich zum Nachtrab194,25
und kam so zugleich mit den
Fürsten-Paaren an.
Übrigens was ich mir durch den Hof an Gasthofs-Essen und
Trinken erspare, das trägt der Bader wieder fort, weil ich den ver
damten Kin-Igel öfter scheeren lassen
mus.
Ich bin schon über 5 Sansculotiden-Tage (mehr) meiner
Rechnung
hier. Karoline bat mich etwas mitzunehmen; am
Ende wars ein
Beutel an Herder, dessen ersten
Pol sie erst zu stricken anfieng, da sie
die Bitte that. Was hätt’ ich dir nicht über dieses
originelle Wesen
zu sagen ...194,35
Aber dazu — zumal bei ihren sonderbaren Verhältnissen zu mir —
gehörte mehr Zeit und Lust als ich jezt habe, da ich auf
meinem Tisch
20 Briefe und — keinen von dir antreffe, den
ich doch von der Absendung
meiner gedrukten und der 2 lezten Kapitel des Titans so sicher
195,5
erwartete. Am Ende geht es dir wie Emanuel; du schreibst an Amoene
〈die Freundin〉 so viel und an mich 〈den Freund〉 so wenig.
Indes
ahm’ ich dich nur nach, wenn du keine
Entschuldigung hast; wahr
scheinlich
bist du über einem langen Brief.
Amoene schreibt mir von deinem Fahren bis nach Kahle. Nim in
195,10
jedem Fal meinen Titan
mit, vor den ich ungern Postpferde spanne.
Was ich thue, weis ich nicht; aber du köntest einige Tage
vor dem
Wagen vorausgehen — nach Weimar kommen — bei mir (da ich
ihn schon so lang auf einen Puntsch bitten sol) Herder und Amöne
und die Kalb sehen und — so wärs etwas. Kanst du wissen,
ob je das
195,15
Schiksal deinen Lebensweg wieder über die
[
Blattschluß
]
Einige stockende zwingende übervolle Stunden bei dir zu sein und
doch zugleich bei mir selber, ist zu schwer. — Dunkle
Eheband. Er wird
mit dem Schwert einschlagen, hat aber
auch nicht Muskeln genug, ein
schweres zu führen —
umkehrende Schmerz — In Regenspurg Politik
195,20
Gegengift der Musik, obwohl die Staatskunst nichts
ist als Tonkunst.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Hildburghausen und Weimar, 24. oder 25. Mai 1799 bis 30. Mai 1799. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_267
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 8 S. 8° (Schluß von 195, 17 ab fehlt). K (nach Nr. 268): Otto ab den 31 Mai. J 1: Otto 3,80×. J 2: Nerrlich Nr. 60×. A: IV. Abt., III.1, Nr. 216. 193, 15 f. korrespondierte] aus korrespondiere H 18 Sie] aus Es H 19 mänlich-festes] nachtr. H 20 und Taille] nachtr. H 194,11 merkte] aus merkt H 12 ausser diesem noch] nachtr. H 13 der Gedankenstrich nachtr. H 15 passimque] aus und passim H 17 nicht] nachtr. H 23 gepaarten] nachtr. H 24 über seine Unwissenheit] nachtr. H anfangs] nachtr. H 31 (mehr)] nachtr. H 195, 1 30] davor gestr. 2 H 2 Verhältnissen] aus Verhältnis H 8f. wahrscheinlich bis Brief] nachtr. H 11 vor] nachtr. H Postpferde] aus Postpferden H 17–21 nach K
Nach Knebels Tagebuch reiste Jean Paul am 21. Mai von Ilmenau nach Hildburghausen, kehrte am 28. von dort nach Ilmenau und am 29. nach Weimar zurück. 193, 25 Karolinens Schwester: vgl. IV. Abt. (Br. an J.P.), III.2, Nr. 258. Bruder: vgl. FB Nr. 51. 194, 19 –26 Vgl. I. Abt., VIII, 431, 3–9. 195, 10 ff. Ottos Absicht, Amöne abzuholen, unterblieb.