Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 12. Januar 1798 bis 17. Januar 1798.
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34,23
Lieber Otto! Die Konzilien ...... 34,25
In dieser Minute komt dein neuester Brief: dein voriger kam richtig
an, aber an Sontagen (sagten die Pakhelfer bei Beigang)
wird nichts
fortgeschikt — d. h. es war das grosse Neujahr. Endlich
versprachen
sie es den Bitten meines Bruders und erst
durch dich erfahr’ ich das
Nichthalten.34,30
Mit der Agnes wil ich alles besorgen was möglich ist: denn es
sind nur wenige Exemplare in Leipzig. — Ob ich gleich an
den
litterarischen Quellen size und mit der Hand hineinfahren
kan: so hab35,1
ich doch Nichts, blos weil es — Nichts giebt. Es
ist eine verdamte
Geistes-Dürre über Europa: Andere haben
doch mich, aber ich nichts
in 5 Jahren, was mein ganzes Inneres volfülte.
Die obigen Konzilienakten sind vom alten D. Rosenmüller
selber:
35,5
da ich sie blos für mich borgte, so gehe sie so
schnel durch als deine
Arbeiten und Freuden erlauben. — Da
ich sehe, daß ich mit allem
Schreiben meinem Leben nicht
nachkommen kan und daß immer
100 Fakta für mündliche
Erzählung in deiner Stube zurükbleiben,
und da mich
überhaupt dieses Courierschreiben ohne Geist, nicht freuet:35,10
so unterlass’ ichs auch wie du auch
[!], der mir selten ein Faktum
oder
ein Faktulum zuwendet. Es mag dir immer tol
vorkommen: sogar das
Sterbegedicht Hofmans hat mich durch
das Zurükführen in die auf
immer beschlossenen Höfer Szenen gelabt und fast gerührt.
Mir ist
als hätt’ ich in Hof meine Jugend beschlossen und wäre nun
ein Man:35,15
und so handl’ ich auch. Über allen Ausdruk
schmacht’ ich nach dem
Frühling, der den Frühling und die
vorigen Berge bringt. —
Kotzebue hat mich besucht und zu seinem Weibe und Essen geladen.
Die Frau scheint eine Mutter zu sein. Wider meine
Erwartung ist
seine Rede schlaf, geistlos, ohne Umfassen
wie sein Auge; auf der andern35,20
Seite scheint er
weniger boshaft zu sein als fürchterlich-schwach: das
Gewissen findet in seinem Brei-Herzen keinen massiven Punkt, um
einzuhaken. —
Für mich spint das Schiksal (denn ich höre die Räder) ein Flechtwerk,
das über mein ganzes Leben gehen wird. Du erfährst alles,
aber ich35,25
weis nicht wenn. — Ich war wieder bei
Oertel, der beneidens- und
gönnenswerth sich und die Seinige beglükt. Unter den
hiesigen
Männern ist er mein Nächster, wie die Berlepsch meine
Nächste —
wofür ich doch nicht ganz hafte. — Ich finde in ihr eine
Seele, die
noch nicht einmal unter meine Ideale kam und ich
wäre ganz glüklich35,30
mit ihr, wenn sie es nicht zu
sehr durch mich werden wolte. Du weist,
wie ich jenes
moralische Übergeben zur Hand und Halfter fliehe. —
Mit
unserer Amöne hab ich einen ewig-ewigen Frieden abgeschlossen:
in der Ferne kan ich nichts weiter mit ihr thun als sie
recht lieben, und
nachher in der Nähe auch. Über das was du
mir über sie und mich35,35
sagtest, bin ich doppelt
erschrocken — erstlich darüber daß du sonst
nicht für sie partheiisch geworden, welches ich annahm, zweitens
daß
ich doch nach dieser Präsumzion handelte und fast
oft gegen sie es36,1
wurde. Es sei
vorüber! Schön ists, daß alle meine Freundschaften in
Hof
den Reiz der Jugend und die Dauer der Unsterblichkeit haben.
Wenn ich einmal auf dem Kopfe stat der Haare nichts mehr
habe als
Jahre: so werd ich für diese Vergangenheit noch
eben so sehr — aber36,5
wahrscheinlich stärker — glühen
als heute.
— Eben unterbrach mich Kotzebue, um mich auf morgen zu Frege
zu laden. Um 4 Uhr geh ich mit einigen Mädgen (Dlles Feind) zu einer
Md. Hähnel, und abends zu einem Souper bei Weisse den ich und der
mich imm[er]
herzlicher liebt. — Ach am Ende was ists?36,10
So lang wurd ich durch Märsche (in Zimmer) und Autorsein wieder
von dir abgerissen. Ich kan aus meinem „Nürnberg“ eben weil
ich
darin nur leichten Nürnberger Tand zu machen habe, gar
nicht heraus-
kommen. 2 Bändgen kommen zu Ostern und
werden bei Breitkopf
36,15
unter meiner Revision gedrukt. Die deinige entzieht
mir der weite
Zwischenraum für die erste Auflage; aber für
die zweite hebst du mir
die corrigenda auf. Doch werd’ ich bei dem Titan
diesen Zwischenraum
überwinden.
Ich sehe viele Rezensionen von mir und neulich in dem
Berl[ini-
36,20
schen]
Archiv eine Ode auf mich — aber das alles verdient keine.
Kotzebue war 3mal bei mir und ich as 3mal mit, nicht bei ihm. Er
verlohnt es gar nicht, daß man mit oder von ihm spricht:
nicht ein
einziges eignes Urtheil ist in seiner Seele. Bei
Kummer as ich mit
seiner Mutter, Bruder, der Witwe des Musäus, einer Mlle Krüger aus
36,25
Jena — Nichts und Nichts.
Bei Frege, dessen fröhliche Menschenliebe mein Herz erquikt, sah
ich Heidenreich, der mir seine
Besuche drohte. Er ist zwar kein Pedant
— wie Seidliz, den ich in ½ Stunde in einer Disputazion
über das
Schöne ins Häsliche hineingestritten habe — und nicht
unangenehm36,30
oder eitel etc.; aber etwas Edles
fehlt als Unterlage und seine Reflexio
nen sind meistens trivial.
Es übersteigt meine Federkraft, dir ein räsonnierendes Verzeichnis
meiner übrigen Bekantschaften zu geben. Eher die feinen,
nicht über
fülten, etwas kostbaren und
leckerhaften Soupers möcht’ ich dir malen:36,35
erspart wird dabei nichts, denn man mus den Bedienten
Tranksteuer
geben. Bei Kummer leuchtete uns die Magd
bei hellem Tage hinab,
37,1
damit man in den Opferstok — der Leuchter ists gewöhnlich —
einlegte.
Grössere Spizbuben als das
L[eipziger] gemeine Volk giebt es,
die
Galgen ausgenommen, nirgends. Was ich dir von Göthe
versprochen,
ist unbedeutend, er urtheilt über den Hesperus günstig, so wie ich
37,5
einmal von Ahlefeld hörte, und dir nicht sagen wolte
— ferner, er sähe
doch, daß es mir mit dem Guten Ernst wäre — er bekäme aber
Gehirn
krämpfe von dem Werfen aus
einer Wissenschaft in die andere — ich
zeige mein Wissen zu
sehr; er wisse auch ein wenig, liefere aber nur das
Resultat; — wenn er über das Irdische in den Himmel gehoben sei,37,10
komm’ auf einmal wieder ein Spas. Kurz, es reuet mich diese
Seite.
Ich sol dir deinen Fehler nennen: ich hab’ ihn schon einigemale ge
nant, aber völlig falsch, nämlich
einige Eitelkeit. Diese kan freilich in
keinem Geiste sein,
der so leicht anonyme Arbeiten macht und der dem
Lobe durch
Schweigen ausweicht. Etwas eitel darf vielleicht jeder37,15
Erdensohn sein, und unerlaubt ist es blos, wenn er seine
Eitelkeit ent
weder zu sehr verbirgt
oder zu offen zeigt. Zu deinem längsten Briefe
an mich hat
nur etwas mitgewirkt, wofür ich einen andern Namen
haben
mus als den obigen falschen. Ach lieber Otto, ich merke fast
aus deinen Briefen, daß du in die Irthümer des längsten wieder zurük37,20
wilst — und das blos, weil ich an dich
die längsten, aber auch chronik
ähnlichsten schreibe: und deine Irthümer machen wieder meine. —
Schriftliche Anklagen und Erklärungen sind wegen des
stärkern und
längeren Eindruks mislicher als mündliche, die
es wenig sind. Ach
wenn wir nur einen Tag wieder beisammen
wären in Hof, nicht blos
37,25
völlige Amnestie, sondern eine tiefe Lethe, die
noch mehr ist, würde die
kleinen Klippen, an denen wir uns weh gethan, überziehen.
Ich sterbe
darauf, daß mein künftiges Sein in Hof, wenn ich
nicht vor Rührung
umkomme, sogar das in Weimar übertrift. — Du schreibst mir nicht
blos zu wenig von Hof — deine Schwester ist hierin besser
— sondern
37,30
vollends von dir, deiner Gesundheit, deinen
Freunden, deinem Albrecht,
eueren gewonnenen Prozessen.
Eigentlich müssen mich die Höfer Neuig
keiten mehr interessieren als euch die Leipziger. — Halte mich nicht für
so gar glüklich, Lieber: Lob ist kein Glük, und
Zerstreuung auch nicht.
Ich werde es aber finden. — Grüsse
deinen Albrecht, aber nicht deine
37,35
schweigende Friederike!
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Leipzig, 12. Januar 1798 bis 17. Januar 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_43
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°; der Schluß von 36, 33 an fehlt. K: Otto 17 Jenn. J 1: Otto 2,174. J 2: Nerrlich Nr. 32×. B 1: IV. Abt., III.1, Nr. 15. B 2: IV. Abt., III.1, Nr. 19. B 3: IV. Abt., III.1, Nr. 21. A: IV. Abt., III.1, Nr. 33. 34, 32 f. den litt. Quellen] aus der litt. Quelle H 35, 5 von H alten] nachtr. H 8 kan] aus konte H 9 mündliche] nachtr. H 16 schmacht’] aus schmachtet H 17 Berge] aus Ebenen H 19 Die bis sein.] nachtr. H 30 unter] aus in H ganz glüklich] aus glüklicher H 36 sagtest aus sagst H sonst] nachtr. H 37 geworden] aus warst H 36, 6 heute] jezt K 9 zu] zum H 13 aus] aus von H 20 in dem] im den H 29 in einer Disputazion] nachtr. H 33 von hier ab nach J 1 raisonnirendes J 1 (vgl. 103,5 , 104,31 , 175,3 ) 37,4 nirgends] so K, nirgend J 1
Otto hatte in B 1 und B 2 um neue Bücher aus der Beygangschen Bibliothek gebeten; in B 3 schreibt er, daß er noch keine bekommen habe, und bittet um Zusendung der „Agnes von Lilien“ (von Karoline von Wolzogen, 1798 in Buchform erschienen). Er erhielt Brief und Buch am „zweiten Jahrmarkttag“, d. i. 23. Jan. 1798. 34, 28 große Neujahr: Epiphania (6. Jan.). 35, 13 Sterbegedicht Hofmanns: Otto hatte mit B 2 ein Gedicht gesandt, das ihm am Neujahr der Hofer Hochzeits- und Leichenbitter Hofmann (s. Bd. I, zu Nr. 352) gebracht habe mit den Worten, es sei sein Schwanenlied. 15 meine Jugend beschlossen: vgl. Bd. II, Nr. 735, 387,36. 18f. Kotzebues (zweite) Frau war eine geb. Krusenstern aus Esthland. 24–26 Bezieht sich auf das Verhältnis zur Berlepsch, s. 46, 10 ff. 35ff. Ottos Bemerkungen über Amöne standen vermutlich in dem fehlenden Stück des Briefs an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 9. 36, 20 f. Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, Dez. 1797, S. 569. 24f. Der Leipziger Buchhändler Paul Gotthelf Kummer (1750—1835) war Kotzebues Hauptverleger; Kotzebues Mutter, eine geb. Krüger, und die Witwe des 1787 verst. Musäus waren Schwestern; über Kotzebues Bruder vgl. Persönl. Nr. 39. 28 Karl Heinrich Heydenreich (1764—1801), Professor der Philosophie in Leipzig, auch Dichter und Ästhetiker. 29 Seydlitz: vgl. Bd. I, Nr. 33, 54,13†. 37, 4 Goethe: vgl. 25, 22 f. 12ff. Otto hatte im Brief an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 9 dringend gebeten, Jean Paul möge ihm den neuen Fehler zeigen, den er an ihm gefunden habe (s. 17, 8 ). 17 Ottos längster Brief: an J. P. IV. Abt., III.1, Nr. 4.