Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 13. Februar 94.
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I, 432]
Ich schreib ihn für, nicht wider sie; aber mit einer Nieder2,5
geschlagenheit, die mir den Unterschied zwischen den
Schilderungen der
erdichteten und der wahren Leiden zeigt. Wenn
du einige meinen Brief
beschliessende Stellen aus ihrem heurigen
Tagebuch gelesen hast (sie
führt seit einigen Jahren eines): so
wird deine Wärme sicher die
meinige rechtfertigen. Beim — zweiten
Durchlesen meines Briefes2,10
bist du mit mir einig. Nims von
mir an, mein lieber Christian: du
behandelst sie für kleine
Symptomen ihres Temperaments zu hart —
nicht zu hart nach deinem
Rechte, aber nach dem ihrigen. Dich recht
fertigt ganz ihr Schein, aber sie ihr Inneres. Dieses hat
so wenig
mit jenem gemein, daß sie z. B.
sonst (denn jezt lieben viele
ihrer2,15
vorigen Feinde sie von Herzen, Eine Feindin
ausgenommen) nur
stolz aus einem gekränkten Gefühle war, weil sie sich in jeder
Gesel
schaft verachtet glaubte. Und
dieses glaubte sie, weil ihr Vater und
ihr Hofmeister ihr so oft sagten, sie wäre „dum und häslich“,
daß sie es
selber glaubte, bis Wernlein der immer verkanten
Seele ihre Rechte
2,20
gab. In einem solchen sarkastischen Hause, — unter
solchen pädago
gischen Mishandlungen — unter
der Wiederholung derselben in
Frankfurt beim Boshaftesten Weibe
und bei dessen dumsten Sohne —
konte nur das beste Herz nicht zum bittersten werden. Du
soltest ihre
stille Ergebung in die väterliche Härte, ihre
unbegreifliche Geduld mit
2,25
der brüderlichen Giftmischerei der Anspielungen und
Thaten be-
merken, ihre häusliche mit der
ausserhäuslichen Raschheit kontra
stierende
Sanf[t]muth gegen die Mägde, die wenn
sie fort sind über
alle im Hause klagen und sie ausnehmen und
ihrentwegen die Stelle
wieder suchen. Sie ist aus meiner
Bekantschaft die einzige ihres Ge2,30
schlechtes, der ich jedes Wort heilig glauben darf und die in den
mislichsten Lagen zu keiner Wendung Zuflucht nimt als höchstens
zum
Schweigen. Eben diese stolze Unfähigkeit zur Verstellung
(aber kein
Has, denn sie ist zu sehr in ihre sanftern Träume
eingesenkt, um
jemand, nicht einmal die K. zu hassen) giebt nebst ihrem voreiligen
2,35
Temperament ihrem Betragen gegen Personen, die blos ein höf
liches
verdienen, einen zu aufrichtigen Anstrich; aber wie wenig Has
dabei ist, siehst du, weil sie (z. B. bei dem Vorfal in Neuhof, den mir
3,1
selber erst deine Schwester entzifferte) niemals weis, wo sie
gefehlet
hat. Blos gegen eine Person (K) war sie
ungerecht; aber wenn ich
schon der K
äusserliche die Büste einnehmende Koketterie kaum mit
ihren Briefen, häuslichen Verdiensten und vielfachen
Beraubungen3,5
wie mit einem Mantel der Liebe zu bedecken
weis, wie viel weniger
kans sie, nähere
Rüksichten noch abgerechnet. — Indessen fehlt sie
doch in diesem Punkt — in welchem aber jede andre mit ähnlichen
Verhältnissen auch fehlen müste — und du must sie zu bessern
suchen;
aber nicht durch die bisherigen Mittel, nicht durch
die Kälte, die3,10
gerade alle ihre geselschaftlichen Sünden
erzeugte und deren Absicht sie
nicht erräth und die ihre
Schmerzen und Fehler mit einander anhäuft.
Und wenn du noch
fortfährst, sie mit diesem Wechsel von kalten und
warmen Tagen
zu verwunden, der die Menschen wie die Gewächse
zerrüttet: so
erliegt sie. O warum stellest du ihr nicht gerade zu, mit3,15
klaren Worten, mit der Beredsamkeit der Herzlichkeit die kleinen
Fehltritte vor, wie du mir es thätest und thust? Sag ihr nicht
einmal
einen Grund und begehr’ es als einen Gefallen: so thut
sie es. Es giebt
nicht[s] folgsameres — nicht gegen die
Kälte der rationes decidendi
sondern die Wärme der Freundschaft und Liebe — als dieses Ge3,20
schlecht: sie ertragen vom unsrigen
alle Wahrheiten und bessern sich
gern um, wenn nicht Liebe oder
Ehrgeiz (worüber sie nicht siegen
können) es ihnen erschwert.
Ueberhaupt wird mir dieses Geschlecht
heiliger, je länger ich es
zu kennen suche; es hat eine fassende Seele
für alle unsre
Vorzüge, aber die wenigsten von uns haben eine für alle3,25
seinigen; und wenn es den höhern das Ganze und die Ewigkeit be
schauenden und umfassenden philosophischen Geist noch hätte,
so wär’
es besser als wir.
Glaub’ aber nicht, daß ich darum dein Betragen tadele, das ich
den ganzen Sommer hindurch als eine neue Seite deiner den Weg3,30
durch die sonderbarsten Verhältnisse
findenden Rechtschaffenheit
und Feinheit verehrte; sondern nur
den Gegenstand deines Betragens
wil ich ändern.
Die Stellen des von ihr erhaltenen Tagebuchs schrieb ich ohne ihr
Wissen ab; aber mit ihrem nachfolgenden weiblichen Ja-Nein3,35
obwol ohne ihren Auftrag geb ich dir sie und den Brief. Ich
habe
vor euch beiden wie vor Gott gehandelt und keinem etwas
verborgen;
und dieser Brief ist meine erste gewis-gute
Handlung in diesem Jahr.4,1
Ich habe zu ihr gesagt: „er sprach durch
mich an Sie, warum nicht
Sie wieder an ihn und Sie können mir
nichts erlauben und verbieten,
wo mein Gewissen schon eines
that.“ — Es war eine Zeit (und so
oft ich nicht meinen April
habe, kömt sie wieder) wo wir einander4,5
nichts, gar nichts
verhehlten in einer himlischen Aufrichtigkeit ohne
Gränzen, die
ausgenommen, die Ihr die heiligste und unverlezlichste
Weiblichkeit sezte und mir fremde Geheimnisse. Ich bin ihr
Bruder
und bleib’ es, wiewol sie mich oft ärgert, als wär’ ich
kein adoptierter.
Ich weis gar nicht, wie ich über meinen Schwal von Gedanken4,10
Herr werden sol. Die Träume, woran sie in ihrem Tagebuche
denkt
— das, einen so philosophischen und über die Sprache
herschenden
Geist es auch verrathe, doch als eine
Abendarbeit, als ein Abend
gebetläuten ihre
Briefe nicht erreicht — sind lauter Schreklarven der
Geisterstunde: z. B. die im vergangnen Monat, daß sie Gift für
4,15
sich einzurühren glaubte und sich vor nichts fürchtete
als vor dem Zu
wenig Nehmen, oder daß sie den Vorwurf der
Koketterie von dir
hörte und unglüklich und trostlos an mich
eilte und sich auf mich
berief und nach meiner Verneinung sagte:
„nun bin ich gerechtfertigt
und verloren.“ — Du gute Seele, auch
ausser der Rolle in deinem4,20
Traum würd’ ich „Nein“ sagen
und beweisen, daß die Koketterie mit
allem besteht, nur nicht
mit leidenschaftlicher blos von Vorzügen
gerechtfertigter
Liebe.
Les jezt das Tagebuch und du wirst dich wundern, daß einer wie ich,
der sein Inneres immer mehr mit seiner romantischen Feder ab4,25
schäälet, bisher so ordentlich
fortgeschrieben:
„Wie es Menschen geben kan, die von einem Jahr zum andern fortleben, ohne
nur einmal daran zu denken, daß mit ihm auch ein Theil von
dem Ganzen unsers
Lebens dahin ist, fält mir heute mehr auf
als je. Ohne die geringste Anwandlung von4,30
Rührung oder
Nachdenken über ihre Handlungen im verflossenen Jahre schmeissen
sie es hinter sich wie ein abgetragnes Kleid und fahren dafür
ins Neue. Die Wünsche
von andern dünken ihnen schon wie
erfülte und sie glauben, die Zukunft sei so glän
zend wie ihre Versprechungen. — Meine heutigen Wünsche
sind sehr verschieden
von den Eurigen. Mögt ich bei der
Trennung von Dir entweder nicht mehr oder4,35
ganz einig
mit mir sein, mögten alle Vorsäze zu Grundsäzen werden, daß ich mit
mehr Beruhigung auf dich als auf deinen Vorfahren
zurükblicke. Las nie Zweifel
mehr in mir entstehen die mein
Herz bisher quälten, gieb ihm lieber stat wieder
holter Kränkungen eine gänzliche Zerspaltung. —
Unwilkührlicher Schauer ergreift
meinen Körper bei dem
Gedanken an das Verhältnis, daß gerade vorm Jahr um5,1
diese Zeit
mich um Seelen und Körper Ruhe, um Wünsche und Ansprüche auf die
Zukunft brachte.“ etc.
d. 4 Jenn. „So wie alzulebhafte und schrekhafte Träume von
unruhigem
Schlaf zeigen, so sind die fürchterlichen Bilder
unserer Fantasie eine Folge unsers zer5,5
rütteten Gemüthszustandes. Etwas müssen wir haben, an daß
[!] wir uns halten;
sind unsere Hofnungen fehlgeschlagen, so kömt uns die
Einbildungskraft zu Hülfe
und diese bleibt äusserst selten in
Schranken, sie übertreibt das Gute und Schlimme.
Je weniger das Herz Gelegenheit hat, sich zu ergiessen, desto leerer wird es.
So
lang dem Drang, den jeder gute Mensch hat, sich an ein
theilnehmendes Wesen zu5,10
schliessen, nicht Genugthuung
geschieht, so lang bleibt jedes Gefühl einseitig, jedes
Verlangen nach Mittheilung bleibt unerfült, jeder gute Gedanke wird in sich
selbst
erstikt, der sehnliche Wunsch wird zum minder
sehnlichen, bis auch die reichhaltigste
Quelle des Guten und
Schönen sich zum Ausflus verschliesset und nach und nach ein
troknet.“ — etc.5,15
d. 16 Jenn. „Die Thränen der Vergangenheit mischen sich
mit denen der Gegen
wart. So angenehm die
Dämmerung an Sommerabenden ist, so unangenehm ist
eine in der
Seele. Nur so lang ein Räthsel nicht gelöset ist, so lang ists unverständ
lich, daß aber ich in einem fort kan
misverstanden und falsch beurtheilt werden,
greift mich im
innersten an. Alles nur nicht meine Grundsäze würd ich aufopfern,5,20
um die Wünsche anderer zu erfüllen, ich würde allem entsagen,
um völlige Genug
thuung zu leisten und
mir nur ungestörte Seelenruhe ausbedingen. Schreklich und
garstig gestaltet faltet sich mir die Vergangenheit auf.
Warum bekam ich ein Herz daß [!] zu
weich für alle Einwirkungen ist, warum,
o! zerspringen mögt’
es, wie viel litt ich heute wieder unter der Maske der Lustigkeit.5,25
Ich unterliege noch während der Aufklärung. Nichts wie Nacht
wünsch’ ich mir in
einem fort, weil sie am ersten meinen
Gedanken die Vorhand lässet und ich von
andern nicht bemerket
werde. In jedem Blik, in jedem Lachen glaub ich eine bittere
[
I, 431]
Anmerkung für mich zu finden. Nichts macht argwöhnischer als
Unglük, nichts un
geselliger als
fehlgeschlagene Erwartungen.“ etc.5,30
d. 24 Jenn. „Ich erstaune und werde immer unzufriedener
mit mir. Wieder alle
Vorsäze über den Haufen geschmissen und
kaum sind ein Paar Tage von dem Jahr
daß
[!] ich mit unerschütterlich
standhaftem Muth antrat, wo ich so gewis war, daß
mich meine
Leidenschaften nicht mehr betäuben noch weniger alle Arten von Tortur
aushalten liessen. Durch sie gekrümt wie ein Wurm, das Grab
jedes guten Ge5,35
danken, anstat ich
mich ohne sie Gott näher schwingen könte. Nichts als meine zu
grosse Empfindlichkeit, meine öfters überspanten Erwartungen und die
Lebhaftig
keit in meinen Aeusserungen
sind die Quellen meiner Unruhe.“ etc.
31 Jenn. „Das Monat ist geendigt, aber meine Quaal noch
nicht. So lange
Zeit hielten sie beinah niemals an. Die
fürchterlichen Träume der Nacht, deren ich5,40
bisher so
viele hatte, sind die Kinder meiner Gedanken bei Tag. — Undurch
sichtiger Nebel umhült meine Seele und
alle Gedanken für eignes und fremdes
Wohl werden von ihm
verzehrt.“ etc.
Ende des Tagebuchs.
Die Beschäftigungen mit den Wissenschaften und überhaupt mit6,1
grossen Gegenständen stellen uns die nahen Schmerzen einer liebe
siechen Seele zu geringfügig vor; aber es
ist eine Täuschung: wir
können die Schmerzen nicht nach den
Marterinstrumenten ordnen und
ob das Kriegsschwert tausend
Herzen auf einmal oder ein Opfermesser6,5
eines von jenen
allein zerschneidet, das ist für dieses einerlei Wunde.
Das
algemeine Unglük hat in seinen tausend Krallen doch nur allemal
einzelne zerdrükte Herzen. —
Ich seze zu den Schilderungen ihres Tagebuchs keine dazu; jezt
wirst du glauben, daß ihr gespantes trübes Aussehen in Geselschaften6,10
nicht verheimlichter kämpfender Grol sondern daß er das
Zurükpressen
der überwältigenden Rührung ist. — Gieb mir
deine Antwort wie du
wilst, mündlich, schriftlich,
schweigend; aber verzeih mir diese eiligen
ohne Wage des
Ausdruks hingeschriebnen Bogen — Es war meine
Pflicht: ich
konte es nicht länger ansehen dieses almählige Versinken6,15
aus einem Schmerz in den andern, diese zergehende Erweichung
des
Herzens, in das jezt die Töne des Konzerts zu
schmerzhaft tief ein
schneiden und das in
allen Büchern nicht mehr die kleinste Aehnlichkeit
mit seiner
Geschichte aushält. — Lebe wol, mein lieber Otto; ich
hätte
dir noch tausend Dinge zu schreiben, aber wenn du wilst, kanst6,20
du sie ja hören.
Richter
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 13. Februar 94. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_3
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Anfang (bis 4, 26): Kunst- u. Altertümersammlung der Veste Coburg, 7⅔ S. 4°; Schluß: Berlin JP, 7 S. 4°. K (nachtr. im 4. Briefbuch im März 1796 nach Nr. 224): Otto 94. 13 Febr. J: Otto 4, 219, Z. 3 v. u. bis 223, Z. 4, als Brief an Amöne, eingeschoben in Bd. I, Nr. 413 (anstelle von 371,2 Ich bis 33 legte;), wohl wegen des ähnlichen Datums. 2,6 den2 bis 7 Leiden] aus Schilderungen erdichteter und wahrer Leiden H 8 heurigen] aus heutigen H 13 aber] aus sondern H 23 bei dessen] aus beim H 25 ihre unbegreifliche Geduld] aus ihr unbegreifliches Erduld[en] H 32 keiner Wendung] aus nichts H 35 voreiligen] aus vorigen H 3, 3f. ich schon der] aus mir, der ich ihre H 4 die Büste] davor gestr. bis zu ihrer H 6f. weniger kans] aus mehr H 14 die] beidemal nachtr. H 34 von ihr erhaltenen] nachtr. H 4,2 mich] davor gestr. sie H Sie] aus sie H 3 Sie] beidemal aus sie H 4 schon] davor es H eines] nachtr. H so oft] aus wenn H 13 als eine Abendarbeit] nachtr. H 15 die] davor gestr. der, daß H im] aus in diesem H
Amöne hat den ersten Teil dieses Briefs bei der Veröffentlichung in einen an sie selbst verwandelt! 2, 16 Eine Feindin: Helene Köhler. 20 Wernlein: s. Bd. I, Nr. 275. 3, 1 Neuhof: ein Weiler bei Hof; vgl. 121, 31 . 4, 5 meinen April: meine Launen. 15–17 Hans Bach in seiner Schrift „Jean Pauls Hesperus“ (Leipzig 1929), S. 96, nimmt hier einen wirklichen Selbstmordversuch Amönens an; es handelt sich aber offenbar nur um einen Traum. 5, 1 Verhältnis: zu Jean Paul, vgl. Bd. I, Nr. 413.