Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 5. November 94 bis 16 November 94.
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d. 16 Nov. 94.
Du siehst aus dem doppelten Datum meine Entschuldigung. Ich33,15
wolte deine Abhandlung mit einer begleiten — und du siehst
das
magere dünne Ding jezt. Las dir genügen an dem animus — dis
putandi, mehr bring ich nicht.
Ich verschiebe das über Kants Prinzip, wozu mir deine 3te
Seite
Anlas giebt, bis zulezt.33,20
(der Nenner bedeutet den Bogen, der
Zähler die Seite) Aus der
Nothwendigkeit des Lebens zur
Sitlichkeit kan man darum den Begrif
des Eigenthums nicht
nehmen, weil Sitlichkeit nur die Bedingung
des Lebens ist, die
nachher ohne ihren Schaden mit diesem wegfält
— und weil du ja
dein Leben der Sitlichkeit aufopferst, d. h. du opferst33,25
die positive Fortdauer der Sitlichkeit der negativen
auf. Aus der
Nothwendigkeit der Glükseligkeit kanst du den
Begrif ziehen; aber durch
eine Menge Mittelbegriffe, die darauf
hinauskommen: das Eigen
thum ist eine
Schenkung eines höhern Wesens, das uns beglücken wil.
Da aber
bei diesem wieder der Grund des Eigenthums anzuführen ist,33,30
der ist: „es ist sein, weil ers gemacht hat“: so folgt, daß wir
ausser dem
Geschenkten auch kein Eigenthum haben als unsere Geschöpfe:
d. h.
die Tugenden . Nach dem untergelegten Mittelbegrif der
Schenkung34,1
aber gehen alle deine lichtvollen Bestimmungen des
Eigenthums an. —
An und für sich, ohne den beigezognen Begrif
der Schenkung, ist die
Identität des Eigenthums und des
körperlichen Besizes nicht rein er
weislich.
Was hat die Nähe mit dem Recht zu thun? — Denn eben, um34,5
eine Sache in körperlichen Besiz zu nehmen, sie zu fassen, dazu gehört,
daß sie mein Eigenthum ist — dieser Besiz ist eine Folge, kein
Grund des
Eigenthums. — Der abgelösete Arm ist so gut dein wie
der lebende; so
wie umgekehrt deine Nadel, wenn sie in dein
Fleisch verschwollen ist,
nicht weniger dein ist, sobald sie
heraus ist. Das Kind in Mutterleibe34,10
ist (als Körper) der
Mutter nicht mehr gehörig als ausser.
Die Formgebung ist freilich auf keine Art ein Grund des Eigenthums.
1) mus eine Sache schon unseres sein, wenn wir ihre Form
ändern
wollen 2) gäb uns dieser Kraft-Aufwand Anspruch auf
den Arbeits
lohn, aber nicht auf die Sache
3) wie kan man denn durch jede beliebige34,15
Formgebung (d.
h. durch grossen und kleinen Kraftaufwand) ein grosses
oder ein
kleines Stük in Besiz nehmen? wie können für unähnliche
Arbeiten ähnliche Belohnungen werden?
Freilich; aber aus einem andern Grund.
So wenig das Laufen
über die Erde (beim Alexander ausgenommen)
sie zusichert, so wenig
34,20
hast du durch Schlagen die Immission in die Luft; aber
anders wär’ es,
wenn du das Stük Luft isoliertest unter der
Luftglocke und Versuche
machtest. Eine Bouteille fixe Luft
gehöret ja dem, der sie gemacht.
Das , , — Und das über die Verträge (zumal ) — Und
das über
das Zwangsrecht ist vortreflich und so helle dargestelt als34,25
gedacht. Blos
der vorlezte Absaz ist entweder undeutlich oder un
richtig: denn ich schliesse jeden Vertrag eben unter der
Bedingung, daß
der andere seinen hält — sein Bruch macht
meinen, der so gut mit
paziszieret ist wie das Halten im andern
Fal.
Noch ad
. Die Menschen bildeten sich
vielleicht darum ihr Wild34,30
fangsrecht
fremder gesezloser Triebe ein, weil sie Laster und Unglük
immer
gesellen müssen und da wo das Schiksal stokt, lieber selber das
Petrus Schwert ziehen wollen.
Noch etwas: was haben mit dem Rechte des Eigenthums die35,1
Schwierigkeiten zu thun, es zu signieren und zu deklarieren? Die Frage
ist: was ist mein Eigenthum, und nicht: woran erkent es der
andere,
daß es meines ist! — Meiner Meinung nach sind nur 2
Fälle: der eine,
wenn ich auf einer Insel etc. allein bin, dan
gehört alles mir — bis 2) ein35,5
zweiter kömt: mit diesem mus
ich (das ausgenommen, was mein
Arbeitslohn ist) alles genau abtheilen . Meine Priorität, mein
körperlicher Besiz und bisheriger
Genus geben kein neues Recht, sondern
waren Genus eines alten:
jezt aber red’ ich mit dem zweiten die Zeichen
des doppelten Eigenthums ab, die vorher unnöthig waren und die
man35,10
doch immer in die Bestandtheile desselben hineinzudefinieren sucht.
Der
körperliche Besiz, die andere Form etc. sind solche wilkührliche
Zeichen und mehr nicht, die man dem Eigenthum eines Insulaners ver
geblich aufdrükt.
Über das kantische Prinzip kan ich
leider nur drei Worte heute
35,15
sagen, von denen noch gut ist, wenn sie nicht blos 3
Laute sind. Die
Autonomie des Willens heist: er ist sein eignes
Gesez, das Wollen ist
der Gegenstand des Wollens, er wil das
Wollen. So wahr das ist, in
sofern dadurch
die Gegenstände der Begierde aus dem Gesichtskreise
des Willens
geräumet werden: so bleiben doch noch andere Gegenstände,35,20
weil ein Wille eben so wenig seine eigne Richtung zum Gegenstand
seiner Richtung machen kan (das hiesse, der erste Wille sezte
einen vor
ersten voraus) als es eine Form
ohne Materie geben kan oder ein
Sehen des Sehens. Auch könte
dan die Möglichkeit einer entgegen
[ge]sezten Autonomie nicht weggebracht
werden. Die Richtung unserer35,25
praktischen Vernunft nach
Algemeingesezlichkeit und nach der Achtung
für die Menschen als
Zwecke, diese Richtung ist die Folge, aber nicht
die Erklärung
dieser praktischen Vernunft — ihr Sol, was sie von
der theoretischen unterscheidet, trent sie doch nicht von den
Begierden,
deren Aeusserung nur ein eingeschränkteres
bedingteres Sol ist. Kurz:35,30
die Bemerkung Platos — die du
mitten im Alwil findest in einer Note
— daß die Begierde (nämlich das erstemal bei ihrer Geburt)
den
Gegenstand kennen <ahnden> müsse, um ihn zu
begehren (wobei freilich
das Verhältnis des Triebes zu seiner
Nahrung, die er nie geschmekt,
und sein Sehnen darnach
unerklärlich ist) — also eben diese Bemerkung36,1
wend’ ich auf die
Richtungen der praktischen Vernunft an, deren Gegen
stand nicht diese Richtung selber (obwol diese Richtung etwas
vom
Umrisse des Gegenstandes, wie die Sehnsucht des Triebes
vom Umrisse
des seinigen giebt) sondern etwas ausser ihr sein
mus: inwiefern nun36,5
das Gott und
Glükseligkeit ist, das kan Jakobi ausführen zumal
wenn er oder ein anderer gezeigt hat, inwiefern und warum die
Glük
seligkeit allemal der Sitlichkeit
geopfert werden müsse und in [wie] weit
Identität dieser beiden sich mit der Unterordnung der einen
vertrage.
Ich habe deines und meines jezt — um 4 Uhr — wieder durch36,10
gelaufen und sehe daß ich deine Erwartungen nicht blos durch
mein
Zögern sondern durch noch etwas schlimmeres getäuscht.
Ich wolt’ es
heute um 12 Uhr reif haben; und machte alles zu
kurz. z. B. Wie wil
mir denn jemand streng erweisen, daß ich
als Insulaner ein Recht auf
die Speise habe, blos weil mich
hungert? Ich meine, anders ists nicht36,15
zu erweisen als
durch die Herabrufung eines transszendenten Nutritors.
— So
hätt ich bei Kant ausführen müssen, daß der höchste Grad der
Moralität ohne Kampf, folglich ohne die Unlust bestrittener Triebe
und folglich ein Fortwehen von lauter Wonne sei, wenn nicht
der
Mensch im öden Fohismus sizen sol. — Dein Styl braucht
jezt meine36,20
litteras laureatas nicht mehr; er kan — wenige
Bleiweis-Fälle ab
gezogen — weder heller
noch dichter sein als er ist. So oft ich so etwas
lese, krampft
es mich im Innern, daß es weiter niemand weis als ich;
und der
gröste Sieg meiner Verschwiegenheit ist, daß ich fähig bin,
über deinem Werth am Schreibpulte deine Mosis Decke hängen zu
36,25
lassen. Das Schiksal hebe sie bald auf. — Gieb mir bald
wieder einen
kleinen Aufsaz, weil ich ohnehin jezt durch einen
sehr stumpfwinkligen
Zikzak des Schiksals von der Philosophie
wenigstens als Jugend
studium weggetrieben
bin — Was ich davon zu meinem Menschenleben
und Herzenskost
bedarf, such ich zusammen; mehr nicht: aber es wird36,30
eine
weisere Zeit für mich kommen. — Nim ja nichts übel, zumal das
Eilen: ich schäme mich meines Apparats zu diesem Blatte, der dir
Erwartungen gegeben — Wenn etwas zu falsch dir scheint: so rede
mit
mir, vielleicht kan ichs retten. Lebe wol, Lieber
R.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 5. November 94 bis 16 November 94. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_43
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Anfang (bis 35 , 9 Genus): Berlin JP, 4 S. 4°; Schluß: Goethe-Museum, Düsseldorf; ehem. Slg. Kippenberg Nr. 3136, 4 S. 4°. Für die Briefe der Sammlung Kippenberg sind hier und weiter hin die Nummern der 1. Auflage des Katalogs (1913) angegeben, die in der 2. Auflage (1928) geändert wurden, aber unschwer zu finden sind. K: vgl. die Notiz im 4. Briefbuch nach Nr. 223: N B. Den Brief über das Eigenthum, Tugend, Kant schrieb ich nicht ab. J: Otto 1,174×. 33,26 positive] nachtr. der negativen] nachtr. 34,1 Nach dem untergelegten] aus Ohne den 25 helle] aus lichtvoll 28 hält] aus halte 32 stokt] aus schweigt 35,7 alles] nachtr. 8 neues] nachtr. 10 doppelten] nachtr. 21 Wille] davor gestr. leerer Richtung] davor gestr. Thätigkeit 32 Begierde] darüber nachtr. und gestr. (z. B. Hunger) 36,3 von 8 müsse] aus mus 14 streng] nachtr. 16 eines] aus des 19 wenn bis 20 sol] aus oder der Mensch sizt dan im F. drin Fohismus] Fohigmus 24 der gröste Sieg] aus die schwerste Probe (die ist versehentlich stehengeblieben) 35 Deines] vielleicht verschrieben für Dein, vgl. aber den Schluß von Nr. 75.
Ich vermute, daß die Ottoische Abhandlung über den Begriff des Eigentums, um die es sich hier und in Nr. 176 handelt, veranlaßt war durch die Schrift von Karl Fr. Wilh. von Spangenberg, einem der Venzkaischen Geschwister (vgl. Bd. I, zu Nr. 240): „Versuch einer systematischen Darstellung der Lehre vom Besitz“, Bayreuth 1794; vgl. 116, 5. Fichtes „Grundlage des Naturrechts“, an die man nach 116, 14 und 296, 26 denken könnte, erschien erst 1796. 35, 15ff. Vgl. I. Abt., V, 21,12–14 und Kants „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (1785), 2. Abschnitt. 31 Fr. H. Jacobi, „Eduard Allwills Briefsammlung“, Königsberg 1792, S. 305.