Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 1. Oktober 96.
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Dir haben, mein Guter, viele nasse Augen nachgesehen und viele frohe Herzen klopfen deinen Briefen wieder entgegen. Dein ausserordentlich schöner Brief an Amöne hat ihr, mir und Otto ein poetisches Eden und Wünsche für die Verkörperung des deinigen gegeben. Jezt solte dein Auge und dein Herz wieder unter den warmen Festen unseres neu und enger geknüpften Bundes sein. Seit deiner Ankunft wohn’ ich blos in und an Herzen. Gleichwohl dehnet dir wie auf dem Brocken ein mikroskopischer Nebel alle Gestalten riesenhaft aus: du verdirbst die Mädgen durch deine Lorbeer—bäume und -wälder. Troz meiner Wärme und meiner kleinern Weltroute widersprech’ ich deiner Heroldskanzlei über Renate, die doch warlich, sei sie auch noch so viel, nicht so gut sein kan wie du, geschweige noch besser. Sie wundert sich blos über deine schmeichelnden Irthümer. Noch mehr irrest du dich über mich selber: alles was du sahest (nicht schlossest) hab’ ich wirklich, aber du sahst nicht alles was ich habe, und darunter ist fast nichts als Schlimmes. Auch steht in deinen Augen ein Mädgen, deren Reize ein leichtes Streiflicht zu Tugenden macht, auf einem viel zu hohen Postament, und eben so die Liebe zu ihnen. Ach leihe mir deine Irthümer! — Ich zerreisse hier den ganzen Fehdebrief mit dir — ich habe keinen Waffenplaz auf so engem Papier dazu — behalte deine Meinung und lasse mir die obige schweigend.
Schreibe unserer Amöne (wie Otto’n) recht bald: dein gestriges Stilschweigen, so nothwendig es war, war ihr doch unerwartet. Gieb ihrem welkenden Sommer einen Nachsommer mit Blüten — sez’ ihr wieder neue Sprossen in ihre zersplitterte Himmelsleiter ein und gieb ihrem wunden Herzen einen frohern Pulsschlag, damit es sich täusche und verwundert ausrufe: ach ich bin ja wieder glüklich.
Du wirsts werden, Gute: denn du stirbst bald!
Mässige aber dein edles Feuer gegen sie: du machst sie unzufrieden — nicht mit dir — sondern mit der ganzen Welt. — Nie entwische dir in deinen Briefen an mich die kleinste Anspielung auf A[mönens] oder Ren[atens] Geheimnisse. Wilst du dich entladen, so thu es auf einem beigelegten Nebenblätgen.
Deine Bücher wohnen nun in 4 Zimmern und liegen vielleicht in 14 Händen. Deine Rapsodien und dein Karl Flor sind (nach meinen flüchtigsten Blicken) deine besten Werke: blos aus deinen Arbeiten erklär’ ich mir deine Vor und Überliebe für meine. Dein und mein Herz hat der grosse Genius in Einer Minute geründet und weich und warm gemacht. Deine Philosophie und dein Stil (aber dieser nicht in allen Büchern) gefallen mir sehr. Ich mus aber erst vernünftig lesen.
Schreib’ an die Ostheim und mal’ ihr deine hiesigen Tage, damit die Gute, die unter ihrer Vergangenheit erliegt, auch komme. —
Den Bogenüberschus wil ich dem lieben Beygang gern ver gönnen; aber wenn ich ihm den „Jubelsenior“ nicht gebe, bekömt er gar nichts, weil mir grössere Werke die Zeit zu kleinen nehmen. Ich werd’ ihm den Senior in der Mitte des Winters schicken — er mag mir dan 20 Ldor geben — und die andern 20 erst im Frühling; — und im Herbste es drucken.
Ich schmiere und eile. Du siehst deine Leipz[iger] in einer totalen Sonnenfinsternis; aber, Lieber, die höchste Menschenliebe besteht nicht in der Freundschaft oder erotischen Liebe, noch in der Liebe fremder Vorzüge, sondern in der Liebe fremder Menschen. Wenn ich in deinem Falle bin, les’ ich d. h. fühl’ ich meine eigne Abhandlung in den „Blumenstüken“ wieder durch und bin zugleich der Missionsprediger und der Neubekehrte. Sobald ich einmal eine Schilderung der Höfer mache: stehl’ ich deine von den Leipzigern.
Der Pindus ist der Olymp des Menschen, der Baum des Erkent nisses zeigt uns alle Arkadien und hängt selber vol Ananas — darum beglücke dich durch Einen wissenschaftlich strengen Plan, exzerpiere, lese naturhistorische, physikalische etc. Werke und vermauere alle diese Steine zu Einer Peterskirche, welche du auch wählen mögest. Hast du in dir Genus: dan erst hast du auch in dir Duldung für Alles. —
Lebe wohl! Mein Herz ruht näher an deinem — wir verlassen uns nie — ach aber ich möchte dich nicht blos lieben sondern auch beglücken — und ich kan es so wenig! Lebe wohl!
2 Okt. Gestern hört ich daß Amöne an dich geschrieben habe. — Hier ist er; aber ich darf ihn erst in Leipzig lesen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 1. Oktober 96. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_421
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 8 S. 8°. K: Oert. Leipz. 1 Okt. J: Denkw. 1,335× (die Nachschrift S. 338f. gehört zu Nr. 509). 248,23 viele1] nachtr. H 25 poetisches] aus papiernes H 28 neu] aus wieder H 249,2 wirklich] nachtr. H 9 lasse] aus las H schweigend] nachtr. H 26 weich] aus erweicht H 27 dieser] nachtr. H 31 unter] aus von H 36 erst] nachtr. H 250,14 erst] nachtr. H. — K hat am Schluß noch die vielleicht dem Umschlag entstammenden Worte: Siegellak Goldstange in Siegel-Goldstücke zerlegen.
249, 1–4 Vgl. II. Abt., V, 416, Nr. 693. 23 „ Rhapsodien über das Gute, Schöne und Wahre“, Leipzig 1792. 32f. Bei dem Leipziger Verleger Beygang erschien 1797 Jean Pauls Jubelsenior. 250, 5f. Abhandlung in den Blumenstücken: s. Nr. 180†.