Edition
Korpus
Korrespondenz

Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Hof, 31. Juli 97.

Darstellung und Funktionen des "Kritischen und kommentierten Textes" sind für Medium- und Large-Screen-Endgeräte optimiert. Auf Small-Screen-Devices (z.B. Smartphones) empfehlen wir auf den "Lesetext" umzuschalten.



Hof. d. 31 Jul. 97.

Einziger und Erster! Als Raphael seinen Johannes erschaffen hatte, kont’ er mit so vielem Rechte wie Sie (p. VIII im Johannes) sagen: ich bin kein Maler. Aber wer sagt dan: ich bin einer? —

Gott gebe, daß die künftigen Jahrhunderte Sie mit dem umfassenden latitudinarischen Sinne lesen, womit Sie darstellen: dan sind — wenigstens auf dem Drukpapier — die Religionskriege vorüber. Aber da Sie wahrhaft poetisch und dramatisch in Ihre Denkweise jede fremde, sowohl der Völker als Individuen, auffassen und schonend einweben, da Sie aus jedem Irthum die Wahrheit ziehen: so findet jeder in Ihrem weiten System leichter seines als Ihres.Daher erhielten gerade Leibniz und Lessing, weil sie jeder menschlichen An sicht ihr Recht gaben, für ihre nicht das ihrige. Daher ist das nicht immer blos ad hominem geschrieben, was so scheint: sondern der Vorhang des Parrhasius ist oft selber ein Gemälde; wie Ihre philosophischen und ästhetischen Untersuchungen mir beweisen, in denen allemal mit der Tiefe zugleich die Weite zunimt. Ich meine, je länger Sie ein Objekt beschauen, desto mehr Stralen aus dem Universum finden Sie darein laufend und der Zirkel jeder Welle breitet sich zu einer Sphära armillaris aus. Niemand ist verständlicher als der Einseitige und dem Kurzsichtigen glaubt man am ersten, weil seine Gegenstände vor uns liegen.

Wie alle Ihre dichterischen Übersezungen nur Metempsychosen Ihres Geistes sind, so assimilieren Sie jede fremde Meinung, die Sie annehmen, zu Ihrer. — Ihr Johannes, der eine gelehrtere Kritik voraussezt als der Vorgänger, ist der mehr rein-menschliche vom nazionellen Manierierten gesäuberte Abris des Christenthums. Er stillet wie eine Ewigkeit sanft das Herz, nicht weil er Fragen über die Religion — die schon der Geist der Zeit entschieden hat — sondern weil er schwere Fragen über die Geschichte der Menschheit auflöset. Vor Ihnen wurde jeder redlichen Seele wie Rousseau’n der Glaube und der Unglaube ans Evangelium gleich schwer. Frappant wahr ist der lezte Period p. 58.; — erquickend wahr p. 276—300 — p. 210 in der Note ist Ihre Meinung über die Aufer— —wachung Christi eben so klar als heterodox, die sogar der Orthodoxe annehmen könte, wenn er fassete, daß auf der Erde entweder gar nichts oder alles Wunder ist und daß beides — einerlei ist — — p. 249 358 378 sind merkwürdig. Am meisten aber gefiel mir das, was Sie von p. 1 bis 416 sagen.

Warum übersezen Sie nicht wenigstens das N. T. Ihre christlichen Schriften sind eben so unentbehrlich als unersezlich; nur wünscht’ ich für die Menge, daß Ihr Vorhang des Allerheiligsten zuweilen einen weitern Ris erhielte, aber ohne Golgatha. — Die Briefe über Humanität sind dem inhumanen Jahrzehend Arzenei. —

In allen Ihren Gemälden von der deutschen Litteratur scheint mir zwar nicht der ironische Schlagschatten Swifts, aber doch das ironische Streiflicht Horazens vorzuwalten: Ihr griechischer Geist thut scheint es der Stadt Unrecht, wo er wohnt.

In Ihren zerstreueten Blättern verschlang ich die Gedichte und die Abhandlungen über die Unsterblichkeit: Fr. v. Berlepsch (die auf eine für mich merkwürdige Weise Klarheit und Kälte und Kraft und Phantasie vereint) nahm das Buch mir weg ins Bad. Ich liebe sie sehr ...... das kan eben so gut auf Ihre Abhandlungen als auf die Fr. v. Berlepsch gehen, und die 2. ersten Zeilen oben leiden beides.

Mein Urtheil oder vielmehr meine Freude über Ihre Beweise unserer Ewigkeit ist in meinem Kampanerthal schon voraus abgedrukt, worin ich zu meinem Entzücken mit Ihnen unwissend zusammentreffe. Fliegen Sie doch durch dieses Thal: es hat nicht die Musaik des Münsters, sondern das weite Grün eines Thales.

Haben Sie Nachsicht, Geliebtester, mit diesem Briefe, den ich kallygraphisch und ästhetisch besser hätte schreiben müssen, wenn nicht Zerstreuungen, Geschäfte, Zeitmangel, Reisen und — Ihre Liebe meine Fürsprecher wären.

Wie glänzend und wie sanft steht jezt Ihr Geist wie eine Abendsonne vor meinem und ich sage: bringe allen Augen deinen Morgen und dein Licht und bring’ es meinen auch!


Jean Paul Fr. Richter
Zitierhinweis

Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Hof, 31. Juli 97. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_672


Informationen zum Korpus | Erfassungsrichtlinien

XML/TEI-Dokument | XML-Schema

Textgrundlage
D: Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958. Briefnr.: 673. Seite(n): 356-357 (Brieftext) und 520 (Kommentar). Konkordanzen Druck-Digitale Edition

Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 8 S. 8°. K: Herder 31 Jul. J: Herders Nachlaß Nr. 15. B: IV. Abt., II, Nr. 208. 356,11 die] aus eine H 14 oft] nachtr. H, fehlt K 20 seine] aus die H 26 Manirierten K 29 schwere] nachtr. H 30f. Glaube und der] nachtr. H 32 der] aus die H 357,1 gar nichts oder] nachtr. H 12f. thut scheint es der Stadt] aus scheint die Stadt zu H 21 Camp. Thal K

Vgl. Nr. 657. Herders hatten geschickt: die 9. und 10. Sammlung der „Briefe zur Beförderung der Humanität“; die 6. Sammlung der „Zerstreuten Blätter“ (darin Abschnitt III: „Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen“); die 3. Sammlung der „Christlichen Schriften“ mit der Schrift „Von Gottes Sohn, der Welt Heiland; nach Johannes’ Evangelium“ (416 Seiten, Fortsetzung der Schrift „Vom Erlöser“, s. zu Nr. 379); sämtlich 1797 erschienen. 357, 19 Die 2 ersten Zeilen oben (auf der Seite) enthalten die Worte 16f. Klarheit bis vereint. 23 f. Musaik des Münsters: vgl. 358,23 †.