Edition
Korpus
Korrespondenz

Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 3. April 1796 bis 4. April 1796.

Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



[Kopie]

[ Hof, 3. Apri. 1796. Sonntag]

Ihre Briefe sind der beste Exorzismus gegen den Teufel der Stumheit — sie sind eine fixe Besoldung für jedes Wort, das man frankiert; man weis doch gewis, in 8 Tagen kömt der Wechselbrief. Ich muste mir Ihre Briefe wie kleinere Freuden abbrechen, um den ganzen Tag nichts in der Hand zu haben als stat Ihrer sanften warmen den Kiel. — Ich ruhe nicht unter sondern auf dem Grabesmarmor aus. Wenn ich meinem Geist und Körper [Ferien] von 3 Tagen geben wil: am zweiten drängt mich eine unbezwingliche Bruthize wieder über mein Nest vol Eier oder Kreide. Der arme Paul wirds so forttreiben [bis] die gequälte fieberhafte Brust von der lezten Erdscholle gekühlt [ist]. Unser Leben ist eine Kette von Mitteln — dem lezten und neuesten trauen wir alles zu, alle Heilungskräfte für den ewigen Fieberdurst — und unser Geniessen des Lebens ist nur ein sanfteres Vergessen desselben. — Alle Sachen des Vergnügens müssen wie Einfälle und der Fund des 4 blätterigen Klees dem platten Zufalle überlassen bleiben. — Er [Otto?] ist ein redlicher Teutone und kein wie ein Schül[er] ge bükter Lehrer sondern gerade wie ein deutsches Komma, unähnlich dem krummen französischen. Sie umfässet ein unsichtbarer Arm. Es ist unmöglich, allein ohne meine Freunde, ohne meine Freundinnen Ihr Freund zu sein — ich meine wir lieben Sie alle. — Wir beide halten den Freiheitsbaum für den Brod- und Erkentnisbaum des Lebens, also giebt es für [uns] weder aktive noch passive gêne. Es ist sonderbar, daß die Franzosen nur das Wort und die Deutschen nur die Sache haben. — Fränklin räth an, man sol jede Nacht die Betten wechseln. Warlich man solte — Menschen ausgenommen — alles wechseln (und abdanken nichts), zuerst ausser den Hemden Stuben, Spaziergänge, besonders Städte, ich meine man solte in 2 Städten wohnen und zwischen ihnen hin und herziehen. Der jüdische lange Tag unsers Lebens würde uns durch sein ewiges Idem abmatten und ekeln, wenn nicht die sanfte Natur zwischen jede 12 Stunden und Akte den Schlaf als die Folie des Wachens eingeschoben hätte. Daher kan — oder die ganze Menschennatur wird gefelgt und umgestürzt — die 2te Welt kein grünes Sumpfwasser einer fixen Ewigkeit sein sondern ein unabsehlicher Wechsel, d. h. ein unabsehlicher Flug, d. h. ein ewiger Tod. O ich habe oft kindisch zu mir gesagt: ich bin nur froh, daß ich existiere und sterbe, der blossen Wunder und Neuigkeiten wegen, die ich zu erleben hoffe. Jezt fühl’ ichs und bemerk’ es als etwas Sonderbares, daß wir uns wundern, daß wir existieren — wir fühlen uns zufällig, nicht ewig, wir fassen kein ewiges Ich in der Vergangenheit, kein sterbliches in der Zukunft. Ich höre sanft und glüklich auf und alles, was ich sage, steht ja schon zusammengefasset im ersten Wort der folgenden Seite.

d. 4 April.
Geliebter

Wenn auch das Widerspiel von der Menge gälte: so zieh’ ich mich doch mit einem jeden Schmerz, den mir das Verhängnis zuwirft, trozig und in mich zurük gedrükt in die engste Ecke meines Ichs hinein. Bin ich aber glüklich — das heist auf der Erde bin ichs halb, ¾, ⅘, ⅚, 6 7 — so sehnt und erweitert sich mein Herz nach einem Menschen, an den ich mich mit sanftem Dank an den verdekten Algeber mit süssem Anspannen und Zerrinnen legen darf. Mein Oertel, ich bin jezt an Ihrem Herzen. Wie viel 100 mal besser wäre der gute Mensch, wenn [er] der glükliche wäre. Ein zu bitteres Geschik nimt uns zu oft die Nachbarschaft der Engel, unter denen man so leicht selbst einer würde, und den Wiederschein eines dürstenden Ichs.

Zitierhinweis

Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 3. April 1796 bis 4. April 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_278


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958. Briefnr.: 279. Seite(n): 173-174 (Brieftext) und 449 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

K: Oertel in Leip. 3 Ap. 96. i 1: Wahrheit 5,94×. i 2: Denkw. 1,326. 173,9 Ferien] ergänzt nach 171,24 174,7 April] aus März

173,16 f. Sachen des Vergnügens: die Bemerkung bezieht sich wahrscheinlich auf die geplante Reise nach Leipzig und Weimar, vgl. 180, 5ff.