Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 21. Oktober 97.
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Mein guter Oertel! Die Nachricht deiner körperlichen Wunden
hab’ ich zum Glücke nach der Heilung der leztern erhalten.
Wie sehn’383,30
ich mich in deine Umarmung, seitdem nicht
blos eine solche Reihe
trennender Stunden sondern auch so
viele beraubende zwischen uns
oder hinter uns stehen! — Von
Hof und mir erzähl ich dir nur münd-
384,1
lich. Aber wegen der trüben Geschäfte, die
eine gänzliche ewige Ab
trennung anhäuft,
seh ich dich schwerlich in Leipzig — und ich bekenne
dirs, ein oder 2 Tage, die noch dazu meine Ankunft mit ihren
Ge
schäften und deine Abreise mit ihren,
verfinstert, sind für mich kein384,5
Ersaz für die frohe reine
Zeit unserer ersten Erblickung in Belgershain.
Meinem major domus Beigang kan ich nicht genug danken.
Eben
darum verbietet mir die Dankbarkeit die Ausmalung meiner
Bitten.
Denn ich möchte ihn gern fragen (oder bitten) — jezt
kanst du es —,
ob das höhere Zimmer, das mir lieber ist als ein
in die Erde ver384,10
sunknes, Stille
hat, Plaz, genug Möbeln, und eine Person, die man
zum
Aufwarten dingen kan. Unter Möbeln mein ich blos elende: ich
verlasse in Leipzig mein ärmliches Leben nicht; wenn ich nur Tische
genug zum Schreiben und Lesen für mich und meinen Bruder und
alte
Repositorien (so um mich gestelt wie hier) bekomme, so frag’
ich nach384,15
nichts. Nichts macht unsere Seelen hölzerner
als das meublierende
Holz, das uns mit ewigen Sorgen
einschränkt. Eben so werd’ ich mir
meine Zeit (wenns nicht die
Menschenliebe dekretiert) niemals nehmen
lassen, ausgenommen
die von 12—2, und die nach dem Abendessen.
Ach ich habe noch
so wenig zu leben und noch so viel zu schreiben! —384,20
Der metereologische [!] November wird
schön; und in welchem
heitern moralischen werd’ ich ihn bei
dir und deiner Sophie anfangen.
Die Sprache hat noch kein Wort für die eigne Liebe geprägt,
die man
für die Geliebte seines Freundes fühlt. Lebe wohl
unter deinen fallen
den Schmerzen, Guter!
Sie thaten mir weh, ob sie gleich vorüber384,25
waren.
Zitierhinweis
Von Jean Paul an Friedrich Benedikt von Oertel. Hof, 21. Oktober 97. In: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952-1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018). In: Jean Paul - Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018–). URL: http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=II_726
Kommentar (der gedruckten Ausgabe) Siglen
H: Berlin JP. 4 S. 8°. K: Oertel 21 Okt. J: Denkw. 1,363. 383,32 so] davor gestr. verwund H 384,8 verbeut K 11 eine Person] aus Leute H 14 genug] nachtr. H alte] nachtr. H 15 um mich] nachtr. H 22 heitern] davor gestr. schönen H 25 Sie bis 26 waren.] nachtr. H
384,23 f. Vgl. I. Abt., III, 76,4–6: „Die Empfindung für die Geliebte eines Freundes führt eine unnennbare Süßigkeit und moralische Zartheit mit sich.“