Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 5. November 96.
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Eiligst
Du hast 2 Menschen Unrecht getan, und ich einem, dir. —
1) Ich grif nie deine Praxis der Liebe sondern nur deine Psevdo
Theorie derselben an, die ich noch immer für egoistisch
halte. Hab ich
dir nicht geschrieben, daß deine Ruhe und Freude
die Richterinnen deiner
Näherung wären, d. h. daß deine Liebe
so lang recht ist als sie dir nichts266,10
giebt als —
Freuden? — Müst’ ich mich nicht in dir selber verdammen,
da
meine Wärme gegen A[möne] sich wenigstens
so äussert wie deine?
Wie könt’ ich einen Seelenbund enger zusammenziehen und
unter
stüzen, wenn ich ihn tadeln
könte? Denn in diesem Falle dürfte ich ja
deine Briefe nicht
an mich adressieren lassen. — Alles was ich dir ge266,15
schrieben, hat A. billigen müssen, wenn ich mit ihr darüber
sprach.
Allerdings ist der Gegenstand der Liebe nur Liebe,
aber nicht gegen —
mich. Es wäre jämmerlich wenn ich jemand d.
h. seinen ganzen morali
schen Gehalt von
Siegen und von Liebe gegen andere, nicht lieben
könte, im
Falle er mich hinter einem schwarzen Schleier schwarz sähe266,20
und also haste. Christus sagt’ es ja schon, es sei kein
Verdienst Freunde
zu lieben, das thäten schon die Zölner. Ich müste hier die
Abhandlung
über das Er etc. in meinen Blumenstücken ausschreiben, um
mich zu be
weisen. So kurz kan ich aber
deinem System nur die Zweige, nicht die
Wurzel nehmen. Ich
werde dir nie einen Tadel mehr sagen: du bist zu266,25
empfindlich und ich mache grössere Schmerzen als ich verhüten wil.
Unsere Zentripetalkraft gegen einander überwindet unsere
Zentri
fugalkraft: also hörst du meine
Meinung nie mehr als wo sie die deinige
ist.
Meinem Otto — den du so gut wie Amönen durch eine Nebelbank
266,30
siehest, nur mit umgekehrtem optischen Betrug — hast
du ganz Un
recht
gethan. Er wuste nichts, er sah und hörte meinen Brief nicht, er
erstaunte über deinen, er hat
gegen
deine Briefe nichts, aber alles
dafür, er errieth endlich durch mich, daß mein Brief auf die
Allegorien
sprache des seinigen falsche
Reflexe geworfen. Ganz, ganz hast du ihm266,35
Unrecht
gethan, ihm dem Unschuldigen, mehr als mir dem Unvor
sichtigen. — Und so leicht reissest du deine Seele aus den
Armen zweier267,1
Menschen? Darf kein Freund dem andern vorwerfen,
nicht einmal die
unschuldige und unwilkührliche Verwandlung der
Freundschaft
in Liebe? Und nicht einmal das hat einer von
uns gethan, weil keiner
sie glaubt; aber wenn nun? Wilst du
keine Meinung hören als deine? —267,5
Deine harte Festigkeit
und Ründung in dir selber stellet dich vor meinem
moralischen
Ich hoch und ich liebe sogar deine — Erbitterung; aber wie
hart
warest du gegen uns beide! Ich schweige über mehrere Täu
schungen, weil ich dir versprochen habe, dir nicht meine
Meinung zu
sagen als wenn sie deine ist, welches ja nicht
selten zutrift.267,10
Ich und Otto sind kühler — nämlich mit dem Kopfe — wie du und
wir beide hatten eine Freude über das moralische Aufbrausen in
deinen Briefen; aber mich
drükt die Reue, dir Schmerzen — und noch
dazu vergebliche — gemacht zu haben. Mit der Scientia media hätt
ich jenen Brief nicht
geschrieben. — — Also: ich ehre und liebe dein267,15
Verhältnis zu A., das ist wie meines — (aber nicht deine erotische
Hyperphysik) — und daher entziehe unserer dreifachen Freundin
keine
Zeile! Das Schauen in die ofnen Paradiesesthore des
Elysiums deiner
Phantasie schliesset ihr milde bunte Welten
auf — brich deinen schönen
Frühling nicht so schnel mit
Nordwinden ab! Also, lieber Oertel, schreib267,20
ihr wie
immer, durch Ottoische, Renat[ens] oder
meine Adresse. Ach es
thut mir so wehe, dir mit einem unschuldigen Widerspruche
eine so un
nüze Wunde in dein mit frohem
Blute gefültes Herz gerissen zu haben.
Ach daß es sich nicht
in dieser Minute schliessen kan, sondern erst nach 3
Tagen! —
Schreibe ihr, Lieber! und vergieb mir, denn ich vergebe dir!267,25
Du wirst noch einen Brief bekommen, lies dieses Blat zulezt.
Nachschrift den 6 Nov. um 5 Uhr als ich deinen lezten Brief bekam.
O du mein Geliebter, du demüthigst mein Herz. Edler war kein Brief
geschrieben als dein lezter; schönere und reuigere Thränen
hab ich nie267,30
vergossen. Nim wieder meine Seele an
deine, nicht meine liebende —
denn die hattest du schon —
sondern meine sanftere. Ach ich möchte dich
jezt umarmen. O
du Theuerer, ich habe dich geliebt, ich liebe dich, ich
werde dich lieben — Und du, sei gegen mich wie ich gegen dich! — Lebe
wohl, Tugendhafter, Geliebter und Liebender!267,35
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 5. November 96. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_448
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 4° u. 2 S. 8°. K (nach Nr. 441): Oert. J: Denkw. 1,342× (die Nachschrift irrig S. 373, Nov. 1798). 266,10 Sie H 14 dürfte ich] aus dürftest du H 17 ist] davor gestr. liebt H 20 im bis Schleier] Wenn ich durch einen schwarzen Schleier einen K 27 überwindet] besiegt K 33 deine Briefe nichts] aus nichts etwas H 267,18 Schauen] aus Anschauen H 19 schliesset] aus wehet H brich] aus endige H 24 3] aus 2 H 27 hier beginnt das Oktavblatt H 30 reuigere] aus reuige H
266, 22 f. Abhandlung über das Er: vgl. Nr. 180†.