Von Jean Paul an Renate Wirth. Hof, 9. März 1794.
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Blos um mich bei mir selber zu entschuldigen, — weil ich innerlich
Ihre Kälte einer bessern Ursache zuschrieb als der Laune —,
büss’ ich6,25
eine voreilige Sekunde mit einer langweiligen
Kopier-Viertelstunde.
Nie ist die Kälte schneidender als bei
eigner Wärme. Wie gros die
leztere bei mir gestern war, beweiset
mein Brief, den ich wörtlich
treu aus seinen Ruinen kopiere.
Ich wolte Ihnen heute für den SonnenUntergang Ihres Jahrs
recht viel zubringen — und bringe recht wenig, weil ich schon unter
andern Anspannungen ermattet bin. Wenn aber irgend eine Bay-
reuthische Minute zu mir trit
und mir alle ihre Zaubertränke eingiebt6,35
— dan
bekommen Sie einen Brief. Zwei andere aber gedrukte, zum7,1
Nachhall eines Jahres gemachte Briefe könten Sie wenn Sie wolten
im 2ten Theil meiner Mumien von 135 bis 148 und von 447 etc.
lesen. — — Und doch werd’ ich jezt weich, indem mir ist als
hört’ ich
die Abend- und Todtenglocken eines eingesunknen
Menschenjahrs sanfte7,5
Töne in Ihre Seele senken, Töne wie
aus der Ewigkeit — und ich
sage, indem ich Ihr Jahr heute mit
der Abendröthe seines lezten
Tages in sein Grab einsteigen
sehe: „Sinke nur unter, du langes Jahr,
„mit allen den
Thränen, die du Ihr aus dem Herzen gedrükt, und lege
„dich auf
dein Todtenkissen vol Freudenblumen, die du Ihr ertreten7,10
„hast — aber doch habe Dank für alles was du Ihr gabest und
was
„schöner war als was du Ihr nahmest — habe Dank für
das weichere
„Herz, das du dem Busen vol Seufzer gegeben, für
jede Thräne, die
„Sie besser gemacht, für jede Tugend, die du
Ihr abgefodert und für
„jeden Abend, wo das Versinken der
Sonne Sie an Ihres und das7,15
„Emporsteigen des Mondes
Sie an unseres in der zweiten Welt
„erinnerte — und so ruhe
wol, langes Jahr, bis irgend ein grosser
„Genius dich
aufreisset und sagt: steh auf und sag’ an vor Gott Ihre
Fehler und Ihre Tugenden“ — —
O meine Freundin, es wird gewis aufstehen, so wie meines, das sich7,20
auch in diesem Monat nicht weit von Ihrem niederlegt — ach
wenn
der Mensch die Hofnung nicht hätte, morgen noch
besser zu werden, er
wäre trostlos; und doch kan der nächste
stockende Pulsschlag diesen
Morgen ermorden —
„Neues Jahr meiner geliebten Freundin! — sag’ ich auf Morgen7,25
„jezt in dieser schönen Stunde der Erweichung — nim Ihrem
Herzen
„die Seufzer, Ihrem Auge die Thränen,
Freudenthränen aus
„genommen — mach’ Ihre
Entschlüsse fester, Ihre Seele stiller, Ihr
„Leben gleicher —
vernichte den Unterschied zwischen der Einsamkeit
„und der
Geselschaft als wenn man nicht gerade in dieser das aus7,30
„führen müste, was man sich in jener vorgenommen und als wenn
„die
Gedanken der Einsamkeit nicht grösser, schöner, wichtiger, ewiger
„wären als die Gedanken der Geselschaft — die schönsten
Gefühle sind
„nur Blüten, schöne
Thaten sind erst die Früchte dieser Blüten; und
„die heissesten Thränen sind nur der warme Abendregen auf die7,35
„Tugenden, aber nicht die
Tugenden selber — beglücke, erhebe, prüfe,
„beschenke, und
erhalte Sie, Neues Jahr!“
Mein Herz schlägt stärker, je länger ich schreibe — ich endige mit8,1
dem Wunsche, daß Ihres meines niemals verkenne, was alle
Menschen
so liebt und was der ewige Freund des Ihrigen ist,
vor dem es so
oft zerflos.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Renate Wirth. Hof, 9. März 1794. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_4
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin acc. ms. 1900. 61 (derzeit BJK). 5 S. 4°. J: Täglichsbeck S. 65. 7, 23 kan] aus konte 30 wenn wenn
Zu Renatens 19. Geburtstag (9. März). 7, 3 Mumien: s. I. Abt., II, 291—298 (Ottomars Brief im 34. Sektor) und 447—453 (Ausläuten).