Von Jean Paul an Johann Georg Jacob von Ahlefeldt. Hof, 29. April 1796.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
[Druck]
Du wirst mein Schweigen vergeben — da ich ja ohnehin so oft mit
dir gedrukt rede — aber vielleicht meine Undankbarkeit nicht, da du
mich näher an die Dauphine deiner Seele geführt, ich meine
an
Klotilde. Ich habe sie zwar noch nicht gesehen, aber doch
schon einige184,20
mal gelesen. Wie wil
ich dir die Gabe zweier Herzen mit einem einzigen
verdanken?
Ich sehne mich unaussprechlich nach der ersten Minute, wo
ich
ihre Seele nicht auf kaltem Papier sondern in ihrem lebendigen
Auge sehe. Du stehst oft auf unsern Blättern; ja sie hat mir einige von
deinen an sie geliehen. — O mein guter Ahlefeld! warum fehlet
der184,25
schönsten Liebe eine — schönere Erde? Warum
kanst du deine gute
warme Brust anstat an eine zweite, nur in
die kalten eisernen Stacheln
des Schiksals und der Zukunft
drücken? — Dein Freund hat sein Auge
oft abgetroknet, um zu
sehen, was du schreibst. Ach wie viel öfter und
schmerzlicher
wirst du aus den sanftern Augen bittere Tropfen quälen.184,30
Aber Ahlefeld, für alles was sie dir gegeben, für alle ihre Freundschaft,
für alle ihre Schönheiten, für alles womit sie deine Seele
fülte und hob,
machst du sie zum Lohne — unglüklich, recht
unglüklich. Alle deine
Thränen müssen ja zu ihren werden, alle
deine trüben Stunden müssen
als dicke Wolken über ihre
unschuldige Seele ziehen. Sie steht un185,1
glüklich und gelähmt zwischen dem Wunsche zu helfen und zwischen der
Unmöglichkeit. Sie steht, von der Nothwendigkeit und Tugend
zugleich
gebunden, auf einer steilen Insel, du stürzest dich
vom Lande ins Meer
und schwimst ihr entgegen — und sinkst — und
breitest die Arme aus185,5
und rufst: reiche mir deine Hand,
deinetwegen hab’ ich mich herein
gestürzt,
— ich wil zu dir. — Und die Gequälte kan dir keine
herunter
reichen und sie mus erstart und weinend deinen Krämpfen
der
Marter, deinen Thränen, deinem Arbeiten und deinem Sinken
zusehen. O ich wil lieber versinken als versinken sehen — du hast doch185,10
noch das Gefühl, Leiden zu ertragen, sie hat das bittere, sie
zu veran
lassen, ohne etwas dafür zu
können. Sie kan nichts ändern, du alles.
Sieh Ahlefeld, wenn
du leichenblas dalägst, und dich könte nichts mehr
retten als
ein Tropfen warmes Blut, das aus ihrem Herzen geprest
würde —
o du stürbest lieber. — Und jezt zieht doch jeder deiner Briefe185,15
schneidend ihr unschuldiges Blut aus ihrem müden Herzen — und
es
heilt dich nicht. Du bist grausam aus Liebe und lässest
auf dem Opfer
altar die — Göttin selber
bluten. „Was sol ich denn thun“ (wirst du
mich fragen),
„ausser sterben oder hoffen?“ Lieben, ohne zu wünschen!
Kanst
du mehr Liebe von ihr begehren als sie der besten Freundin, dem185,20
besten Freunde gäbe? — Ach das ist eben das Unglük der
Menschen,
daß sie einen solchen Unterschied zwischen Liebe
und Freundschaft
machen, als könte man je etwas anderes oder
höheres oder schöneres als
die Seele lieben. Sieh, sie hat dir
ihre höchste Freundschaft gegeben:
sei stolz, aber auch
zufrieden. Ach, vergilt ihr die grosse Gabe mit dem185,25
Geschenk der — Ruhe. O wie wird sie dich lieben, wenn sie zu dir sagen
mus: „du bist mein wärmster Freund, denn ich bin glüklich,
wenn ich
dich lese, wenn ich dich sehe, wenn ich dich denke.“
Aber jezt ist sie’s
nicht. Sage dir doch, wo es hinaus wil —
nichts steht vor dir als eine
lange Reihe Jahre vol Blut; ihre
Gesinnung ist keiner Aenderung185,30
fähig — ja an jeder
Aenderung müste eben deine Liebe sterben. — O sei
zufrieden,
daß du glüklicher als tausend andere bist, vor deren dürstende
Seele nicht einmal ein verkörpertes Ideal ihrer Liebe trit — du hast
doch die Opferflamme und die Gotheit zugleich; andere haben
nur jene
und nicht diese: sei zufrieden, daß du lieben kanst.
Glaube mir, es liebt185,35
sich nirgends schöner als in dem —
Herzen, in der Unsichtbarkeit —
liebe sie wie die Tugend, die
keinen Körper annimt. Der erste Kus (sagt
ein Autor) endigt
die Liebe — ich sage, gewis der zweite. Schau alle186,1
Eheleute,
alle Liebende an, die schönste Aetherflamme brent niedriger
auf
dem Altar aus — Erde. Denke sie, aber sieh sie nicht — dan liebst
du.
Sei ein Man — deine Kraft erhöhe ihre Liebe zur Bewunderung —186,5
und liebe sanfter, damit sie froher liebe. Verbirg deine Schmerzen,
um sie endlich zu besiegen, opfre ihr das Schönste auf was du hast,
einen Theil deiner Liebe. Aber den andern Theil nie. O gieb ihr
den
Trost und den Stolz, daß sie sagen kan: „ich werde
schöner geliebt als
ihr Alle — er behält nichts als den Schmerz
und giebt mir nur die186,10
Freude — er liebt an mir das
einzige Götliche am Menschen, die
Pflicht.“ Ahlefeld, wenn du
einmal auf dem lezten Bette von ihr
scheiden müstest, oder
wenn du sie unter schönern Sonnen als unserer
einzigen, in der
zweiten Welt wiederfändest: dan dürftest du deine
Arme
ausbreiten und sagen: „kom an mein Herz — ich habe dich ver186,15
dient — denn ich habe dich nachgeahmt, ich
habe wie du die Tugend
noch neben ihrem Schmerz fortgeliebt. —
Ich habe dich auf der ersten
Welt so rein geliebt als wärst du
auf der zweiten.“
Du siehst, nicht meine Philosophie, sondern meine Empfindung
spricht mit dir. Verbirg — (das sind die Mittel zur Erfüllung meines186,20
Raths) — ihrem Schmerze den deinigen — schreibe weniger, aber
doch
froher — achte es für einen hohen Beweis der Liebe,
daß sie bisher
lieber alle deine Thränen fallen sah, in der
Hofnung, daß sie versiegen
würden. — Nim dir bei deinen
Talenten, zumal der Phantasie, einen
würdigern Spielraum als
ein Kollegium ist und giesse deine übervolle186,25
brechende
Seele in irgend einer litterarischen Arbeit, in einem Roman
etc. aus. — Und sei ein Man: liebe, verbirg, ertrag und gieb! — Mache
sie glüklich ohne es zu sein, dan wirst du es doch. Die
reinste Liebe kan
alles hinopfern, sogar ihren Genus. Ich bin
dein mit doppelten
Blumenketten an dich geschlungner Freund —
noch einmal: liebe wie186,30
du geliebt wirst — und vergieb,
(wenn du nicht dankst)
Richter.
N. S. Mit welcher Freude leg’ ich auf die entzündete Brust meines
Freundes die kühlende und stärkende Blume aus seiner
Klotilde
186,35
[Hand]
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Johann Georg Jacob von Ahlefeldt. Hof, 29. April 1796. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_303
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
(H bestand aus 3 Blättern, s. 187, 16) K (nach Nr. 304): Ahlefeld. 29 Ap. i: Wahrheit 5, 101×. J 1: Gesellschafter, 1. Juni 1832. *J 2: Dietmar Nr. 1. B: IV. Abt., II, Nr. 80. A: IV. Abt., II, Nr. 93. Statt Ahlefeld hat J überall A**. 184,21 dir] so K, fehlt J 26 schönsten] schöneren K 185,32 glüklicher bis 35 du] so J 1 (teilweise K), fehlt J 2 186,16 dich nachgeahmt] so K, dir nachgeahmt J
Der Brief — ohne Nachschrift — wurde mit Nr. 304 an Minette geschickt und von dieser mit einem eignen, für Ahlefeldt bestimmten Blatt an Jean Paul zurückgesandt (vgl. Nr. 306†), der nun die Nachschrift hinzufügte und beides nach Berlin schickte. Ahlefeldt erhielt es am 13. Mai und sandte Richters Brief nebst seiner Antwort an Minette, da er nicht wußte, daß diese den ersteren schon kannte.