Von Jean Paul an Emilie von Berlepsch. Hof und Bayreuth, 10. September 1797 bis 12. September 1797.
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[Druck]
370,9Erst gestern bekam ich Ihren Brief; über Ihr Schweigen
tröstet[e]
mich nur meine Kentnis der Schnecken- und Austerpost von
Weimar. —
Ihr Bild hieng wie eine Sonne zwischen meinen andern Bildern,
und diese hiengen als Nebensonnen um sie. Ihre lezte
Stellung mit
dem Leichenlicht und mit zurüksinkendem Kopfe
bleibt vor dem innern370,15
Auge fest. —
Am Tage vor meiner Abreise wolt’ ich meinen Brief volenden, und
ein fremder Besuch drängte sich zwischen mich und Sie.
—
Ich wil sogleich die dürre Historie abfertigen. Der Wirth, der nicht
370,20
der Ihrige wurde, schlug jede Vergütung seiner
vergeblichen Er
wartung aus. — Mein
Abzug nach Leipzig ist gewis, obwohl das
Logis noch ungefunden ist. Ein schöneres Wetter hätte mich
nach
Weimar gelokt; ich sehne mich an das Herz meines
Herders zurük,
aus welchem gleichsam der Ichor eines höhern Geistes als
des Nerven370,25
geistes seit meiner
Jugend in meines überflos. — Und ich sehne mich
nach Ihrer
Seele. Aber in meiner kan noch nicht die Ruhe und
Resignazion der Ihrigen wohnen. — Plane des Lebens und des
Schreibens, junge Hofnungen und tausend Wünsche sind eben so viele
unruhige, zuckende und mich verwickelnde Polypenarme, die
zu viel370,30
umgreifen wollen. Ich werde mir alle diese
Arme bis auf zwei einmal
abschneiden — auf dem Lande neben
meiner Frau.
Sie vermengen Algemeinheit der Liebe mit Veränderlichkeit der
selben. Ich habe nie eine Seele der
andern geopfert. Die Liebe hat so
viele Stufen als es
menschliche Liebenswürdigkeiten giebt, und die370,35
Liebe für die höchste darf die für die untergeordneten nicht vernichten.371,1
Sonst war ich, wie Sie mich jezt verlangen; aber sol ich
jene Fülle des
Herzens, die die ganze Erde und alle Wesen
und Planeten aus ihm
heraus sperret, um den weiten Plaz
alles Liebenswürdigen mit Einem
Wesen auszufüllen,
wiederbegehren? — Ihre Foderung (oder Ihre371,5
Unähnlichkeit mit mir in diesem Punkte) ist keine Eigenheit Ihres
Wesens, sondern eine Aehnlichkeit
mit Ihrem Geschlechte. Das Gegen
theil
wäre eine Eigenheit; und eine Aehnlichkeit mehr, die Sie mit
unserm hätten. — Der Mensch ist ein aus so vielen Kräften zusammen
geimpftes Wesen (gleichsam mehr ein Baum-Garten als ein
Baum),371,10
daß er zum Gedeihen fast Sonne und Regen
und Frühling und Herbst
und Licht und Schatten zugleich
bedarf: er hält oft die Uebermacht
Einer Kraft für Harmonie
aller Kräfte, und den freien Anklang aller
Töne für
Disharmonie. Ich sehne mich (figürlich und unfigürlich) von
der Messiade zum Epigram, vom Kampaner Thal in die Holzschnitte
371,15
— von der Dichtkunst ins bürgerliche Leben — vom
Land in die
Stadt — von Ihnen zu Andern, — aber freilich
noch stärker zurük. —
Ich kan heut in der Eile — um einmal 2 Briefe fortzujagen — und
im Mangel der Zeit, und in der Nachbarschaft der
Zerstreuungen
nichts rechts entwickeln noch mein Inneres
so sammeln, wie es gern371,20
dem Ihrigen erscheinen
möchte. In Hof hätte ich ganz anders ge-
schrieben. — Wir werden in Leipzig (wenn Sie meine Eigenheiten
so tragen, wie ich Ihre achte) einen Himmel nach dem
andern er
steigen und neue Stunden
erleben mitten im ewigen Dakapo der Zeit. —
Eben meiner
alles nachspiegelnden Vielseitigkeit haben Sie ja auch371,25
eben mein Aufnehmen Ihres neuen und ungewöhnlichen, gleich
dem
Himmel einfärbigen Wesens zuzuschreiben.
Leben Sie froh, liebe Seele! Unser Herder trenne Sie von
jeder
harten Nachbarschaft! und jeder Genus der Freundschaft
werde zu
einer lichten Hofnung derselben. Und der ewige
Geist sage es zu jeder371,30
fremden Seele: thue der
wunden nicht wehe!
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Emilie von Berlepsch. Hof und Bayreuth, 10. September 1797 bis 12. September 1797. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_697
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
K: Berlepsch 19 [!] Sept. i 1: Wahrheit 5,263 (19. Sept.). i 2: Denkw. 2,104 (19. Sept.). *J: Berlepsch Nr. 3. (Wiederabgedr. Jean-Paul-Blätter, 2. Jg., 1927, S. 27.) B: IV. Abt., II, Nr. 228. A: IV. Abt., II, Nr. 233.
Emilie erhielt den Brief am 18. Sept. in Weimar. 370, 20–22 Sie hatte im Brandenburger Haus in Hof Zimmer bestellt, scheint aber stattdessen bei Herold gewohnt zu haben. 22 Vgl. B: „Ich bleibe fest für Leipzig entschlossen; mit dem Anfang, spätestens Mitte November bin ich da. Wenn meine Hoffnung Ihres Hinkommens getäuscht würde? Nein, nicht als flüchtigen Gedanken kann ich das ertragen.“ 33ff. Emilie hatte in schwärmerischer Sprache ausgedrückt, welches Glück ihr die Bekanntschaft und Liebe Jean Pauls gewähre, aber auch einige Zweifel geäußert, ob es von Bestand sein werde: „... eben das elastische leichte Schweben, das Ihrem Geiste die Erhabenheit, die Fülle gibt, muß auch auf Ihr Herz wirken und ihm die ausdauernde unverrückte Stellung an einem andern Herzen unmöglich machen. Sie fodern mit Recht ungebundene Freiheit; sie kommt als Genius Ihnen zu. Aber ungerecht sind Sie dann, wenn Sie als Mensch vom Menschen fodern, daß man ganz damit zufrieden sei, daß es nicht schmerze. Ich verspreche Ihnen, ich will nichts verlangen, aber nicht zu leiden, das versprech’ ich Ihnen nicht ...“ 371, 29 harte Nachbarschaft: Emilie hatte geschrieben, sie werde in Weimar ihre Schwester treffen, die ihren Mann und ihre Kinder verlassen habe, „und das ist eine der vielen Ursachen, warum ich diese Stadt scheue. Es stehen mir sehr viele und mannigfaltige Qualen da bevor.“