Von Jean Paul an Josephine von Sydow. Weimar, 17. März 1800.
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Geliebteste Freundin! Ich moechte fast bis zu dem 20ten warten305,10
wo ich und der
Frühling unsern Geburtstag haben, um dan wenig
stens auf dem Papiere bei Ihnen zu sein. Den 23 März ist
es gerade
ein Jahr, daß wir uns im finstern Walde des
Lebens, der die
Menschen einander verstekt und entzieht,
gleichsam auf einer
schoenen ofnen heitern Stelle gefunden haben; und wir wollen305,15
uns nie verlassen und vergessen.
Jezt die Antworten auf Ihre beiden Briefe. Die Leipziger
Messe
fält in die Mitte des Maies, ich aber komme erst am Ende
des
selben nach Berlin. Es ist
immer besser, ich erwarte da als ich
werde erwartet. — Ich lies Ihnen durch Matzdorf die Mumien
305,20
schikken, weil ich sie für mein bestes Buch halte;
es liegt das
Morgenroth und der Morgenthau der ersten
Empfindung auf
ihren Blaettern, es sind grüne moecht’ ich
sagen. — Geschrieben
hab’ ich noch: den Quintus Fixlein (1 Bändgen, wovon zur
Messe die 2te Auflage heraus komt) —
Geschichte meiner Vor-
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rede, (ein kleines
Büchelgen, dessen lezte Dichtung vielleicht für
manche junge Mädgenseele eine leitende Mutter wird) — und
den
Jubelsenior.
Die Geschichte und die Karaktere der Blumenstücke sind
blos aus meiner Seele; nur die Schmerzen der Armuth hab’ ich305,30
gerade wie Siebenkaes und mit derselben Laune
getragen. —
Wer meiner guten Josephine ähnlich ist in
meinen Dichtungen?
— Natalie ist es; ich schmeichle damit
weniger Ihnen als Na-
talien.
Ich würde Ihrer Lotte gern Lieblingsarien senden, wenn ich
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deren nicht zu viele hätte; die ganze Zauberfloete
müst’ ich ihr
schicken, und mehr. Rousseaus Arie à trois notes ist eine, aber
ihr
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zu leicht; „ich wandle hin, ich wandle her“ in Sekendorfs
Liedern
ist eine andere Lieblingsarie. Küssen Sie diese junge Rose
stat
eines Grusses von mir.
Ich fürchte ein wenig, dieser Winter — der dem Todesengel
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immer neue Schwerter giebt — hab’ auch Ihre Gesundheit ver
wundet. Fliehen Sie alle schwächenden,
ausleerenden, blut
abnehmenden Mittel
und jeden Arzt, der kein Brownianer ist;
wählen Sie staerkende Diaet, Wein, Fleisch, Freude.
—
Ist nicht in Ihrer Naehe eine Flemming geborne von Eich-
306,10
staedt? —
Wenn wir uns sehen, wird in der ersten Minute etwas in meinem
Aeussern sein, was Sie nicht erwartet haben wie ich
glaube; aber
in der ersten Stunde schon ist alles
verwischt und wir werden uns
sehr lieben, und nur das wird
uns fehlen, was andere immer
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toedten, die Zeit. Ich moechte fast sagen, schreiben Sie sich
vor
her Ihre Fragen an mich auf;
wir werden vor Freude und Fülle
alles vergessen. Ich wil
dich dan wenig verlassen, meine Josephine,
so lange du in
Berlin bist, ich wil dich nicht blos an sondern
auch in mein Herz drüken und dich immer ansehen, damit
nach
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langen Jahren die schoene theuere Gestalt unverwischt vor
meiner
abgetrenten Seele ruhe.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Josephine von Sydow. Weimar, 17. März 1800. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_421
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: DLA, Marbach. 4 S. 8°. K: Sydow d. 17 März. J: Denkw. 2,207. B 1: IV. Abt., III.2, Nr. 312. B 2: IV. Abt., III.2, Nr. 318. A: IV. Abt., III.2, Nr. 364. 305, 10 zu dem] aus den H 13 finstern] nachtr. H 15 heitern] nachtr. H 21 liegt] aus ist H 23 es bis sagen] ich möchte sie grüne nennen K 33 ist es] nachtr. H 306, 3 diese] aus die H 6 neue Schwerter] eine Schwester J! 9 wählen] aus halten H stäerkende H 16f. vorher] nachtr. H 18 dan] nachtr. H
305,17 f. Josephine hatte in B 2 versprochen, Ende Mai auf einige Tage nach Berlin zu kommen, und gefragt, wann die Leipziger Messe sei. 20—28 Sie hatte in B 1 gebeten, ihr alle seine ihr noch unbekannten Werke zu nennen. 29—31 Sie hatte die Vermutung geäußert, daß die Blumenstücke kein bloßer Roman seien. 32—35 In B 2 hatte sie gefragt, wo er sie in seinen Schriften porträtiert habe (vgl. 279,8 —10 ). Natalie: im Siebenkäs, der aber doch vor der Bekanntschaft mit Josephine geschrieben war. 35ff. Sie hatte in B 1 gebeten, ihrer Tochter seine Lieblingsarien zu schicken. Rousseaus Arie à trois notes: s. Bd.II, Nr. 356, 223,2†. Siegmund Freiherr von Seckendorff, „Dauras Trauer“, in der Sammlung „Volks- und andere Lieder“, Weimar 1779, S. 12. 306, 10 Flemming: s. IV. Abt. (Br. an J. P.), III.2, Nr. 308. 12f. Vgl. Bd. II, 188,32ff., 197, 11—14 .