Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Hof, 17. April 1798.
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Lieber Thieriot! Ihr geistreiches Briefbuch hat mich sehr erquikt.
Ihre Manier streift zwar zuweilen an die zu keke schlegel’sche; aber
der Maler nicht. Was Sie über den Menschen und den Autor sagen
—
welcher leztere nie etwas anders sein solte als der Mensch
nach
seiner Auferstehung oder der Mensch im hohen Stil — ist
sehr gut. —59,10
Was die Kunstrichter über den Wiz sagen,
ist nicht sehr gut. Überhaupt
wird nicht der Dichter blos,
sondern auch der Rezensent und jeder ge-
boren; die höhere Kritik wird nicht gelehrt, sondern erzeugt
von einem
höhern Menschen, und der kritische Sin kan so wenig
aus der Lesung
vieler Werke zusammengebettelt werden als der
Dichtergeist aus der59,15
Lesung der Dichter. Daher weis ich
keine grossen Kunstrichter als
entweder grosse Menschen oder
Künstler. —
Meine rechte Antwort auf Ihren Brief geb’ ich Ihnen — mündlich.
— Haben Sie die Güte, H. Pfarr diesen zu geben und ihm zu sagen,
daß er sich nie unterstehen dürfe, meine Papiere zu berühren
d. h. zu59,20
verwirren und daß ich bis Ende Aprils ein
volles Recht auf meine Stube
habe und daß ich den 22ten hier mit Extrapost abgehe.
Grüssen Sie alle Ihre Freunde von meinetwegen.
Schauen Sie, Lieber, das Gute, Schöne und Wahre weniger mit
den Augen eines Philologen, Kritikers, Künstlers an, der nur fremde59,25
Effekte berechnet und eigne vergisset als wäre Gott und das
Universum
und das Ich nur zum elenden Darstellen in Prosa
und Versen da — —
dieses hiesse aus einem beseelten Original
zu einem Kniestük und zu
Farbenkörnern vertroknen.
Leben Sie glüklich, lieber guter, warmer Jüngling!59,30
P. S. Eben erhalt’ ich Ihren 2ten lieben schönen Brief. Meine
Reglements treffen
also mit Pfarr’s seinen zusammen und Sie
brauchen ihm wenig zu sagen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot. Hof, 17. April 1798. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=III_83
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin Varnh. 213 (derzeit BJK). 4 S. 8°. K (nach Nr. 85): An Thieryot 18 [!] Ap. J 1: Wahrheit 6,33×. J 2: Denkw. 1,405. B 1: IV. Abt., III.1, Nr. 48. B 2: IV. Abt., III.1, Nr. 49. 59,10 der Mensch] nachtr. H 18 Briefe H 24 Schauen] davor gestr. Lesen H 26f. das Universum und das Ich] das Ich und die Unsterblichkeit K 29 vertroknen] eintroknen K 30 lieber] aus mein H
Thieriot hatte in einem langen, manieriert-witzigen, jeanpaulisierenden Briefe (B 1) u. a. Betrachtungen darüber angestellt, daß seit seiner persönlichen Bekanntschaft mit Jean Paul dessen Schriften weniger Eindruck auf ihn machten, da sie den idealischen Reiz verloren hätten, den ihnen vorher die Idee ihres unbekannten Schöpfers gegeben habe. Er hatte darin auch von einem Disput berichtet, den er am dritten Feiertag (10. April) mit Professor Hermann (s. 17, 29 †) über Jean Pauls Witz gehabt habe. Vgl. das „Einladungs-Zirkulare“ I. Abt., VIII, 404ff.