Von Jean Paul an Christian Otto. Bayreuth, 29. April 1797 bis 2. Mai 1797.
Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.
325,15
Ich wolte, du sässest auf meinem Armstuhl
[und] Kopfkissen, in
diesem himmelblauen Stübgen — ich ziele
[ni]cht auf das blaue
Kabinet der Hernhuter — und hinter einem langen Kanapée, das
325,20
dem
Herold[ischen] Hause zu wünschen
wäre, damit man sich in
geraden Zahlen sezen könte. Ich kan dir nicht beschreiben
(sondern
künftig erzählen) wie mich Emanuel mit einem bis ins Kleinste und
Gröste gehenden Ammeublement überraschte, sogar von
Büchern und
von einem Reiseklavier. Das ist das erstemal,
daß ich lieber bei einem325,25
Freunde hause als in einem
Wirthshause.
Was mir hier am meisten mit gefället und mich einnimt, das bin —
ich selber, weil ich mich in einen der besten und
geschmakvolsten
Somme[rröcke] (halbseiden ist er)
begeben habe: auch die Hosen sind
nicht zu verachten. Ich
sorge, der alte Man kopiert mich, wenn er
325,30
den Glanz erblikt. —
Das Ausziehen in Hof nöthigt mir zum Glücke das Ausziehen aus
dieser Stube ab: sonst blieb’ ich sicher zu lange. Aus der
Spiegelschen
Bibliothek lies mir die Inhaberin gleichgültige Werke
zukommen, die
um mich stehen und liegen, z. B. Lavaters 4
physiognomische Quart-
325,35
bände, eine Gallerie vom
„deutschen Museum“, deutschen Merkur
326,1
etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. Daher mag ich aus
der Sennen- und Thabors
Hütte meines hohen Stübgens Vormittags gar nicht hinaus.
Für dich,
lieber Otto, wär’ es ein
Karlsbad und eine geistige Molkenkur — der
Himmel gebe, daß du sie brauchst —, einmal in der
fruchtbarsten326,5
Jahrszeit herauszureisen und
— hier in dieser niedlichen Einfassung einen schönen Wechsel zwischen
Büchern und Menschen zu verleben. — Dieser Periode dauerte
lang
in Rüksicht der Zeit. Meine vielen neuen
Bekantschaften und Visitten326,10
schreib ich dir nicht,
da Emanuel das Protokol darüber an Renate
übermacht. Ich wil blos ein Moser sein und historische
Aphorismen
versenden.
Völderndorf erzählte mir, daß man die Staatsdiener für die organi-
sierten Stellen nicht nach Wilkühr
ausgewürfelt habe, sondern blos326,15
nach dem —
Adreskalender; daraus erklärt sichs auch, warum man
gute
Stellen oft mit den verdienstvolsten Personen besezte, welche vor
der Vokazion — gestorben waren. Diese Versezung von
eingesargten
schon versezten Staatsdienern ist kein Spas
von mir sondern ein
Ernst von andern.326,20
Garvinus, Girtanner, Ammon waren 1 Tag vor mir fort. Gir-
tanner ist ein sanfter ofner und
gerade so in die Menschheit verliebter
Schweizer als Ammon
in den Ammon.
Auf Leipzig geh’ ich jezt nicht: ich mus wieder zu mir und zu meinen
Arbeiten kommen. Bücher nehmen hier meinen Besuchen viele, und326,25
meinen Briefen alle Zeit, diesen ausgenommen; und selber der 2
ten
Auflage des Hesperus. Für die
verstorbne Mutter Elrodts hab ich
ein kleines prosaisches Epitaphium (d. h. ein
Trauergedicht) machen
müssen: sie verdiente jedes und war (nach Emanuel und nach
ihren
7 lezten Worten) früher unter den Volendeten als jezt. Sie
lit ein ½326,30
Jahr ohne Speise und ohne Erhohlung von
Qual an Windgeschwulst,
Miserere, Kolik und einer
volständigen pathologischen Hölle.
Mein Brief ist leer und mein Gedächtnis vol. Die Sache ist aber,
wenn ein Abreisender an seinen freundlichen Relikten
schreiben sol, so
macht dieser nicht sowohl aus dem Inhalt als aus der Existenz des326,35
Briefes etwas.
Ich war bei Oertel und der Walzin. Diese sähe gut aus ohne die
327,1
unförmliche Insignie der nahen Niederkunft. Zum Glük war
der
Professor, den ich sprechen wolte, nicht da — blos
ihre schlanke
Mutter, die ich für ihre Schwester hielt, und
eine Frau von Schöpflin
(Jezt hab ich die Feder 40mal geschnitten und abgewischt,
an der327,5
obern Rokklappe, welches man, wie ich erst
heute finde, am besten
Rokke wegen der Unsichtbarkeit ohne
den geringsten Schaden thut) —
als Oertel kam, der jezt
dürrer und geistiger aussieht, marschiert ich
nach wenigen Minuten ab, die mit Spas gefüllet werden
musten.
Girtanner nimt jährlich blos durch schriftliche Konsultazionen die
327,10
venerische Seuche betreffend 3000 rtl. ein — so
sehr verachtet unser
kahlköpfiges Jahrhundert alle
Unkeuschheit, daß es sogar den Schein
derselben, die
Krankheit flieht.
Wir haben auf gegenseitige Briefe gepasset — und ich verliere
wahrscheinlich dabei.327,15
Jezt erst kan ich sehen, daß mich die Bayreuther, wenigstens die
von’s, gelesen.
Voelderndorf fragte recht angelegen nach dir und Albrecht
und
eueren Arbeiten: theile mir doch eine geheime Instrukzion
mit, wie
ich dein Laboratorium andern abzeichnen sol.327,20
Ich begehre hier nicht mehr schöne Tage als nur 2, um mich ins
apokryphische krystallene Meer von Fantaisie einzutauchen und ein-
mal durch die bunten Korallenbänke der
Eremitage zu streichen — die
andern Tage brächte ich doch unter Deckengemälden und
Decken zu.
Der bezweifelte Friede ist ratifiziert: ein Brief eines französischen
327,25
Gesandten an den hiesigen General assekuriert
ihn.
Ich komme stets einige Stunden später als mein Koffer — also
alzeit nach der fahrenden Post und Landkutsche — mithin entweder
künftigen Montag oder Dienstag. Ich bitte dich, mir in
jedem Falle
einen Brief zu schicken: gesezt ich begegnete
dem Briefe schon unter327,30
Weges. Es mus sein.
Heute sol der Brief einmal fort, gesezt auch ich bekäme heute einen
von dir.
Ich fahre wie ein magister legens im folgenden Paragraphen fort.
328,1Löw hält, wenn mit ihm Emanuel spricht, sein Ohr nahe
ans
Hörrohr, weil er weis, daß Emanuel
nicht gut hören kan.
Gleim schrieb dringend an Lübek um die 2 Theile des — Titans,
bestimte den Ort des Gelderhebens u. s. w. Hat Lübek noch
ein Exemplar328,5
übrig, so bitt’ ich mir es aus, um das
Mspt darnach zu machen.
Ich habe noch an keine meiner 4 Evangelistinnen geschrieben: be-
kömt aber ihr Heiland heute ein Scriptum von einer, so sol es an
guten Antworten nicht fehlen. — Einen recht freundlichen Grus an
deine gute Friederike und an Albrecht. Schicke das meiner Mutter.
328,10
— Ich bin dasmal hier unerwartet froher als je.
Gott gebe, daß du
einmal dir und Emanuel die Freude machst, daß du in diese schöne
kleine blaugemalte Sakristei am grossen Tempel der
Bayreuth[er]
Natur eintritst. — So oft ich ein frisches Hemd aus dem
Koffer hebe,
fühl’ ich, daß ich ein Heimweh nach meiner
Mutter habe als wäre ich
328,15
niemals rasiert und niemals gereiset. Lebe wohl,
lebe wohl, mein
Geliebtester und ich möchte dich herzlich
gerne sehen.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Christian Otto. Bayreuth, 29. April 1797 bis 2. Mai 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_602
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 10 S. 8° (das erste Blatt defekt). K (nachtr. im Okt. nach Nr. 575): Bayreuth 29 Ap. J 1: Otto 2,52× (ein Stück S. 88 als besonderer Brief mit dem Datum: Aug. 1797). J 2: Wahrheit 5,212×. A: IV. Abt., II, Nr. 194. 325,35 physiognomische] nachtr. H 326,2 Sennen-] davor gestr. Alpe H 12 ein] nachtr. H 15 blos] nachtr. H 19 von mir] nachtr. H 21 Garvinus] aus Gavinus H 30 jezt] vor dem Tode K 35 macht] aus sieht H 327,3 schlanke] nachtr. H 6 obern] nachtr. H 7 den geringsten] nachtr. H 8 jezt] nachtr. H 11 verachtet] aus achtet H 12 Unkeuschheit] aus Keuschheit H 13 Krankheit] aus Krankheiten H 27 stets] nachtr. H 328,2 mit] davor gestr. er
325,30 der alte Mann: Herold; J 2 macht dazu die Fußnote: „Der alte Herold hatte sich früher schon ein Bild von Richter, wie er ging und stand, vom Töpfer formen lassen und benutzte dasselbe als Ofenaufsatz in seiner Familienstube.“ 34 gleichgültige: ironisch. 326, 12 Moser: vgl. Bd. I, zu Nr. 310. 21 Garvinus: vielleicht Hardenbergs Sekretär Gervinus (vgl. 328, 23); Christoph Girtanner aus St. Gallen (1760—1800), Arzt und Politiker in Göttingen; Christoph Friedrich Ammon aus Bayreuth (1766—1849), damals Professor der Theologie in Göttingen, später Oberhofprediger in Dresden. 27 Ellrodts Mutter war am 27. April 1797 gestorben; das Trauergedicht (in Prosa) erschien u. d. T. „Der Traum und die Wahrheit“ als Gelegenheitsdruck (Bibliogr. Nr. 43). 327, 1 Christian Theodor Oertel, der ehemalige Kollege Wernleins in Neustadt a. d. Aisch (s. Bd. I, zu Nr. 435), war im April 1796 als Professor der Philosophie und Mathematik nach Bayreuth versetzt worden und hatte sich am 1. Aug. 1796 mit Christiane Walz verheiratet; Wernlein hatte Anfang 1797 an Jean Paul geschrieben (Nr. 162): „Wenn du wieder nach Baireuth kömmst, so gehe ums Himmels willen zum Prof. Oertel hin, sonst bin ich in Neustadt meines Lebens nicht mehr sicher. Seine Frau hat’s den Oertelischen und ihren Schwestern geschrieben, daß du 14 Tage in B. gewesen und nicht zu ihm gekommen seist.“ 4 Frau von Schöpflin: wohl eine Verwandte der Frau Walz, die eine geb. Schöpfel war. 5–7 Vgl. I. Abt., X, 461,26f. (Vult) und Persönl. 384,25f. 18–20 Vgl. A: „Was ich dir wegen V. sagen soll, und was für ein Laboratorium du meinst, weiß ich nicht. Wenn es das juristische ist, so darfst du ihm nichts davon sagen ...“ 35 Fürstin: Lichnowsky, vgl. zu Nr. 105. 328, 2 Vielleicht der Konsistorialrat Wilh. Chr. Löw in Bayreuth (Adreßbuch 1796, S. 402). 74 Evangelistinnen: Amöne und Karoline Herold, Renate und Friederike Otto. 10 das: Nr. 603.